Scham, Ekel und Wut – Frauen über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz
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Scham, Ekel und Wut – Frauen über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz

"Mein Chef wollte mir 5000 Euro bar auf die Hand geben, wenn ich mit ihm schlafen würde."

"Meine Schwester betrieb eine Bar, in der ich ab und an aushalf", erzählt Gwen*. "Mein mittlerweile ehemaliger Kollege schlug dort sturzbetrunken auf. Er trug eine Sonnenbrille, obwohl es schon stockdunkel war. Zur Begrüßung griff er nach meinem Gesicht und drückte mir links und rechts einen fetten Schmatzer auf." Die junge Frau stieß ihren Kollegen bewusst weg. Sie hatte zuvor nie mehr als ein paar Worte mit ihm gewechselt und dennoch schien er ihre Freundlichkeit als Flirtversuch zu interpretieren.

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An der Bar ging es dann weiter: "Wenn er nicht gerade Seemannslieder sang, erzählte er mir, in welchen Positionen er mich gern nehmen würde. Von Doggystyle war er besonders angetan."

Sobald Gwen in seine Nähe kam, wurde der vermeintliche Kollege aufdringlich. Er sprach davon, sie zu küssen und seine Hände befanden sich immer öfter an ihrem Körper, obwohl sie dort eindeutig nicht hingehörten. Gwen musste sich auch immer wieder anhören, wie schön und sexy ihr Kollege sie fand. Worte, die man von Berufskollegen definitiv nicht hören will.

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Hier mal eine anzügliche Bemerkung über die üppige Oberweite der Kollegin, dort mal ein Klaps auf den Po des Praktikanten: Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz kennt viele Gesichter und Formen und ist leider keine Seltenheit. Eine repräsentative Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aus dem Jahr 2015 hat ergeben, dass jede_r zweite Befragte bereits Belästigung am Arbeitsplatz erlebt hat. Jede sechste Frau und jeder vierzehnte Mann stuft das Erlebte auch eindeutig als sexuelle Belästigung ein. Als Täter wurden von beiden Geschlechtern mehrheitlich Männer benannt.

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat in ihrem Leitfaden "Was tun bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz" klar definiert, was das Gesetz unter sexueller Belästigung versteht:

"Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) spricht von sexueller Belästigung, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornografischen Darstellungen gehören, bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, insbesondere wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird." (§ 3 Abs. 4 AGG)

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Sexuelle Belästigung ist also nicht nur, wenn man ungewollt an intimen Stellen berührt wird. Verbale Aufforderungen zu intimen oder sexuellen Handlungen werden ebenfalls bereits als Belästigungen geahndet.


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Lena* hat genau das erlebt. Ihr Vorgesetzter bot ihr Geld für Sex. "Mein Chef wollte mir 5000 Euro bar auf die Hand geben, wenn ich mit ihm schlafen würde", erzählt die 23-Jährige, die zu dieser Zeit in der Gastronomie tätig war. "Ich dachte zuerst, dass das ein schlechter Scherz sei, doch irgendwann kapierte ich, dass er es todernst meinte."

Die damals 20-Jährige lehnte sein Angebot ab – auch wenn einige ihrer Freundinnen kein Verständnis für diese Entscheidung hatten. "Sie sagten Dinge wie: 'Ist doch nur Sex! Für 5000 hätte ich das sofort gemacht!' oder 'So leicht verdienst du nie wieder 5000 Euro!'. Aber wer will schon mit seinem schmierigen Chef schlafen, ihm in sein Orgasmus-Face blicken und am anderen Tag so tun, als wäre nichts passiert?"

"Ich habe nichts unternommen, weil ich mich irgendwie geschämt habe und noch in der Probezeit war."

Gegenüber der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gaben 31 Prozent der Befragten an, von Vorgesetzten aus höheren Hierarchiestufen sexuell belästigt worden zu sein. Die Betroffenen befinden sich in einer schwierigen Situation: An wen wendet man sich, wenn der Chef der Täter ist?

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Lena versuchte nach diesem unmoralischen Angebot, ihrem Chef aus dem Weg zu gehen. "Auf der Arbeit benahm er sich stets professionell und ging brav auf Distanz. Als ich jedoch mal im Urlaub war, schickte er mir eine SMS und erzählte von seiner Bekannten, die angeblich dafür bezahlen würde, wenn sie mir und ihm beim Sex zuschauen dürfte." Die 20-Jährige befand sich in einer Sackgasse. An eine Kündigung war nicht zu denken, sie brauchte das Geld. Gleichzeitig war es auch genau diese Angewiesenheit auf den Job, der es ihr unmöglich zu machen schien, sich zumindest lautstark gegen das unangemessene Verhalten zu wehren.

Foto: imago | allOver-MEV

"Ich habe nichts unternommen, weil ich mich irgendwie geschämt habe und noch in der Probezeit war", erzählt Aleksandra. Als sie während der Weihnachtsfeier mit einem Kollegen zum Rauchen vor die Tür ging, packte der sie plötzlich am Hals, "drückte zu und meinte, ich würde das ja wollen." Nach diesem Abend fasste er der 25-Jährigen noch öfter an die Brüste oder zwischen die Beine. Als der Kollege auch nach mehreren Aufforderungen nicht aufhörte, fing er sich eine Ohrfeige. Für die junge Frau spielte nicht nur die Angst, ihren neuen Job zu verlieren, eine Rolle. "Ich hatte Angst, dass mein Chef denkt, ich wolle mich nur wichtig machen."

Den Gedankengang, Übergriffe im Nachhinein kleinzureden, kennt auch Paulina. Immer wieder kam es zu unerwünschtem Streicheln über den Arm oder ungefragtem Anlehnen durch einen Kollegen. Obwohl sie im mehrfach deutlich machte, dass sie kein Interesse hatte, hörte er nicht auf. Mehrmals dachte Paulina, sie würde vielleicht überreagieren und die eindeutigen Signale falsch deuten – schließlich war das Verhältnis zwischen den Angestellten im Büro größtenteils eher freundschaftlich als professionell.

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"Ich dachte, das wäre alles gar nicht so schlimm. Schließlich war es nicht richtig sexuell, wie bei anderen, die so was erlebt haben. Deswegen habe ich es sehr lange niemandem erzählt", sagt die 22-Jährige.


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Paulina erzählte schließlich einem Bekannten, was ihr widerfahren ist: "Er hatte so viel Verständnis für mich und bestätigte mich darin, dass das, was da passiert, falsch ist. Es gab mir Kraft zu hören, dass ich nicht überreagiere und meine Wut und Hass dem Kollegen gegenüber berechtigt ist." Nachdem sie auch den Rest ihres Freundeskreises und ihren Partner eingeweiht hat, zählen sie gemeinsam die Tage bis zu ihrer Versetzung in ein anderes Büro. "Nach meinem letzten Arbeitstag habe ich all meine Sachen gewaschen und alles abgewischt, was er jemals angefasst hatte. Diese Sachen haben mich richtig angeekelt."

Der Fall von Gwen zeigt, wie Firmen im Idealfall mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz umgehen sollten. Von ihren Kolleginnen bekam sie ausnahmslos Unterstützung. Nach einem Gespräch mit ihren Vorgesetzten über die Vorfälle, wird ihr übergrifflicher Kollege zum Personalgespräch geladen. Der schien jedoch vorgesorgt zu haben: Er verbreitete bereits im Vorfeld unter allen Kollegen eine verdrehte Version der Geschichte und nahm zusätzlich auch noch eine Begleitung mit ins Gespräch.

"Ich habe ihn daran erinnert, dass ich ihm die Finger brechen werde, wenn er mich noch mal anfasst."

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Trotzdem verließ er bald darauf den Betrieb. "Offiziell wegen eines neuen Jobs", sagt Gwen, inoffiziell habe er sich genug solcher Dinge geleistet und hatte die Chefetage geschlossen gegen sich.

Laut der Vereinten Dienstleistungsgesellschaft ver.di haben Beschäftigte, die sexuell belästigt wurden, nicht nur das Recht, sich bei den betrieblichen Stellen (§ 13 Abs. 1 AGG) und beim Betriebsrat (§ 85 BetrVG) zu beschweren. Die Beschwerde ist auch zu prüfen und dem die Beschwerde führenden Beschäftigten mitzuteilen. Der Arbeitgeber ist bei Verstößen gegen das AGG gegebenenfalls zur Zahlung einer Entschädigung und bei Eintreten eines Schadens (wenn ein Verschulden vorliegt) verpflichtet, Schadensersatz zu leisten.

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Dass diese Möglichkeiten bestehen, wissen viele Betroffene nicht. "Ich wusste gar nicht, ob ich rechtlich gegen das eindeutige Angebot meines Vorgesetzten vorgehen kann, schließlich hatte ich keine Beweise", erzählt Lena. In vielen Fällen kann es also durchaus Sinn machen, sich erst einmal bei unabhängigen Beratungsstellen über seine Rechte und Möglichkeiten zu informieren. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend beispielsweise bietet betroffenen Frauen kostenlose Beratung per Mail, Telefon oder Chatfunktion. Der umfangreiche Leitfaden der Antidiskriminierungsstelle des Bundes erhält ebenfalls Informationen zum richtigen Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz – für Betroffene, aber auch für Vorgesetzte.

Gwen ist froh, dass sie mit der Situation so offen umgegangen ist. Als sie ihrem ehemaligen Kollegen allerdings vor ein paar Wochen über den Weg lief, tat der im ersten Moment so, als wäre nichts zwischen ihnen vorgefallen. "Er sprach mich an und suchte wieder Kontakt", erzählt sie, trotz aller Abwehrversuche. Schließlich nahm er sie dann aber doch ernst, endlich. "Ich habe ihn direkt und sehr bestimmt daran erinnert, dass ich ihm die Finger brechen werde, wenn er mich noch mal anfasst."

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*Namen von der Redaktion geändert