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Studie

Vergewaltigungsopfer können sich nicht "einfach wehren"

Für die Schockstarre, in die viele Menschen während eines Übergriffs verfallen, gibt es sogar einen eigenen Begriff: tonische Immobilität.
Foto: Oscar Key | Unsplash | CC0 [bearbeitet]

Die meisten Menschen gehen davon aus, dass es sich um eine instinktive und "natürliche" körperliche Reaktion handeln würde, sich bei einer Vergewaltigung zu wehren. Wir erwarten, dass unser natürlicher Überlebensinstinkt einfach die Kontrolle über unseren Kopf und unseren Körper übernimmt, sobald wir angegriffen werden. Im Umkehrschluss würde das allerdings bedeuten, dass Frauen nur vergewaltigt werden können, wenn sie körperlich unterlegen sind.

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In Wahrheit ist es so, dass die Mehrheit der Vergewaltigungsopfer unwillkürlich in eine Schockstarre verfällt, in der jede Form des Widerstands unmöglich wird. Das konnten Wissenschaftler nun im Rahmen einer neuen Studie zeigen. Dieser Zustand wird als "tonische Immobilität" bezeichnet und könnte laut den Forschern einen entscheidenden Einfluss darauf haben, wie wir in Zukunft vor Gericht oder im Krankenhaus mit Vergewaltigungsopfern umgehen.

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"Die Gerichte neigen dazu, von dem Begriff der Vergewaltigung abzurücken, wenn es so aussieht, als hätte das Opfer keinen Widerstand geleistet", erklärt Dr. Anna Möller, die führende Autorin der Studie. "Dabei handelt es sich bei dem Zustand, den wir als passive Zustimmung werten, um eine ganz normale biologische Reaktion auf eine ernstzunehmende Bedrohung."

Tonische Immobilität ist laut der Studie ein "unterbewusster, vorübergehender Zustand motorischer Lähmung in Reaktion auf eine Situation, die starke Angst hervorruft". Bei Tieren wurde dieser Zustand schon ausführlich dokumentiert – daher auch der bekannte Vergleich mit "dem Reh im Lichtkegel". Wie das Ganze beim Menschen funktioniert, ist bisher allerdings noch nicht genau erforscht.

Die Studie merkt auch an, dass es einen Zusammenhang zwischen tonischer Immobilität und Posttraumatischen Belastungsstörungen sowie schweren Depressionen gibt, die infolge der Vergewaltigung auftreten können.

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Möller und ihre Kollegen vom schwedischen Karolinska Institut haben hierzu 298 Frauen untersucht und haben versucht zu beurteilen, wie stark sie zum Zeitpunkt der Vergewaltigung unter tonischer Immobilität gelitten haben. Von den befragten Frauen gaben 70 Prozent an, dass sie unter "erheblicher" tonischer Immobilität litten und ganze 48 Prozent von ihnen berichteten sogar von einer "extremen" Lähmung während des Übergriffs.

Von 189 Frauen, die an einer sechsmonatigen Untersuchung teilnahmen, hatten 38,1 Prozent eine Posttraumatische Belastungsstörung und 22,2 Prozent eine schwere Depression entwickelt.

An sich sind Untersuchungen zu tonischer Immobilität bei Vergewaltigungsopfern nichts Neues, die Forscher der aktuellen Studie konnten nun allerdings zeigen, dass dieser Zustand "weitaus verbreiteter ist als bisher angenommen", so Möller gegenüber Broadly. Die Ergebnisse, die in der medizinischen Zeitschrift Acta Obstetricia et Gynecologica Scandanavia veröffentlicht wurden, könnten auch dabei helfen, Medizin- und Jurastudenten für das Thema zu sensibilisieren.

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Wie die Studie betont, ist sexualisierte Gewalt eine der traumatischsten Erfahrungen, die ein Mensch erleben kann. Trotzdem suche man von rechtlicher Seite her noch immer nach Spuren von einem Kampf, weil es ohne derartige Anzeichen schwierig sei zu beweisen, dass ein Übergriff stattgefunden hätte.

Aus diesem Grund – und im Hinblick auf die psychische Gesundheit der Betroffenen – sollte tonische Immobilität "bei allen Opfern von sexueller Gewalt routinemäßig untersucht werden", sagt Möller.

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