Eine Frau zieht Koks, eine Frau spritzt Heroin, eine Frau dreht einen Joint, eine Frau nimmt Ecstasy
Fotos: imago images / blickwinkel; imago images / Panthermedia; imago images / Westend61; imago images / Rupert Oberhäuser
Drogen

Narcofeminismus: Die neue Bewegung, der ihr euch anschließen solltet

"Bei Männern wird Sucht noch einigermaßen akzeptiert. Aber bei Frauen gar nicht."

Als Olą Belyaeva in ihren Zwanzigern war, sagte ein Arzt ihren Eltern, er wolle ihren Kopf aufschneiden und einen Teil des Gehirns erfrieren lassen – das für die Befriedigung zuständige Areal. Denn der Arzt machte einen Defekt dieses Bereichs dafür verantwortlich, dass Belyaeva immer wieder etwas tat, das in ihrer Heimat Ukraine schwer verurteilt wird: Drogen nehmen.

Mittlerweile ist Olą Belyaeva 46 Jahre alt und ihr Gehirn unversehrt. Sie lebt auch nicht mehr in der Ukraine, sondern in Litauen. Belyaeva arbeitet in einer NGO, die sich für Harm Reduction einsetzt, also für Schadensminimierung beim Drogenkonsum. 2001 hat sie in der ukrainischen Stadt Dnipro ein Nadelaustauschprogramm initiiert, 2010 hat sie sich dafür eingesetzt, dass Substituierte in der Ukraine ihre Tabletten vom Arzt mitnehmen können. Ihre Geschichte erzählt sie VICE via Videoanruf.

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Das Handydisplay zeigt eine Frau mit blondiertem Kurzhaarschnitt, elegant nachgezeichneten Augenbrauen und schwarzem Eyeliner. Sie trägt einen grauen Hoodie und könnte ihrem Look nach auch die Sängerin einer Indie-Band sein. "Es gibt hier einen großen Unterschied zwischen Frauen und Männern, wenn es um Drogenkonsum geht", sagt sie. "Bei Männern wird Sucht noch einigermaßen akzeptiert. Aber bei Frauen gar nicht. Für sie gilt: Entweder du bist nüchtern oder du kommst ins Gefängnis oder in die Psychiatrie."

Olą Belyaeva will das nicht länger hinnehmen. Zusammen mit anderen Frauen wie der aus Russland geflohenen Menschenrechtsaktivistin Larisa Solovyeva, über die VICE bereits berichtet hat, hat sie eine Bewegung gegründet, die sich der Belange von Drogenkonsumentinnen annimmt: "the narcofeminist movement" – Narcofeminismus.


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Die Geschichte dieser Bewegung beginnt im September 2016. Bei einer internationalen Konferenz für Feminismus in Brasilien sprechen die Menschenrechtlerinnen über Probleme in Zusammenhang mit Drogenkonsum. Die Konferenz hat einen intersektionalen Schwerpunkt, was bedeutet, dass sie die Zusammenhänge von verschiedenen Diskriminierungsformen thematisiert. Die Theorie hinter dem Begriff "Intersektionalität": Ein Mensch kann aufgrund verschiedener Faktoren diskriminiert werden. Eine schwarze Frau erfährt zum Beispiel Rassismus und Sexismus gleichermaßen. Wie bei einer Straßenkreuzung – Englisch "intersection" – an der Autos aus verschiedenen Richtungen zusammenknallen. Da in den meisten Ländern Drogenkonsum mit einem Stigma belegt ist, rasen auch von dieser Straße aus Autos auf die Kreuzung zu.

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Das mag dröge und theoretisch klingen, hat aber reale Auswirkungen. Wo es um Diskriminierung geht, geht es auch um Macht. Und wo Menschen mehrfach diskriminiert werden, wird mehrfach Macht gegen sie missbraucht. Es entstehen dann im Extremfall Situationen, in denen Frauen zur Abtreibung gezwungen werden. Oder solche, wo Frauen für Drogen zu Sex genötigt werden. Oder solche, wo die Polizei entscheidet, ob Frauen ihre Kinder behalten können – und nicht etwa eine zuständige Behörde.

"Frauen haben in vielen Ländern keine Stimme"

Von all diesen Fällen erzählten Belyaeva und Solovyeva VICE. Die beiden Aktivistinnen stammen wie die meisten Gründerinnen der Bewegung aus osteuropäischen Ländern. Da ist die Situation für Drogenkonsumierende noch schwieriger als zum Beispiel in Deutschland.

"Frauen haben in vielen Ländern keine Stimme", sagt Larisa Solovyeva. Sie unterstützt Frauen seit vielen Jahren bei Gerichtsverfahren in Russland. "Das Stigma und die Repression sorgen dann zusätzlich dafür, dass Frauen schweigen." Deswegen sei das größte Anliegen der Narcofeministinnen, Frauen zum Reden zu bringen.

Eine Frau mit Cannabis

Symbolfoto: imago images | Westend61

Das klingt erst mal nach einem nicht allzu schwer erreichbaren Ziel. Aber auch in Deutschland fällt so etwas vielen Menschen nicht leicht. Immerhin ist Drogenkonsum und vor allem Sucht mit viel Scham belegt. Darüber zu reden, bedeutet für viele, ein persönliches Versagen und nicht zuletzt auch Straftaten zuzugeben. Denn auch hierzulande wird bestraft, wer Drogen besitzt. Und auch hier gibt es das Stigma. Trotzdem wird Drogensucht mehr und mehr als Krankheit verstanden. Opioid-Abhängige können dadurch zum Beispiel eine Substitutions-Behandlung bekommen. Und Richterinnen können entscheiden, ob sie drogensüchtige Angeklagte eine Therapie machen lassen, anstatt sie ins Gefängnis zu stecken. Das gibt es in den meisten osteuropäischen Ländern nicht. Kalter Entzug und Knast sind da die Norm.

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Man kann deswegen nur erahnen, wie hoch die Hürde in Ländern wie Russland, der Ukraine und Kasachstan ist, sich narcofeministisch zu engagieren. Belyaeva erzählt, dass sie einmal einen Space für Drogenkonsumentinnen geschaffen hat, aber die Frauen es selbst in diesem Rahmen nicht geschafft hätten zu reden. "Sie konnten es einfach nicht", sagt sie. Zu sehr seien sie darauf getrimmt gewesen, unsichtbar zu bleiben – um zu überleben.

Im Moment steht die Bewegung der Narcofeministinnen noch ganz am Anfang. Die Frauen arbeiten vor allem daran, Netzwerke zu knüpfen, sich über Drogenpolitik und Feminismus auszutauschen und zu informieren. Bald soll es darum gehen, eine gemeinsame Position zu formulieren, Aufklärungskampagnen zu starten – und reale Schutzräume zu erstellen. "Es braucht spezialisierte Ärzte, Fachkräfte und Anwälte, um Frauen zu unterstützen", sagt Solovyeva. "Man braucht Mitstreiterinnen, weil Frauen es nicht gewohnt sind, sich für ihre Rechte einzusetzen, vor allem nicht bei Dingen, die mit Drogenkonsum zu tun haben."

Olą Balyaeva hat aber auch die EU und die UN im Blick. "Wir wollen, dass die internationale Gemeinschaft sieht, wie in eurasischen Ländern mit drogenkonsumierenden Frauen umgegangen wird", sagt sie. "Der Druck muss wachsen, damit Maßnahmen zur Schadensminimierung eingeführt werden."

Im Mai des vergangenen Jahres haben sich die Frauen in Berlin getroffen. "Um einmal die Luft der Freiheit zu atmen", sagt Belyaeva. Aber eine Politik wie in Deutschland ist für sie nicht genug. Gefragt nach dem Ziel von Narcofeminismus sagt sie: "Free high."

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