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Michelin sternekoch

Früher wollte niemand bei mir essen gehen

Massimo Botturas Restaurant gilt als das drittbeste der Welt, und er—der Skinny Italian Chef—ist der italienische Sportwagen unter den Köchen.

Massimo Botturas Restaurant gilt als das drittbeste der Welt, und er—der Skinny Italian Chef—ist der italienische Sportwagen unter den Köchen. In seiner Osteria Francescana in Modena serviert er gerade mal sechs Tortellini und seine Zitronentarte sieht aus, als wäre sie auf den Boden gefallen. MUNCHIES spricht mit ihm über seinen Eigensinn und Humor und wie er Italien mit seiner Küche retten will.

MB by Paolo Terzi Fo#3FBA05

Meine Mama war schon immer sehr erfinderisch. Sie erfand ihren Kühlschrank jeden Tag neu, das musste sie auch. Immerhin kochte sie für ihre 20-köpfige Familie zwei Mal täglich. Sie war gastronomisch recht offen. Allerdings mit einer Ausnahme: den Tortellini. Sie sagt oft: ,,Massimo war immer schon ein guter Koch, aber ich muss Ihnen sagen: meine Tortellini sind besser!"

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Ich will nicht in der nostalgischen Vorstellung der Tortellini à la Mama steckenbleiben. Ich versuche, die Tortellini weiter zu entwickeln. Ich will mit kritischem, nicht nostalgischem Auge in die Vergangenheit blicken. Dann breche ich die Teile auseinander und setze sie wieder neu zusammen.

„I am breaking, because Italy is already broke."

Die 90er und 00er waren eine schwierige Zeit für mich. Niemand wollte in mein Restaurant in Modena essen gehen. Vielleicht war ich zu provokativ, weil ich so frech war, ,,nur" sechs Tortellini zu servieren. Keine Ahnung. Die Leute haben mich nicht verstanden. Erst nach Jahren änderte sich das. Wenn der Papst oder Premierminister von dir sprechen, weißt du, dass sich die Dinge geändert haben.

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Mein Lieblingsgericht ist jenes, welches ich erst morgen erschaffe. Es ist immer in der Zukunft und ich bin nie zufrieden. Ich bekomme jetzt den dritten Michelin-Stern und überlege schon, wie ich das Restaurant neu zusammenbauen kann. Ob man drei Sterne haben will? Natürlich, das ist mein Traum und der Traum anderer Köche.

Glaub keinem Koch, der behauptet, Sterne seien ihm egal!

Der Michelin-Guide ist auch nicht mehr der, der er einmal war: Dass alles schön serviert werden muss—mit Silberbesteck und viel Schnickschnack—ist einfach nicht mehr zeitgemäß.

Mein wichtigstes Gericht ist Bolito misto non bolito (Gekocht-nicht zerkocht). Es geht in diesem Gericht darum, eine tausendjährige Tradition zu verändern. Eines Tages sagte ich: ,,Ich will dieses Fleisch nicht mehr zerkochen. Warum soll ich es (über)kochen?"

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Es geht um Gefühle und der Michelin ist dafür offen. Auch in meiner gefallenen Zitronentarte scheinen sie irgendetwas zu sehen. Genau wie bei dem Ricordo di un panino alla Mortadella (Erinnerung an ein Mortadella-Brötchen), an deren Perfektion ich vier Jahre lang gearbeitet habe, damit die Geschmäcker so klar erkennbar sind. Es ist eine Hommage an das Sandwich, das mir meine Mama früher in die Schultasche packte. Es hat etwas sehr Romantisches, staubige Erinnerungen und Emotionen zu servieren. Ich versuche, alles ohne Nostalgie zu sehen und nur das Beste aus der Vergangenheit in die Zukunft zu holen: so wie ich zum Beispiel das Fleisch koche, nicht zerkoche; aus Respekt vor dem Fleisch, den Bauern oder den Fischern. Dieser Respekt wird im Gericht reflektiert. Darum geht es.

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Ich bin kein Künstler, ich bin Handwerker. Ein Künstler kann sich ausdrücken, wann immer er will. Und ein Koch, also ein Handwerker, muss gutes Essen kreieren. Enzo Ferrari muss schnelle Autos machen und Pavarotti muss gut singen, das sind Handwerker.

Improvisation in der Küche ist nicht gut. Bei der Oops! Crostatina in caduta (heruntergefallene Zitronentarte) mache ich das Unsichtbare sichtbar. Die Zitronen-Zabaglione ist einfach perfekt. Die Elemente des Gerichts repräsentieren den Süden Italiens: die besten Kapern aus Pantelleria, die Zitronen aus Sorrento, die Bergamotte aus Kalabrien, die Mandeln aus Noto.

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Mit diesem Gericht will ich die Poesie des Alltags ausdrücken: Denn vermeintliche Fehler übertragen Menschlichkeit besser als ein perfekter Tag. Man fühlt mehr.

Nimm zum Beispiel Ferrari oder Mercedes: Ferrari ist emotionaler, aber ein Mercedes ist bequemer. Er fährt besser und ist sicherer. Aber das interessiert mich nicht. Ich suche Herausforderungen. Ferrari improvisiert nicht. Ein Ferrari ist unglaublich durchdacht und wird ständig weiterentwickelt, um perfekt zu sein, obwohl er nicht perfekt ist. Die wichtige Geheimzutat ist: etwas Raum für Poesie zu lassen.

Als Koch hat man die Verantwortung zu helfen. Ich treffe mich mit Leuten wie Carlo Petrini und dem Premierminister oder dem Landwirtschaftsminister. Wir kämpfen gegen Genmanipulation und für biologische und kulturelle Vielfalt. Wenn wir ein gutes Vorbild für die jüngere Generation abgeben, können wir etwas bewirken und beeinflussen.

Wir Italiener entwickeln uns endlich wieder weiter und bauen den Stolz unseres Landes wieder auf. Es geht nicht um die wirtschaftliche Krise Italiens, sondern um unsere Identitätskrise. Nach 20 Jahren Berlusconi ist es höchste Zeit für einen Wechsel. Unser junge Premierminister versucht, Italien wieder aufzubauen. Ich will bei diesem Aufbau dabei sein. Durch meine Küche. Das ist eine große Verantwortung.

Aufgezeichnet von Vanessa Gürtler

Fotos von Carlo Benvenuto für Massimo Botturas Bestseller Never Trust a Skinny Italian Chef, erschienen im PHAIDON Verlag. Portrait von Paolo Terzi.

Ab 26. April 2015 exklusiv auf Netflix: CHEF'S TABLE, eine Netflix Originals Doku-Serie vom gefeierten Filmemacher David Gelb („Jiro Dream of Sushi"). CHEF'S TABLE begleitet sechs der weltweit renommiertesten Starköche und bietet Zuschauern einen Insiderblick in den Alltag und die Küchen kulinarischer Ikonen.

Jede Folge konzentriert sich dabei auf eines dieser kulinarischen Ausnahmetalente: Ben Shewry (Attica Restaurant in Melbourne, Australien), Magnus Nilsson (Fäviken in Järpen, Schweden), Francis Mallmann (El Restaurante Patagonia Sur in Buenos Aires, Argentinien), Niki Nakayama (N/Naka Restaurant in Los Angeles, USA), Dan Barber (Blue Hill Restaurant am Stone Barns Center und in New York City, USA) und Massimo Bottura (Osteria Francescana in Modena, Italien).