Deswegen werden Gitarren verzerrt – Eine kurze Geschichte

FYI.

This story is over 5 years old.

Features

Deswegen werden Gitarren verzerrt – Eine kurze Geschichte

Wie einer der glücklichsten Unfälle der Musikgeschichte unzählige Karrieren in Gang setzte und ganze Genres hervorbrachte.

Foto: Imago

Die Entdeckung der Gitarrenverzerrung ist der vielleicht glücklichste Unfall der modernen Musikgeschichte. Das Zufallsprodukt fehlfunktionierender Verstärker hat mit seinem unverwechselbaren, dreckigen Ton unzählige Karrieren und ganze Genres hervorgebracht. Von markerschütterndem Doom, über aufsässigen Punk, bis hin zu alles verschlingendem Noise – verzerrte Gitarren und Verstärker sind die Luft in den Lungen einiger der einflussreichsten Songs aller Zeiten.

Anzeige

Aber fangen wir ganz am Anfang an: Der erste Gitarrenverstärker ging 1931 in Massenproduktion. Der harmlos anmutende 10-Watt-Amp von Electro String wurde zusammen mit der sogenannten Frying Pan verkauft, der ersten massenproduzierten elektrischen Gitarre der Welt, und war nicht mehr als eine kleine Holzbox mit einem Lautsprecher. Die nächsten 16 Jahre sollten Gitarrenverstärker die kümmerliche 10-Watt-Grenze nicht übersteigen. Die Zeit war also mehr als reif für jemanden, der auf den Kopf stellte, was die Menschen dachten über Gitarrenverstärker zu wissen. Dieser jemand war Leo Fender mit seinem Super Amp.

Fenders 1947 auf den Markt gebrachter Verstärker schaffte 18 Watt und sorgte damit für einen merklichen Anstieg der Lautstärke. Gitarristen überall in den USA taten alles, um einen Super in die Hände zu kriegen. Schnell zeigte sich, dass das Gerät noch eine ungewollte Überraschung bereit hielt. Wenn man die Lautstärke bis zum Anschlag aufdrehte, übersteuerte der Verstärker und hüllte die Gitarrenklänge in den knarzigen Verzerrersound. Wie so oft bei technischen Fortschritten entstand also auch die verzerrte Gitarre zufällig.

Etwa zwei Monate früher entwarf der Meister des Western Swing, Junior Barnard, einen rudimentären Humbucker-Abnehmer für seine Gitarre. Dazu kombinierte er zwei Tonabnehmer, um das unangenehme Brummen eines Single-Coil-Abnehmers zu stoppen (hum = Brummen, bucker = Unterdrücker) und einen volleren Klang zu produzieren. Barnards Spielstil war dermaßen wild, dass ihm ständig die Saiten rissen. Der höhere Output seines Proto-Humbuckers kombiniert mit seinem brutalen Stil brachte seinen Verstärker ebenfalls zum Übersteuern. Unzählige Country-, Western Swing- und Blues-Künstler waren auf der Suche nach einem dreckigeren Sound, der die Rauheit ihrer Musik widerspiegelte. Barnards erdiger Klang wurde zum Maßstab.

Anzeige

Als 1947 die Nachricht die Runde machte, dass ein Klang wie der von Bernard durch das Aufreißen des Fender Super erreicht werden kann, kaufte jeder Gitarrist, der etwas auf sich hielt, einen – oder begann dafür zu sparen. Die Verzerrung überkam das Land wie eine Plage mit rotziger Attitüde. Schon bald verbesserte Fender das Design des Supers und erhöhte die Leistung auf 50 Watt. Konkurrierende Verstärkerhersteller zogen schnell nach. Der 50-Watt-Verstärker war eine Granate und veränderte die Musik auf ähnliche Weise wie das Gewehr die Kriegsführung. Doch Technologie ist nur so gut wie ihr Anwender und der 50-Watt-Verstärker verlangte nach bahnbrechenden Musikern, um ihn bekannt zu machen.

Hier trat Goree Carter auf den Plan, durch dessen Venen Musik floss. Carter wuchs im gewalttätigen und ärmlichen Fifth Ward von Houston auf – auch bekannt als das "Bloody Fifth" – und begann mit zwölf Jahren Blues zu spielen. Er wollte, dass seine Musik die Intensität dessen einfängt, wie es ist, mitten in einer Stadt, einem Staat und Land voller Rassismus aufzuwachsen. Mit einem 50-Watt-Verstärker konnte er seine Frustration, seinen Schmerz und seine Freude ausdrücken und diese Gefühle in roher Form abbilden. Was er noch mehr liebte als die Lautstärke des Amps: Wenn er die Lautstärke anhob, verlieh dies seinen Gitarrennoten eine warme Verzerrung.

Carter, der tagsüber in einer Reismühle schuftete, gründete The Hepcats und wurde schnell zu einer Größe in der umkämpften Musikszene Houstons. Der Blues von The Hepcats, der stark von T-Bone Walker beeinflusst war, war schnell und aggressiv, ähnlich wie die Automobilkultur, die Amerika verschlang. 1949 nahmen Carter und seine Band "Rock Awhile" auf, die erste bekannte Aufnahme mit einer verzerrten Gitarre. Der Song fegte wie ein Orkan über ein ahnungsloses Amerika. Mit dem ersten Gitarrenlick von "Rock Awhile" brachte Carter die Welt zum Bersten. Mit mörderischer Präzision schlug er seine in Verzerrung getränkten Noten an. Die gesamte Instrumentierung des Tracks ist krass, aber Carters Gitarre durchschneidet das Ganze wie ein Lichtstrahl einen stockdunklen Raum. Scheiß auf Elvis. Goree Carter sollte als wahrer King of Rock'n'Roll gepriesen werden.

Anzeige

Carters Verzerrung war bahnbrechend, doch der Zerr-Ton, den wir heute als Distortion oder Overdrive bezeichnen, kam nicht vor 1951 auf. In jenem Jahr ließen Jackie Brenston and His Delta Cats – ein Pseudonym für Ike Turners Kings of Rhythm – den Song "Rocket 88" auf die Welt los. Die Kings hatten eine echte Waffe in ihren Reihen: Gitarrist Willie Kizart. Auch wenn Ike Turners Ruf den der anderen in den Schatten stellte, Kizart ist der Name, der viel bekannter sein sollte.

Keiner weiß genau, was vor der Aufnahme von "Rocket 88" mit Kizarts Amp passierte. Vielleicht fiel er auf dem Weg zum Studio vom Auto der Band und knallte auf den Bürgersteig. Ike Turner erzählte, dass Regen in den Kofferraum drang und die Verkabelung des Amps durcheinander brachte. Kizart war nicht klar, dass etwas mit seinem Amp passiert war, bis er ihn im Studio anschmiss. Er verliebte sich direkt in dessen dreckigen Sound. "Rocket 88" war lediglich ein etwas schneller gespielter Standard-Boogie. Kizarts Gitarrensound hingegen war eine Revolution.

Bevor du dir "Rocket 88" anhörst, versuch dir vorzustellen, dass du vorher noch nie eine Fuzz-Verzerrung gehört hast. Stell dir vor, du trinkst 1951 in einer Bar – irgendwo im Süden, sagen wir Nashville, Kansas City oder Houston. Die gesangslastige Musik von Nat King Cole und Tony Bennett dominiert das Radio. In Hits wie "Too Young" und "Because of You" steht die Instrumentierung an zweiter Stelle und dient der Unterstützung des Gesangs. Ohne, dass es dir wirklich klar ist, bist du mittlerweile gelangweilt von dem Zeug. Du willst etwas Neues. Auf einmal fühlst du dich, als hätte dir jemand Samtbänder in die Ohren gestopft. Du gehst zur Jukebox rüber und denkst, dass die Lautsprecher kaputt sein müssen. Kizarts Noten verschlingen dein Gehirn.

Anzeige

Zehn Jahre später verwendete Grady Martin einen schäbigen Vorverstärker eines Aufnahmegeräts, um für Marty Robbins' Song "Don't Worry" eine noch dreckigere Form der Verzerrung zu erschaffen. In einem ansonsten harmlosen Country-Song bringt Martins Distortion ab Minute 1:26 die Erde zum Beben und lieferte die Vorlage für die zähen Zaubererfurztöne, die viele Doom- und Sludge-Bands heute verwenden.

Elektronik-Magier Orville Rhodes versuchte Martins dreckigen Sound zu reproduzieren und baute für seine Freunde von The Ventures ein einfaches Fuzz-Pedal. Die Gibson Guitar Company machte diese Idee zu Geld und brachte im Jahr 1962 das Fuzz-Tone-Pedal auf den Markt – es sollte eines der charakteristischen Merkmale des Rolling-Stones-Songs "(I Can't Get No) Satisfaction" werden. 1964, ein Jahr bevor Keith Richards Gitarrenton Leute im ganzen Land in Ekstase versetzte, schlitzte Dave Davies von The Kinks die Lautsprechermembranen seiner Gitarrenbox mit einer Rasierklinge auf, um einen kratzigeren Sound zu bekommen. Das Ergebnis ist die atemberaubende Verzerrung von "You Really Got Me". Zur Zeit seiner Veröffentlichung war der Song wohl so etwas wie die Erfindung von Heavy Metal durch Black Sabbath sechs Jahre später.

Die 60er und 70er waren von einem Wettrüsten von Amp- und Distortion-Pedal-Herstellern geprägt, wodurch sich für Musiker ganz neue Möglichkeiten eröffneten. Als vielseitiges Genie machte Jimi Hendrix Fuzz und Reverb zu integralen Bestandteilen seiner chaotischen Liveshows und nutzte diese Technologien als eigene Instrumente. Deep Purple machten aus dem Sound dann 1972 eine echte Waffe und brachten im Londoner Rainbow Theatre drei Leute mit 117 Dezibel wildem Classic-Rock zum Umkippen. Drei Jahre später führte Guinness die Kategorie "Lauteste Band der Welt" ein und krönte Deep Purple als die ursprünglichen Könige des Krachs.

Anzeige

Motörhead sprangen auf diese Idee, das Publikum mit Klang zu attackieren, auf. (Lemmy schien sich selbst immer als Brigadegeneral des Heavy Metal zu inszenieren, also war dies naheliegend.) Als eine der ersten Bands, die stark verzerrte Basstöne nutzte, erreichten Motörhead mit ihrem Arsenal aus Amps und Boxen 1984 bei einem Konzert in Cleveland 130 Dezibel. Ein Fliegeralarm, der knapp über der Schwelle liegt, ab der Klang Schmerzen verursacht, hat eine Lautstärke von knapp über 120 db.

Motörheads ohrenbetäubende Lautstärke ließ den Putz vom Dach des Variety Theatres in Cleveland bröckeln. Stell dir also vor, was sie mit den Trommelfellen der Fans anstellte. Diese absurde Darbietung von Verstärkung führte allerdings nur dazu, dass die Leute die Band noch mehr liebten. Die Fans gingen zu Konzerten von Motörhead in der Erwartung vom Sound niedergewalzt zu werden.

Während den Konzerten von My Bloody Valentine in den späten 80ern und frühen 90ern weiteten Bilinda Butcher, Kevin Shields und Debbie Googe das Feedback am Ende von "You Made Me Realise" regelmäßig zu 15 Minuten qualvollen Krachs aus. Tom Ewing schrieb darüber: "[Auf Konzerten von My Bloody Valentine] hofften und erwarteten fast alle mit Schmerzen nach Hause zu gehen." My Bloody Valentine verletzen ihr Publikum ebenso wie sie es erfreuen und nutzen Verstärkung, um die gewalttätige Dualität einzufangen, die Liebe ausmacht.

Anzeige

Die Electronica-Größen Leftfield erreichten 1996 in der Brixton Academy 137 db und stellten damit einen neuen Weltrekord für Lautstärke auf – als einzige House-/Dance-Gruppe, die jemals diesen Titel hielt. Das englische Duo hüllte sein Publikum in schonungslos pulsierende Rhythmen und eine Atmosphäre aus überlagerten und hochgepitchten Klängen. Wie bei Motörheads berüchtigtem Konzert in Cleveland führte die Intensität von Leftfields Sound in Brixton dazu, dass Staub und Putz von der Decke regneten. Bei Leftfield brauchtest du kein Ecstasy – die Lautstärke bewirkte ein viel einnehmenderes Hochgefühl.

Seither haben Musiker Verzerrung und Verstärkung bis an die äußersten Grenzen gebracht – sowohl mit Instrumentierung als auch Intensität. Für Konsumenten und Lieferanten extremer Lautstärke ist es nicht mehr genug, nur Musik zu hören. Wir wollen spüren, wie sie unsere Knochen zum Klappern bringt. Der Electro-Komponist Tim Hecker, der auf dem Erbe brutaler Noise-Widersacher wie Whitehouse, SPK und Merzbow aufbaut, beschreibt seinen Schreibprozess in einem Interview mit Resident Advisor als "sehr brutale, blutige, knochenbrecherische Erfahrungen". Mit einem unbarmherzigen Ensemble an Amps und Boxen stellt er sicher, dass seine Performances für die Zuhörer genauso quälend sind.

Indem sie markerschütternde Verstärkung in die Welt des HipHops überführen, ertränken Dälek das Publikum mit tosenden Beats, sozialkritischen Reimen und erdrückenden Wellen synthetischer Klänge. Das Trio aus New Jersey hat mit solchen Schwergewichten wie Godflesh und Isis zusammengespielt; vor Kurzem haben sie ein Album auf dem Metal-Label Profound Lore veröffentlicht und dadurch Metalfans verdeutlicht, dass HipHop klanglich genauso zerstörerisch sein kann wie jedes andere Genre.

Anzeige

Die Drone-Legenden Sunn 0))) haben Verstärkung und Verzerrung bis ans logische Ende geführt und das Publikum (sowie sich selbst) in den letzten 19 Jahren mit schweren Teppichen aus Verzerrung malträtiert. Mit erbarmungslosem Sub-Bass-Dröhnen versetzen Gitarrist Stephen O'Malley und Bassist Greg Anderson die Gehirne ihrer Zuhörer in Trance. Jede Platte der Band ist brillant, doch Sunn O))) nur zu Hause zu hören ist weit entfernt vom Live-Erlebnis. 2010 sah ich nach einem Sunn O)))-Konzert, wie ein Fan im Schwall auf den Bürgersteig vor dem Blue Bird Theatre in Denver kotzte. Der stetige Druck der Verstärker der Band hatte bei ihr Übelkeit ausgelöst.

Gazelle Amber Valentine, Gitarristin und Sängerin von Jucifer, formt mittlerweile seit 24 Jahren mit 30 Lautsprechern etwas, das sie als "Thee White Wall Ov Death" bezeichnet. Sie und ihr Ehemann, Schlagzeuger Edgar Livengood, peitschen sich während den Sets von Jucifer gegenseitig hoch, wobei die Physis ihrer kinetischen Energie die Mischung aus Vergnügen und Schmerz widerspiegelt, die Musiker und Fans dazu antreibt, sich diesen wahnwitzigen Lautstärken auszusetzen. Betreiber von Konzerthallen beschweren sich regelmäßig über die Lautstärke von Jucifer (sie erreichen nicht selten über 140 db), Fans tun dies natürlich nicht. Zu diesen Beschwerden sagte Valentine in einem Interview mit WV Rockszene: "Wir sind Jucifer. Wir können physisch gesehen nicht leise sein … Wir wollen es einfach fühlen und hören, diese Soundmasse. Und ich will es formen, das Feedback reiten."

In den ersten Jahren des misanthropischen Sludge-Duos The Body schrie Gitarrist und Sänger Chip King seinen Gesang oft ohne Mikrofon heraus, obwohl er eine Wand aus Boxen verwendet, die eine ähnliche Lautstärke erzielt wie die von Jucifer. Unter einer Decke aus Verzerrung erschufen seine Stimmbänder-zerstörenden Schreie den Eindruck, dass seine eigene Verstärkung ihn erstickt. Unsere Existenz wird auf immer tiefgreifendere Weise von Technologien bestimmt, die viele von uns nicht verstehen. Künstler wie The Body werden Verstärkung und Verzerrung weiter als Mittel erforschen, um diese Beziehung zu verdeutlichen.

Extreme Verstärkung fängt menschliche Machtlosigkeit im Angesicht von Technologie ein, aber sie bietet auch einen Weg, um zurückzuschlagen. Zum Leidwesen unserer Trommelfelle werden Amp-, Lautsprecher- und Verzerr-Technologien noch weiter voranschreiten, da Musiker nach noch größerer Lautstärke suchen. Im Zeitalter von so viel politischer und sozialer Unsicherheit ist eine Sache gewiss: Die Zukunft der Musik wird ohrenbetäubend laut.

Folge Noisey auf Facebook, Twitter und Instagram.