Warum das Schalker Ticketcampen einfach nicht mehr geil ist
Alle Fotos: Roman Pilgrim

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Warum das Schalker Ticketcampen einfach nicht mehr geil ist

Das hitzige Ticket-Übernachten vor der Schalker Geschäftsstelle verschwand mit den Onlinebestellungen. Unser Autor traf den verstrahlten Rest aus maulenden Traditionalisten, Shisha-Rauchern und dreisten Liegestuhl-Schummlern.

Ich stamme aus einer Zeit, an die sich der durchschnittliche Leroy-Sané-Fanboy nicht mehr erinnern kann. Eine Zeit vor Eventim, als man für Tickets zu jedem popeligen Hardcore-Punk-Konzert im Jugendzentrum Wanne-Eickel anstehen musste. Eine Zeit, als junge Männer noch zum Wehrdienst einberufen wurden und man als Kind oft ein aufrichtiges Gefühl von Langeweile verspürte, wenn beispielsweise an Karfreitag wieder nichts im Fernsehen lief. Längst vergangene Zeiten.

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Obwohl…nicht ganz. Auf Schalke, wo so gut wie jede Tradition immer irgendwie weiterlebt, durfte ich diesen Teil meiner Adoleszenz noch einmal erleben. Indem ich mich eine Nacht lang auf einen durchgefurzten Gartenstuhl an einem Wegesrand vor dem Vereinsgelände positionierte und auf den Start des Kartenverkaufs für die neue Saison wartete. In den letzten Jahren war dieses Ritual eigentlich ein recht spaßiges Ereignis. Fans aus ganz Deutschland campten in einer gefühlt fünf Kilometer langen Schlange, halblegale Bier- und Würstchenverkäufer machten ordentlich Reibach. Es herrschte eine Atmosphäre wie zu den besten Zeiten von Rock am Ring.

Doch wie viele andere Vereine, die den Vorverkauf schon länger nur noch per Internet oder Hotline abwickeln, ändert auch Schalke 04 den Modus sukzessiv. Es gibt nicht nur einen Unterschied zwischen Vereins- und Nichtmitgliedern, mittlerweile haben auch jene ein Vorkaufsrecht, die sich auf der Jahreshauptversammlung dafür registrieren. In diesem Jahr kommt hinzu, dass nicht mehr alle Heimspiele auf einmal angeboten werden, sondern in vier Verkaufsphasen. Jeder darf nur vier Karten insgesamt kaufen, für die Topspiele gegen Bayern und Dortmund jeweils nur zwei.

So kommt es, dass mein Kumpel und ich in dieser Nacht auf den Vorverkauf für Mitglieder ohne diese Registrierung nur knapp über ein Dutzend Camper antreffen, die mehr oder weniger dröge vor sich hinvegetieren. Gerade einmal zwei Zelte sind zu sehen, alle anderen sitzen einfach herum oder versuchen im Auto etwas Schlaf zu finden. Ein Fan aus Köln, der allerdings mehr nach Dresden klingt, hat in seinem Caddy zwei Pudel, eine Frau und die komplette Bettwäsche im Schlepptau. Das war es aber auch schon an Skurrilität. Ansonsten sieht das ganze Schauspiel eher nach Biwak-Feuerwache beim Bund in nordhessisch Sibirien aus als nach Festival.

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„Dat darfse keinem erzählen, dat man sich dat hier noch antut", murmelt ein einsamer Mann mittleren Alters vor uns. Alle nicken zustimmend. „Warum tun wir uns das denn an?", frage ich. „Weil Internet abkackt, sobald dat losgeht", antwortet er, der aus Wattenscheid kommt, wie wir kurz darauf erfahren. Auch wenn es selbst in Wattenscheid mittlerweile höhere Technik als 56K-Modems gibt, ist an dieser These etwas dran. Wer vor Ort ist, hat eventuell bessere Chancen als die Online-Käufer, die mit dem überlasteten Server kämpfen. Zumindest, wenn man in den ersten Reihen steht und es auf die begehrten Stehplätze in der Nordkurve abgesehen hat. Speziell für das erste Heimspiel gegen die Bayern. Vielleicht sind die Onliner aber auch schneller.

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Dennoch quält hier alle die Frage, ob es bei der kleinen Schlange nicht ausgereicht hätte, frühmorgens zu kommen. Die endgültige Antwort bekommen wir bei Öffnung der Kassen um neun Uhr. Bis dahin sind es jetzt noch sieben Stunden Kampf gegen Langeweile, Kälte, Müdigkeit, Rückenschmerzen und Mücken. Mir wird bewusst, dass ich alle diese Duelle verlieren werde. Ich habe mich zu luftig angezogen, in der Nacht zuvor nur vier Stunden geschlafen und vergessen, meinen Smartphone-Akku zu laden. Auch mein Kumpel, der mehr mit Tinder beschäftigt ist und mir weismachen will, dass Frauen, die nur Porträts von ihren Hinterköpfen zeigen, sehr interessant seien, ist kein spannender Gesprächspartner.

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Also flüchte ich mich in die Feldforschung. Was sind das für Typen, die unter diesen Umständen noch zum Campen kommen? Es sind vor allem Leute, die dem Online-Kauf überhaupt nicht vertrauen, außerdem Traditionalisten und Spaßvögel, die ein Gemeinschaftserlebnis suchen. Ein Mann ist mit seinem Sohn aus Baden-Württemberg angereist, die beiden zelten seit zwei Tagen auf Position zwei in der Schlange. Direkt vor uns kloppen drei Münsterländer Skat im fahlen Laternenlicht, davor sitzt eine Gruppe Ruhrpott-Jungs mit Shisha, einem Kasten Veltins und einer kleinen Anlage, aus der leise deutscher Gangsta-Rap erklingt. „Du bist gefickt, Junge!", schnauzt Bushido. Ich zähle meine Mückenstiche und gebe ihm Recht.

„Früher war mehr los, ne?!", frage ich um kurz vor drei im Oppa-Hoppenstedt-Ton einfach in die Runde. „Die wollen uns hier doch wech haben", antwortet der Wattenscheider Internetkritiker. Mit „die" meint er natürlich Schalke-Boss Tönnies, gegen den später auch noch ordentlich gehetzt wird. Immerhin ließ der Verein aber drei Dixie-Klos am Weg aufstellen, dafür, dass er die Camper nicht mehr sehen möchte. „Ich weiß noch, wie man hier fuffzich Stunden stehn musste", fährt der Wattenscheider fort. „Der neue Modus is doch kacke. Dat will ich sehen, dat hier bei der letzten Verkaufsphase im Februar einer campt." „Ach, paar Bekloppte kommen immer", kommentiert einer der Münsterländer.

Nach einer philosophischen Runde über Doping im Sport – Zitat: „Die sind doch heute alle auf Stoff. Guck' dir den Badstuber an. Früher wär' der tot gewesen, heute kommt der immer wieder." – wird es gegen vier Uhr ruhig. Auch die Gangsta-Rap-Jungs nicken nicht mehr mit den Köpfen zum Beat, sondern in ihren Anglerstühlen weg. Sitzend schlafen konnte ich noch nie, deshalb verlassen wir unsere Stellung und dösen eine Stunde im Auto. Nach Kaffeeholen an der Tanke kehren wir um halb sechs wieder zu unseren Stühlen zurück. Mittlerweile sind acht Leute dazugekommen. Ein paar Jungs haben sich, wie es die Hackordnung der Schlange verlangt, hinter unsere leeren Plätze, die aber dank Wasserflaschen und Snacks nach Nachtlager aussehen, gesetzt und spielen Pokémon Go.

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Um halb acht gerät für mich jedoch auch mein Weltbild des Respekts vor dieser Hackordnung ins Wanken. Denn auf einmal taucht Petra mit ihrem Mann auf. Aus dem Nichts. In der Pole Position wohlgemerkt. Ich erkläre mir das zunächst so, dass die beiden in dem kleinen Zelt ganz vorne waren. Als aus diesem dann aber jemand anderes kraucht, werde ich stutzig. Ich glaube nicht, dass Petra wie die Außerirdischen in Krieg der Welten aus dem Himmel geblitzt wurde. Sie verteilt Kaffee an die Wartenden, erzählt was von „wir sind ja eine große Familie", erwähnt im nächsten Satz aber, dass sie zu Hause geschlafen hätten. Die Tische und Stühle vorne gehören zwar zu ihnen, vor Ort waren die beiden anscheinend aber nur tagsüber. Einige der Anderen wundern sich zwar ebenfalls über diese Mallorca-Liegestuhl-Dreistigkeit, wir lassen aber Pardon gewähren. Für Zorn ist der Andrang zu gering, um halb neun sind nur rund 150 Fans da. Außerdem lenkt Petra geschickt ab, indem sie einfach nicht mehr aufhört zu reden. Hauptsächlich hört man von ihr den Satz: „Wir wollen den alten Vorverkauf wiederhaben!"

In den letzten Minuten vor dem Start kommt ein Videojournalist der WDR-Lokalzeit vorbei. Mit kurzem Karohemd und alter DV-Cam sieht er aus, als hätte er sein Volo in den 90ern gemacht und beim Anpreisen seines Beitrags in der Redaktionskonferenz wohl auch an diese Zeiten auf Schalke gedacht. Während er verzweifelt versucht, spektakuläre Aufnahmen und Interviews zu machen, fahren die ersten Spieler an uns vorbei auf das Vereinsgelände. Sascha Riether hält mit seinem extrem dicken Audi sogar kurz an, um ein Foto von uns zu machen. Was er sich wohl denkt?

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Dann ist es soweit. Die Leiterin des Ticketcenters kommt angedackelt. Sie hält noch einen kurzen Plausch mit Petra, die ihr erzählt, dass sie gerne den alten Vorverkauf wiederhätte, dann schließt sie auf. Die erste Welle wird hereingelassen, ich stehe in der zweiten. Nach zehn Minuten kommen Petra und ihr Mann heraus. Er jubelt latent schadenfroh, dass er die letzten beiden Stehplätze gegen Bayern ergattert hätte. Jetzt überlegen sich einige der Nachtcamper, den beiden doch noch an die Gurgel zu gehen.

Als ich am Schalter bin, gibt es auch keine Stehkarten mehr für das Spiel gegen Mönchengladbach. Dafür bekomme ich zwei gegen Köln, für Bayern wenigstens noch ordentliche Sitzplätze. Ich trete aus dem Ticketcenter, die Sonne scheint mir ins Gesicht und ich kann durch meine verquollenen Augen kaum noch etwas erkennen. Irgendwo hinter mir höre ich Petra dem WDR-Typen ein Interview geben. „Wir wollen den alten Vorverkauf wiederhaben", motzt sie in die 90er-Kamera. Ich nicht. Ich bin zu alt für diesen Scheiß. Ich werde für die zweite Vorverkaufsphase vor dem Rechner campen. Im Warmen, in Reichweite meiner Couch, meines Kühlschranks, meines Fernsehers. Ich glaube ans Internet.

Alle Fotos: Roman Pilgrim