„Es dauerte nur einen Monat, den Januar 2011, um von einer verwunderten Außenseiterin zu so etwas wie einer Insiderin aufzusteigen—kaum weniger perplex als zuvor. Die Verwandlung geschah während meiner Recherchen: täglich fünf Stunden online, mindestens. Und das sieben Tage die Woche. In sieben bis zehn IRC-Kanälen gleichzeitig unterwegs, um das Kommen und Gehen von Anonymous zu beobachten und aufzusaugen."
Die Anthropologin Gabriella Coleman hat sechs Jahre mit Anonymous verbracht. Genau wie Anonymous selbst war das eigentlich ein Zufall. Just als Coleman 2008 in Archiven und Bibliotheken zum Kampf zwischen Hackern und Scientology forscht, geraten einige anonyme 4chan-Nutzer in einen Streit mit der Sekte, weil diese ein Tom-Cruise-Video aus dem Internet verbannen will.Schnell erstellt ein anonymer B-Board-User ein YouTube-Video gegen die Zensur und nach einer Reihe von Denial-of-Service-Angriffen auf Scientology-Websites sowie Offline-Protesten ist aus dem Internet-Trollen eine führerlose Protestbewegung geboren.
Als Anonymous-Aktivisten Visa, MasterCard und PayPal angreifen, weil die Unternehmen sich weigern, Spenden für Wikileaks anzunehmen, wird das Kollektiv über Nacht zu einer globalen politischen Macht—und Biella zur weltweit führenden Expertin für Anonymous. Wie viel persönlichen Einsatz ihre Arbeit ihr abverlangt hat, beschreibt sie in ihrem Buch Hacker, Hoaxer, Whistleblower, Spy: The Many Faces Of Anonymous. Das liest sich streckenweise wie ein Thriller:Ich glaube, sie weiß gar nicht, wie viel sie zu Anonymous beigetragen hat.
„Es war ein heißer Sommer. In einem Klima der Gefahr und Bedrohung bekam ich jede Woche den selben Albtaum von FBI-Agenten, die mir vor meiner Tür auflauern. Ich fragte mich langsam, auf was zur Hölle ich mich eingelassen habe—und damit war ich wohl nicht die einzige."
Gabriella, die die meisten schlicht Biella nennen, ist nicht nur online hautnah an Anonymous dran. Als sie für eine Professur nach Kanada zieht und schon mit gepackten Koffern und ihrem Partner im Auto sitzt, klopft Sabu, einer der Köpfe hinter den Avantgarde-Hackern von LulzSec und AntiSec, an die Scheibe—er wollte sich noch einmal persönlich verabschieden. Dass Sabu da schon monatelang als Spitzel für das FBI arbeitet, kann Biella nicht wissen: Im Angesicht einer drohenden Gefängnisstrafe, beginnt der Spitzen-Hacker heimlich zahlreiche seiner Weggefährten zu verraten, und bringt unter anderem Jeremy Hammond eine langjährige Haftstrafe ein.
Im Laufe der Jahre ist Biella so tief in Anonymus eingedrungen, dass ein zentraler Anon schließlich einem Journalisten gestand, wie sehr sie Teil der Gruppe geworden ist:Exklusiv: Wie der FBI-Informant Sabu dafür sorgte, dass Anonymous Brasilien hackt
anonymous9: Eine Sache ist wirklich süß und bitter zugleich: Biella ist nur hier wegen ihrer Uni-Recherchen.
anonymous9: Ich muss die ganze Zeit daran denken, dass sie keinen Grund mehr haben wird, hier abzuhängen, wenn sie ihre Promotion oder was auch immer ihr Projekt ist geschrieben hat :-(
anonymous9: Ich glaube nicht das sie weiß, wie viel sie zu Anonymous beigetragen hat—auch wenn sie sich selbst vielleicht gar nicht als Teil von uns sieht.
Zu Hochzeiten hatte sogar die NSA Angst vor Anonymous. Anon-Gruppen wie LulzSec drangen illegal in die Systeme internationaler Sicherheitsdienstleister ein und leakten massenhaft Daten im Kampf für mehr Transparenz. Biella selbst betont, dass sie nie in den IRC-Chats war, als solche kriminellen Aktionen organisiert wurden, die weit über den zivilen Ungehorsam eines DDoS-Angriffs hinausgingen.
Wer heute auf die Facebook-Seite von Anonymous Deutschland geht, kann nicht viel von dem finden, was Coleman an Anonymous als anarchische, aber auch progressive Bewegung begeisterte. Stattdessen findet sich auf der like-stärksten deutschen Anon-Seite alles von Rechtspopulismus bis Verschwörungstheorien—weshalb sich andere deutsche Anons von der Seite auch strikt distanzieren und sie angreifen.Unsere Gesellschaft legt viel zu viel Wert auf Individualismus. Anonymous ist hier ein wichtiges Korrektiv.
Dennoch bleibt die Frage: Gibt es überhaupt noch eine Zukunft für Anonymous und den progressiven Aktivismus, für den das Kollektiv stand? Kaum jemand kann das so gut einschätzen wie Gabriella Coleman. Nachdem ich mit Biella und Max von Motherboard schon beim Hate-Congress über die Politik des Kollektivs diskutiert habe, konnte ich ihr in den vergangenen Wochen noch weitere Fragen über ihre Zeit mit Anonymous stellen.MOTHERBOARD: Sechs Jahre mit Anonymous, das ist eine ziemlich lange Zeit. In deinem Buch beschreibst du, wie du Weihnachten in Chatrooms verbringst, während deine Familie Siedler spielt. Wie hast du all die Jahre durchgehalten?Die kreativsten Verschwörungstheorien vom deutschen Anonymous.Kollektiv und seinen Facebook-Freunden
Sozialer Wandel wird von Leidenschaft und Wut angetrieben. Diese Wünsche und Emotionen sind nicht einfach nur da—sie müssen geweckt und gepflegt werden. Genau dabei hilft Anonymous: Sie kümmern sich um die emotionale Seite der politischen Mobilisierung.Anons entwickeln ein nicht-zensierbares Web-Kommunikationstool über Radiowellen
Die Aktivisten wollten eigentlich nur die Website des Unternehmens angreifen. Doch dann veröffentlichte jemand nach einem Hack Nacktfotos des schwulen PR-Sprechers. Das ist ein klarer Fall von Rache und ich bin mir sicher, dass er von einem einzelnen Individuum ausging. Das ist ganz einfach Trollen und alles andere als progressiv.Wie der FBI-Informant Sabu den Hack auf einen engen Kunden des FBI orchestrierte.
Am 17. September 2011 wachte ich neben einem Strauß aus pinken und lila Blumen auf, die aus einer Vase, umwickelt von einer Guy Flawkes Maske, hervorsprossen. Es war mein Geburtstag. […] Ich nahm meine Maske und machte mich auf den Weg zu Bowing Green, in der Nähe der Wall Street. Als ich mich dem kleinen Park näherte, sah ich aus dem Augenwinkel eine Gruppe junger Männern, die Guy-Fawkes-Masken über ihre Schultern geworfen hatten. Als sie mich entdeckten, nickten sie mir kurz zu.
Du bist eigentlich Anthropologin. Woher kommt dein Interesse an Hackern und Geek-Aktivismus?Ich war jahrelang Umweltaktivistin. Das hat mein akademisches Interesse an Aktivismus natürlich stark geprägt. Ganz konkret aber war ein Erlebnis 1998 sehr wichtig. Da habe ich erfahren, dass Hacker im Kampf für freie Software die geltenden Gesetze und Regeln umgehen und sie neu erfinden, indem sie eigenen Lizenzen kreieren. So haben sie das Urheberrecht ausgehebelt. In diesem Moment wurde meine Faszination für Geek-Aktivismus geboren.Wenn man auf die Facebook Seite von Anonymous Deutschland geht, findet man die komplette Bandbreite von Rechtspopulismus, Verschwörungstheoretikern und sogar Antisemitismus. Wie passt das in dein Bild von Anonymous?Es hat mich enttäuscht von dieser konservativen Gruppe zu hören, wo doch die allermeisten Anonymous-Aktionen im liberalen bis linken politischen Spektrum zu finden sind.
Auf der anderen Seite kann natürlich jeder den Namen "Anonymous" benutzen und so etwas passiert einfach. Was für mich viel interessanter ist, ist folgende Frage: Ist das eine Ausnahme oder werden wir demnächst mehr konservative Gruppierungen unter dem Deckmantel von Anonymous sehen? Das wird die Zukunft zeigen.Anonymous-Aktivisten drohen Israel mit „elektronischem Holocaust"
Anonymous ist nicht tot. Aber Hardcore-Hacking verlagert sich zunehmend weg aus dem Westen, zum Beispiel nach Lateinamerika.