FYI.

This story is over 5 years old.

Tech

Periscope verwandelt seine Nutzer gleichzeitig in Voyeure und Exhibitionisten

Mit Meerkat und Periscope kann jeder unbegrenzt und mobil Videos aus seinem Alltag livestreamen, und Bilder senden, die wir nie sehen wollten.
Alle Bilder: Screenshots Meerkat/Persicope

Das vergangene Wochenende haben meine Frau und ich damit verbracht, einer Gruppe junger Männer beim Koksen zuzugucken. Irgendwann zündete einer von ihnen dann eine Sprühdose mit einem Sturmfeuerzeug an—die bewährte Redneck-Methode zur Herstellung eines kleinen DIY-Flammenwerfers, was prompt einen piepsenden Feueralarm in ihrer Wohnung auslöste.

Es schien den Protagonisten nichts auszumachen, diesen ereignisreichen, wenn auch höchst illegalen Samstag mit uns und weiteren hundert Zuschauern zu teilen.

Anzeige

Ich sollte vielleicht klarstellen, dass, wir uns nicht direkt am Ort des Geschehens aufhielten, sondern viele Kilometer entfernt vor einem Bildschirm. Wir waren Teil eines internationalen Publikums und guckten eine Sendung auf Periscope, einer im letzten Monat herausgekommenen Livestreaming-Videoapp von Twitter.

Periscope und sein Marktbegleiter Meerkat haben schnell die Aufmerksamkeit vieler Techblogger gewonnen. Und es ist leicht zu verstehen, wieso. Mit beiden Apps kannst du schnell und einfach von deinem iPhone aus Videos live und öffentlich in die Welt schicken. Bei beiden Apps kannst du ganz einfach zwischen Vorder- und Rückseitenkamera umschalten, um das Geschehene kurz mit einem theatralischen Blick zu kommentieren.

Du kannst so lange senden, wie du magst, begrenzt nur vom Datenvolumen deines Telefons und dir außerdem Livekommentare deiner Zuschauer ansehen und beantworten, was eine außergewöhlichen Intimität zwischen Sender und Empfänger herstellt. Bei beiden Apps ist die Übertragung auf „Öffentlich" voreingestellt. Wer die App nicht besitzt, kann auf der Website mitschauen und bei Periscope wird dein Video sogar noch 24 Stunden nach Ende deines Broadcasts für öffentlich zugängliche Replays auf dem Server gespeichert.

Beide Apps funktionieren mit der Unmittelbarkeit, die Twitter so interessant macht. Videos von Menschen, denen du auf Twitter folgst, siehst du bevorzugt, aber es gibt im Feed auch vermeintlich völlig wahllose Sendungen von Unbekannten auf der ganzen Welt. Meerkat nennt das „Community Picks", was auf eine gewisse Nutzerauswahl schließen lässt—dennoch scheint bei Periscope die Liste unter dem Label „Watch" zufällig zu sein.

Anzeige

Ich habe Periscope seit dem Start vor gut zwei Wochen vor allem als Zuschauer täglich benutzt und war abwechselnd interessiert, amüsiert, geschockt und angeekelt von dem, was ich dort sehen durfte. Falls ihr euch nicht mehr an Chatroulette erinnern könnt: Solche Apps, bei denen man sich abrupt in das Leben eines Fremden einklinkt, hinterlassen beim Zuschauer einen Déjà-Vu-artigen Effekt; vor allem, wenn man in zehn Minuten zwei Dutzend Genitalien Fremder bestaunen durfte.

Meiner Erfahrung nach ist Periscope viel lustiger und vielfältiger als Chatroulette. Das liegt daran, dass Meerkat und Periskope eher passive Vergnügen sind. Du kannst dir anschauen, was andere senden, ohne dich selbst einschalten zu müssen. Chatroulette dagegen knipste sofort deine Webcam an und entblößte dich und deinen Chatpartner einander automatisch.

Weil du bei auf Grund der mobilen Apps von Periscope und Meerkat dein Telefon als Kamera überall mit hinnehmen kannst, wird dir ein riesges Spektrum filmbarer Aktivitäten eröffnet, die eine desktopbasierte Anwendung nie zu bieten vermag. ​YouNow, eine bei Teenagern beliebte App, half, diese Idee zu verbreiten, fand aber keinen besonders großen Anklang unter älteren Nutzern.

Zugegeben: Die meisten von mir angeschauten Sendungen auf Periscope waren eigentlich ziemlich unschuldig, oft sogar langweilig. Menschen aller Ethnien und Altersklassen führen dich durch ihr Hotel in Ohio, geben Spontaninterviews im Bett, zeigen dir die Aussicht von ihrer Dachterrasse in Brooklyn, nerven ihre Haustiere und filmen massenweise Essen, das sie gerade gekocht oder bestellt haben.

Anzeige

Bei aller Banalität taucht im Stream auch ab und an Verbotenes auf. So wurden Filme wie Fast & Furios 7 auf beiden Apps illegal livegestreamt und wie oft ich in den letzten zwei Wochen Menschen vor der Kamera kiffen gesehen habe, kann ich kaum mehr zählen.

Andere Streams versprechen Strips oder Sex, lösen diese Versprechen aber nur in den seltensten Fällen ein. Generell spiegelt das Kommentarverhalten das eher schäbige Niveau der Youtube-Kultur und anderen Videoseiten wider: Sobald eine weibliche Boradcasterin vor der Kamera erscheint, wird sie aufgefordert, ihre nackte Haut zu zeigen.

Ziemlich gruselig finde ich es, wenn sich Menschen beim Autofahren filmen, wo doch schon SMS schreiben bei der Fahrt verboten ist und dieses Verhalten auch andere Verkehrsteilnehmer gefährdet. Mit mobilen Apps ist es leichter denn je, potenziell hochgefährliche Momente live zu verfolgen. Es ist noch nicht klar, ob und wie Periscope und Meerkat diese Arten von Streams in nächster Zeit verbieten oder blockieren können.

Interessanterweise ist es nämlich ziemlich einfach, die Menschen in den Streams zu identifizieren, besonders, wenn sie ihre Gesichter zeigen und ihren Standort mitteilen—wozu die Apps ihre Nutzer explizit auffordern. Beide Apps verlangen einen Login über Twitter und bei Meerkat werden zudem alle Kommentare öffentlich gepostet. Doch natürlich ist es ganz einfach, einen Fake-Account unter einem Pseudonym zu eröffnen.

Und da beide Apps laut ihrer Statuten unbeschränkt der Öffentlichkeit zugänglich sind, bedeutet das möglicherweise, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir alle in Echzeit Zeuge von potentiellen Tragödien wie einem Autounfall, vielleicht sogar Tod werden könnten. Schon heute muss man nicht lange suchen, um von Menschen zu lesen, die ihren ​Selbstmord(-versuch) öffentlich auf verschiedenen Plattformen im Netz live inszeniert haben.

Das führt uns zu der heikelsten Frage überhaupt: Der Rolle des Live-Publikums. Welche moralische Verpflichtung haben wir, wenn wir Leuten bei gefährlichen Aktivitäten in Echtzeit zugucken? Ich zumindest habe festgestellt, dass ich einfach hinschaue, und zwar länger, als ich das normalerweise im echtem Leben tun würde. Mein Moralgefühl ist unterminiert.

Das Aufkommen von Meerkat, Periscope und anderen immersiven Virtual Reality-Anwendungen zwingt uns, uns einer Tatsache zu stellen, um die wir viel zu lange herumgetanzt haben: Das Online-Leben ist das echte Leben. Es gibt keine Grenzziehung mehr, wenn es überhaupt jemals eine gegeben hat. Alles, was wir auf dem Bildschirm sehen, kann auch wirklich so passieren. Was wir mit diesem Wissen anfangen, ist eine noch offene Frage.

Periskope und Meerkat haben aber auch großartige Eigenschaften, sie verbinden uns mit anderen Personen und zeigen uns ihre Menschlichkeit—mit all ihren Fehlern. Vielleicht helfen sie uns auch, Dinge zu entstigmatisieren, die vielleicht gar nicht so schädlich sind, wie wir glaubten. Doch sie belasten uns auch, sie zwingen uns, unsere Vorstellungen von richtig und falsch auf den Prüfstand zu stellen—und uns zu fragen, was wir eigentlich für Menschen sind, und was wir tun würden, wenn wir etwas Zweifelhaftes auf dem Bildschirm sehen. Ich habe dafür kaum Antworten, aber eins weiß ich schon heute: Wir sind alle Voyeure und Exhibitionisten zugleich.