Woher kommt das Klischee des schwulen besten Freundes?

Ob nun in Form eines Stanford Blatch – der wortgewandte, kompromisslos ehrliche Mode- und Cocktail-Fanatiker an der Seite Carrie Bradshaws in der Kultserie Sex and The City –, oder als Elijah – erst Ex-Freund, dann Mitbewohner und Party-Partner in Crime von Hannah Horvath, der Hauptrolle in Lena Dunhams Erfolgsshow Girls: Das Motiv des schwulen besten Freundes tritt in unserer (Pop-)Kultur in allen Farben und Formen auf. Letztlich und endlich haben aber die meisten, wenn nicht sogar alle Charaktere in Film und Fernsehen dieser Gattung eines gemeinsam – sie sind wandelnde Klischees.

Diese klischeehafte Darstellung der Freundschaft zwischen schwulem Mann und heterosexueller Frau dürfte ähnlich tief und fest in unseren Köpfen verankert, wie die Annahme, dass Frauen nur auf “Bad Boys” stehen. Doch wieso ist das so? Wieso ist insbesondere seitens heterosexueller Frauen der Wunsch so groß, diesen schwulen besten Freund an ihrer Seite zu sehen?

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Wie bei vielen fragwürdigen Mechaniken innerhalb der Popkultur gibt es auch hierzu keine aussagekräftigen oder gesicherten Studien oder Statistiken. In Zahlen lässt sich nicht ausdrücken, wie viele dem Stereotypen treue “schwule beste Freunde” in der Realität entsprechen, beziehungsweise inwiefern dieses Klischee überhaupt eine Daseinsberechtigung hat. “Man kann diesbezüglich Thesen und Theorien aufstellen, mutmaßen und spekulieren. Aber empirisch belegen kann man hier leider nichts”, bestätigt auch Markus Ulrich, der Pressesprecher des Lesben- und Schwulenverband in Deutschland . “Es ist also ziemlich schwer, dieses Thema auf sachlicher Ebene zu behandeln.”

Immerhin: Ich bin nicht die einzige Person, die sich diese Frage stellt, auch andere haben sich auf das Feld der schwulen Frauenfreundschaften gewagt – wenn auch ein bisschen anders. “Braucht jede Frau einen schwulen besten Freund?” fragt Sharon Bexley in einem Artikel für die britische Daily Mail. Ihre Antwort: unbedingt. Um das zu untermauern, klärt sie die Leser_innen über die fünf Vor(ur)teile einer Freundschaft mit einem Schwulen auf und vergisst dabei natürlich weder „Shopping”, noch lässt sie es sich nehmen zu erklären, dass ein schwuler Mann ein perfekter Platzhalter für all die Momente ist, wo man kein “richtiges” Date abgreifen konnte.

Beide kämpften in erster Linie gegen einen gemeinsamen Gegner, nämlich das Privileg heterosexueller Männlichkeit.

Diesem Widerkäuen alter Klischees stehen größtenteils ratlose Heteros gegenüber, die sich an Frauenforen wie gofeminin wenden, um Antworten auf das große Mysterium schwuler bester Freund zu finden. “Kann es sein, dass sich ziemlich viele Frauen einen schwulen Freund wünschen?”, fragt beispielsweise der Nutzer vampireslust und schlägt zugleich eine Alternative vor: “Anstatt einem schwulen Freund, würde da nicht auch eine beste Freundin gehen?”

Diese Fragen sind durchaus berechtigt. Auch Herrn Ulrich stelle ich sie. Ich will von ihm wissen, warum es insbesondere die heterosexuelle Frau ist, die den Kontakt zu schwulen Männern zu suchen scheint. Er erklärt, dass die besondere Beziehung zwischen homosexuellen Männern und heterosexuellen Frauen durchaus geschichtlich begründet ist, schließlich mussten die beiden Gruppen erst einmal zusammenfinden. Die Basis dafür, dass sich die Figur des schwulen besten Freundes mit all ihren klar definierten Charakterzügen überhaupt erst entwickeln konnte, wurde somit auch von den Frauen- und Schwulenbewegungen Ende der 60er gelegt.

“Beide kämpften in erster Linie gegen einen gemeinsamen Gegner, nämlich das Privileg heterosexueller Männlichkeit. Das und die – damals wie heute – statistisch erwiesene Tatsache, dass Frauen Homosexuellen im Allgemeinen offener und toleranter gegenüberstehen, als es heterosexuelle Männern tun, sind signifikante Merkmale des historischen und gegenwärtigen Verhältnisses zwischen Schwulen und heterosexuellen Frauen”, erklärt Ulrich.

Dass es heutzutage regelrechte Inserate, Gesuche nach schwulen besten Freunden gibt, wenn wir doch eigentlich weitergekommen sein müssten und andere Kriterien priorisieren sollten, „kann an einer ganzen Menge Faktoren liegen. Da wäre zum Beispiel die Vermutung, man könne sich gut oder sogar besser mit Schwulen über Hetero-Männer unterhalten, als mit anderen Frauen. Ein homosexueller Mann habe ja Einsicht in beide Welten, wenn man so will”, erklärt Ulrich ein mögliches gesteigertes Interesse von heterosexuellen Frauen am Umgang mit homosexuellen Männern.

Der schwule beste Freund als ungefährlicher Komplize, der “wenn es um Liebe- und Partnersuche geht, höchstwahrscheinlich kein Rivale darstellt oder zumindest nicht als solcher wahrgenommen” wird – ein Stereotyp, der wie gemacht scheint für heterosexuelle Frauen.

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Für Ulrich kommt allerdings noch ein weiteres Motiv in Frage, was ungleich problematischer ist: “dass man sich nach außen hin toleranter und liberaler verkaufen will, als man tatsächlich ist. Inzwischen gehört es ja fast schon zum guten Ton dazu, behaupten zu können, man hätte schwule und lesbische Bekannte. Das nach außen tragen zu können, symbolisiert für viele dann eine Art Carte-Blanche, eine Berechtigung dazu, sich letztlich doch negativ über LGBTQ-Inhalte zu äußern.”

Der schwule beste Freund als Objekt, als Vorzeige-Attribut der vermeintlich weltgewandten, modernen Frau. An dieser Stelle nimmt Ulrich konkreter Bezug auf die Popkultur und nennt als eine Schlüssel- und Identifikationsfigur die Rolle Sarah Jessica Parkers Carrie Bradshaw in Sex and the City. Eine von 1998 bis 2004 ausgestrahlte, nahezu tabulose Serie, die auf allen Ebenen polarisiert, Gesellschaft und Zeitgeist entscheidend geprägt und hinterfragt hat – all das aber eben doch aus einer weißen, primär heteronormativen Sicht. “Die Protagonistin der Sendung nimmt als emanzipierte, modebewusste Frau eine Vorbildfunktion ein. Die liberale Großstadtfrau, die sich durch den Single-Dschungel wuselt, Spaß hat und frei ist. Bei dem hier porträtierten Lebensstil gehört ein treuer, schwuler Weggefährte ja fast schon zur Grundausstattung.”

Viele Schwule, die ich kenne, mich eingeschlossen, verstehen sich besser mit anderen Männern als mit Frauen.

Die Relevanz dieses Punkts wird deutlich, als mir Samy – ein seit Jahren offen-schwuler Freund – erzählt, dass eine ganze Menge seiner weiblichen Bekannten ganz explizit seine Sexualität erwähnen, wenn sie ihn jemandem vorstellen. “Gerade wegen den Assoziationen, die man mit dieser ‘schwuler-bester-Freund-Person’ hat, ist das manchmal auch etwas unangenehm” sagt er. “Wer will schon binnen einer Sekunde auf einen Typus reduziert werden?”

Die Gründe, warum heterosexuelle Frauen sich einen schwulen besten Freund wünschen, sind also ebenso facettenreich wie komplex. Wie aber sieht es anders herum aus? Haben schwule Männer ein gesteigertes Interesse an einer Freundschaft mit heterosexuellen Frauen? Samy sieht zwar durchaus Berührungspunkte zwischen den beiden Gruppen, “aber das jemand konkret nach einer besten Freundin sucht, quasi das umgekehrte Pendant zu besagtem Klischee liefert, habe ich noch nie mitbekommen”, erklärt er. “Im Gegenteil. Viele Schwule, die ich kenne, mich eingeschlossen, verstehen sich besser mit anderen Männern als mit Frauen.”

Für Markus Ulrich ist die vermeintliche Nähe von homosexuellen Männern und Frauen in jedem Fall nicht zwingend ein Zeichen natürlicher Sympathie, sondern womöglich auch ein Symptom historischer Not. “In der Geschichte -– und für viele leider nach wie vor – haben schwule Männer nicht das Privileg gehabt, sich auszusuchen, mit wem sie befreundet sein wollten. Es war eine Frage von: ‘Wer will überhaupt mit mir befreundet sein? Wer akzeptiert mich so wie ich bin? Wer kann den Fokus von meiner Sexualität nehmen und mich einfach als menschliches Wesen betrachten?’. Man war froh, dass es überhaupt Leute gab, die sich mit einem solidarisiert haben.”

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Das Bild des einkaufswütigen, lustigen, an jeglicher Art von Männergeschichten interessierten Schwulen ist zweifelsohne eine Erfindung der Popkultur – auch wenn es da draußen natürlich jede Menge genau solcher Freundschaften zwischen homosexuellem Mann und heterosexueller Frau geben mag. Gleichzeitig ist das Verallgemeinern einer ganzen Menschengruppe grundlegend schwierig. So wie es nicht die hetero- oder homosexuelle Frau gibt, gibt es auch nicht den hetero- oder homosexuellen Mann.

Herr Ulrich erklärt abschließend, dass das Klischee des schwulen besten Freundes in seinen Augen „weniger beleidigend ist, als einfach höchst fragwürdig. Was erwarten wir denn von einer Freundschaft? Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, gemeinsame Interessen. All das kann doch auch jeder andere Mensch geben, völlig gleich ob Mann oder Frau, hetero oder homo. Das sind doch auch viel wichtigere Eigenschaften, oder etwa nicht?”


Titelfoto: imago | ZUMA Press