Ein junges, blondes Mädchen sitzt präsentiert zusammen mit seiner Mutter einen gefangenen Fisch; es handelt sich um Julie Gregory, die uns erzählt, wie ihre Mutter sie jahrelang absichtlich krank gemacht hat, um dann durch ihre Fürsorge Lob und Aufmerksam
Das sind Julie Gregory und ihre Mutter | Alle Fotos: bereitgestellt von Julie Gregory
Menschen

Wie meine Mutter jahrelang versucht hat, mich zu vergiften

Als kleines Kind bekam ich Streichhölzer zum Naschen, später verabreichte sie mir wahllos Medikamente: Sie machte mich krank, um sich gut zu fühlen.

Vielleicht hast du schon mal vom Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom gehört. Dabei handelt es sich um eine Form von Missbrauch, bei der eine Person – meistens eine Mutter – ihr Kind absichtlich krank macht, um dann Aufmerksamkeit und Lob dafür zu bekommen, wie aufopferungsvoll sie sich kümmert.

Ein paar Jahre lang war diese Störung eines der Lieblingsthemen von Hollywood-Drehbuchautoren. In der Realität sprechen Täterinnen und Opfer aber nur selten über ihre Erfahrungen. Julie Gregory ist eine von wenigen, die es tun. Sie wurde 1969 geboren und wuchs in einer ländlichen Gegend des US-Bundesstaats Ohio auf. Gregory ist sich nicht ganz sicher, wann der Missbrauch durch ihre Mutter begann. Es fing schleichend an und häufte sich mit der Zeit. Erst als Erwachsene fand Gregory heraus, dass es für diese Form von Missbrauch einen Namen gibt.

Anzeige

Wir haben mit Gregory über ihre Erinnerungen an ihre Kindheit gesprochen – von Streichhölzern, die ihr als Süßigkeiten verkauft wurden, über die Verabreichung wahlloser Medikamente bis hin zur Erkenntnis, dass ihre Krankheit durch die Mutter verursacht wurde. Dieser Artikel ist ein Auszug, das komplette Gespräch kannst du in der dazugehörigen Folge unseres Podcasts Extremes auf Spotify anhören.

Ein kleiner Junge mit braunen Haare und ein junges Mädchen mit blonden Haaren, das ein Tier hochhält, posieren für die Kamera

Julie Gregory und ihr Bruder Danny

Meine früheste Erinnerung ist eigentlich ganz schön: Ich sitze im Auto auf dem Schoß meiner Mutter. Sie fährt mit ihrer Hand liebevoll durch mein langes, blondes Haar, während ich ihre Handtasche durchsuche. Sie fragt mich, ob ich nach Lollis suche. Ich nicke und sie sagt: "Moment, ich hol sie dir raus." Meine Mutter reicht mir eine Packung Lollis, ich nehme einen und stecke ihn mir in den Mund. Sofort registrieren meine Geschmacksnerven dieses gewohnte metallische Kribbeln.

Erst viele Jahre später wurde mir klar, dass die Lollis in Wahrheit Streichhölzer waren, die mir meine Mutter als Süßigkeiten verkaufte. Es war ganz normal, dafür gelobt zu werden, eine ganze Packung Lollis aufgegessen zu haben.

Ich mochte meine Mutter. Ich liebte sie sogar abgöttisch. Als Kind hat man das Verlangen, von den Eltern zurückgeliebt zu werden. Deswegen tut man alles, um so oft wie möglich kleine Zeichen der Liebe zu bekommen.

Anzeige

Ich hatte früher keine Freunde. Zusammen mit meinen Eltern und meinem sieben Jahre jüngeren Bruder Danny lebte ich in einer Gegend ohne direkte Nachbarn, unsere Verwandten wohnten ebenfalls weit weg. Ich verbrachte meine Freizeit damit, barfuß mit meinen Haustieren durch unser wild zugewachsenes Grundstück am Ende einer Sackgasse zu streifen. 

Meine Mutter und mich gab es nur im Doppelpack. Sie ließ mir kaum Freiheiten. Schon als ich noch sehr klein war, schleppte sie mich zu verschiedenen Ärzten, weil angeblich etwas mit mir nicht stimmte. Den einen Arzt ließ sie das eine Medikament verschreiben, einen anderen ein anderes. Was ich damals noch nicht verstand: So informierte sich meine Mutter eigentlich nur darüber, welche Medikamente man nicht zusammen einnehmen sollte. Genau diese Medikamente gab sie mir und machte mich damit krank.


Auch bei VICE: Söder vs Habeck: Das Duell der Herzen


Meine Mutter wollte sich immer perfekt präsentieren. Weil wir so abgeschieden lebten, hatte sie aber nur selten die Gelegenheit, Make-up zu tragen und sich eine hübsche Frisur zu machen. Die Arzttermine nutzte sie, um ein schickes Outfit anzuziehen und richtig nett und quirlig aufzutreten. Die Ärzte gaben ihr das Gefühl, eine gute Mutter zu sein. Sie brauchte mich, um Aufmerksamkeit zu bekommen.

Es gab noch eine andere Methode, mit der meine Mutter mich krank machte: Sie entzog mir das Essen. Oft ging ich ohne Frühstück in die Schule und sie füllte nicht die nötigen Formulare aus, sodass ich in der Schule kein Mittagessen bekam. Ich kam immer total hungrig nach Hause, wo ich trotzdem nichts essen durfte. Meine Mutter sagte dann, dass ich dies und jenes nicht essen könne, weil ich dagegen allergisch sei. So nahm ich extrem ab, war immer müde – und total abhängig von meiner Mutter.

Anzeige

Als ich älter wurde, versuchte ich, mit einigen Beratungslehrern über meine Probleme zu reden, aber sie glaubten mir nicht wirklich. Damals wurden Kinder bei solchen Sachen noch nicht ernst genommen.

Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, fing meine Mutter an, meinen Bruder ähnlich zu behandeln wie mich. Sie sagte, dass er Asthma und Atemprobleme habe, und wollte ihn deswegen zum Arzt bringen. Mein Vater war eigentlich immer ziemlich faul und wollte am liebsten seine Ruhe haben, aber ich weiß noch genau, wie er meine Mutter da plötzlich am Handgelenk packte und ihre Hand auf die Küchenzeile schlug. Er wurde richtig wütend und sagte: "Nein, meinem Sohn wirst du das nicht antun. Mein Sohn ist gesund."

Ich glaube, mich hatte mein Vater zu diesem Zeitpunkt schon aufgegeben. Ich war ein Mädchen, das spielte wahrscheinlich auch eine Rolle. Mein Vater hat sich nie so für mich eingesetzt wie für seinen einzigen Sohn. Also blieb ich das Versuchskaninchen, mit dem meine Mutter alles anstellen konnte.

Ein junges Mädchen mit zwei blonden Zöpfen und gemustertem Oberteil posiert für ein Schulfoto

Ich war zwölf, als mich meine Mutter zu einem neuen Arzt schleppte. Der Arzt kam ins Behandlungszimmer und bat mich aufzustehen. Ich hatte natürlich nichts gegessen und bekam beim Aufstehen Herzrasen und mir wurde schwindlig. Der Arzt sagte, dass ich Herzprobleme haben könnte und das untersucht werden sollte. Das war gefundenes Fressen für meine Mutter: Von diesem Tag an erzählte sie jedem, dass ich an einer Herzkrankheit leiden würde.

Anzeige

Einige Jahre und mehrere Herzuntersuchungen später wollte meine Mutter unbedingt, dass ich am offenen Herzen operiert werde. Ich glaube, ich war 14, als sie mich in ein Krankenhaus einwies. Ich hatte dort aber eine gute Zeit: Ich bekam dreimal täglich etwas zu essen, inklusive Extra-Obstsalat und viel Wackelpudding. Die Krankenpflegerinnen waren richtig nett, und meine Mutter war nicht da und konnte mich so weder schlagen noch mir an den Haaren ziehen. Dann änderte sich alles.

Eines Tages kam eine Krankenpflegerin in mein Zimmer und sagte, dass sie mich rasieren müsse. Ich antwortete, dass man mir die Brust bereits rasiert habe. Sie daraufhin: "Nein, ich muss dich im Intimbereich rasieren." Ich kann mir meine Reaktion bis heute nicht wirklich erklären, aber ich sprang auf, kauerte mich ans Ende des Betts, zog mir die Decke bis zum Kinn und rief: "Nein! Meine Mutter erfindet das alles. Ich bin nicht krank!"

"Gute Nachrichten: Ihrer Tochter geht es gut, wir müssen sie nicht weiter behandeln oder operieren."

Die Krankenpflegerin und ich blickten uns wie erstarrt an. Schließlich sagte sie nur, dass sie gleich zurück sei, und verließ das Zimmer. Ich war total erschüttert und wusste nicht, ob das, was ich da gesagt hatte, überhaupt stimmte. Ich war mir ja nicht mal sicher, ob ich es selbst glaubte. Ich wusste nur, dass ich mich im Krankenhaus wohl fühlte – ein Gefühl, das ich vorher nie gehabt hatte. 

Anzeige

Schließlich kam die Krankenpflegerin zurück und war ziemlich wütend. Das erkannte ich an ihrem Gang. Sie wollte sich von einem Kind so nicht behandeln lassen. Dann kamen noch andere Erwachsene in mein Zimmer. Sie gaben mir verschiedene Medikamente und das war’s.

Als ich wieder nach Hause musste, war ich völlig am Ende. Ich konnte kaum sprechen, aß nichts und schottete mich total ab. Ich weiß noch, wie ich mit meiner Mutter zurück ins Krankenhaus ging, weil man uns die Ergebnisse der Untersuchungen mitteilen wollte. Der Kardiologe sagte: "Gute Nachrichten: Ihrer Tochter geht es gut, wir müssen sie nicht weiter behandeln oder operieren." Das brachte meine Mutter voll auf die Palme, sie sagte wütend: "Ich dachte, wir ziehen das zusammen durch, und Sie operieren sie am offenen Herzen?"

Der Arzt schaute meine Mutter wortlos an. An seinem Blick erkannte ich direkt, dass er dachte, dass mit ihr etwas nicht stimmt. In strengem Ton sagte er: "Sie braucht keine weiteren Behandlungen und schon gar keine OP am offenen Herzen." Dann drehte er sich um und ging.

Ich hatte die Wahrheit ans Licht gebracht, musste sie aber wieder verheimlichen, weil ich immer noch in einer sehr gefährlichen und gewalttätigen Familie überleben musste. Schließlich kam ich in eine Einrichtung für betreutes Wohnen und verbrachte meinen ersten Sommer frei von meiner Familie.

Eine blonde Frau und eine junges, blondes Mädchen blicken lächelnd in die Kamera

Heute hat Julie Gregory selbst eine Tochter

Erst Jahre später fand ich heraus, dass es einen Namen für das Verhalten meiner Mutter gibt. Während einer Psychologie-Vorlesung erzählte der Professor von einer wenig bekannten Art des Missbrauchs namens Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Er sagte, dass der Täter oder die Täterin – im Normalfall die Mutter – beim eigenen Kind eine Krankheit oder eine Verletzung verursacht oder erfindet, damit es untersucht oder operiert wird. Ich weiß noch, wie der Professor sagte, dass diese Kinder manchmal sterben, wenn das Ganze zu weit getrieben wird.

In diesem Moment klickte es in meinem Kopf. Ich fing plötzlich an, ganz schnell zu atmen, und meine Hände wurden schweißnass, mir war total heiß. Ich rannte aus der Vorlesung und schlug im Treppenhaus meinen Kopf gegen eine Backsteinwand.

All die Schmerzen, all die Infusionen und all die Medikamente von damals waren umsonst. Alle Ärzte – Menschen, die ich für schlau gehalten hatte – hatten nicht den blassesten Schimmer. Sie ließen sich einfach von meiner psychopathischen Mutter herumkommandieren. Und niemand hatte den Mut gehabt, richtig einzuschreiten – und mir zu helfen.

Folge VICE auf Facebook, Instagram, YouTube und Snapchat.