Die Fotografin Sarah Gerats mit ihrem Hund und ihrem Volvo in der arktischen Landschaft von Spitzbergen
Alle Fotos: bereitgestellt von Sarah Gerats
Menschen

Diese Frau lebt in der Arktis – auf einem Boot und in einem Auto

"Als ich auf Spitzbergen ankam, war mir sofort klar, dass ich lernen muss, mit einer Waffe umzugehen."

Die niederländische Fotografin Sarah Gerats hatte schon immer den Drang verspürt, den Norden dieser Welt zu erforschen. So landete sie vor sieben Jahren auf dem 78. Grad nördlicher Breite, in der arktischen Kleinstadt Longyearbyen auf der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen.

Heute besteht der Alltag der 36-Jährigen daraus, im Boot durch die Arktis und die Antarktis zu touren, die Künstlerresidenz von Spitzbergen zu leiten und in ihrem alten Volvo zu schlafen. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, wie es ist, an einem Ort zu leben, an dem die Sonne zwischen Oktober und Februar nicht scheint und wo man immer ein Gewehr dabei haben muss, wenn man das Haus verlässt.

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VICE: Wieso lässt man sich an einem Ort wie Spitzbergen nieder?
Sarah Gerats: Das war Zufall. Ich lebte in Helsinki und war eigentlich schon drauf und dran, zurück in die Niederlande zu ziehen. Aber dann war mein Flug überbucht und ich bekam als Wiedergutmachung einen Reisegutschein. Ich schaute, wo die Airline überall hinflog, und kam dabei auf diese arktische Insel, von der ich noch nie gehört hatte.

Wie war dein erster Eindruck von Spitzbergen?
Die Natur ist überwältigend. Als ich das erste Mal allein inmitten der schneebedeckten Berge stand, klopfte mein Herz wie verrückt. Auch die Mitternachtssonne war total beeindruckend. Ich wusste sofort, dass ich bleiben muss.

Früher wollte ich nur in Hauptstädten leben. Aber in einer Kleinstadt mit nur 2.000 Menschen ist alles so viel einfacher. Hier gibt es nur ein Geschäft und nirgendwo Werbung. Auf Spitzbergen geht dir nur wenig auf die Nerven.

Atemberaubende Bilder aus der Arktis

Das Gegenteil der Mitternachtssonne ist dann aber die lange Polarnacht, oder?
Die Sonne geht im Oktober unter und erst im Februar oder Anfang März wieder auf. Ich vermisse die Sonne aber kaum. Wenn es immer hell ist, arbeitet man nonstop. Wenn es dunkel wird, hat man endlich Zeit. In den nördlichen Teilen Finnlands oder Norwegens gibt es im Winter jeden Tag zumindest noch ein kleines bisschen Sonnenlicht. Wenn man in diesem Zeitraum zum Beispiel arbeiten muss, glaubt man direkt, etwas verpasst zu haben. Auf Spitzbergen gibt es das nicht.

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In meinem ersten Winter hier lebte ich ein paar Monate lang in einer Hütte ohne Strom. Weil ich keine Uhr besaß, wusste ich nicht, ob und wie sich mein Tagesablauf verändert hat. Eines Tages sah ich beim Frühstück ein Leuchten hinter den Bergen. Wie sich herausstellte, war es Mitternacht an Silvester. Inzwischen lese ich in den Wintermonaten bis sechs Uhr morgens, schlafe dann und wache um zwölf Uhr mittags wieder auf.

Eine Frau steht mit ihrem Hund in der arktischen Landschaft von Spitzbergen

Also hast du kein festes Zuhause, du lebst ja in deinem Auto, richtig?
Ich besitze ein kleines Kunststudio, aber das Gesetz verbietet es mir, darin zu wohnen. Ich verbringe pro Jahr 300 Tage auf See, die restliche Zeit schlafe ich tatsächlich in meinem alten Volvo, eingehüllt in ein Rentier-Fell. Natürlich wäre es schon praktisch, ein Haus zu haben – gerade wegen der Kälte. Aber so wache ich jeden Morgen inmitten dieser wunderschönen Natur auf.

Was für Menschen leben auf Spitzbergen?
Leute, die bewusst hier leben wollen. Man braucht kein Visum, jeder ist willkommen. Fünf Prozent der Einwohner stammen aus Thailand, weil sie hier ohne Erlaubnis arbeiten können. Die einzige Regel lautet: Jeder muss in der Lage sein, für sich selbst zu sorgen. Es gibt kein soziales Sicherungsnetz. Deswegen ist Longyearbyen vor allem für unabhängige Menschen interessant. Hier kümmert sich niemand um dich. Und der Alltag ist verdammt teuer. Ein Liter Milch kostet zum Beispiel vier Euro.

Ist es dir schwer gefallen, Freunde zu finden?
Nein. Als ich in Longyearbyen ankam, war ich mit einer Ausstellung beschäftigt. Nach Feierabend ging ich gegen Mitternacht einfach in die Kneipe. Weil hier auf Alkohol und Zigaretten keine Steuern erhoben werden, ist das das Einzige, was dich nicht arm macht. Nachdem ich dreimal in der Kneipe war, wussten alle, wer ich bin. Aber hier muss man sich die Zuneigung der Einwohner erarbeiten. Weil die meisten Leute nur kurze Zeit auf Spitzbergen bleiben, wollen die festen Einwohner nicht viel Zeit in Durchreisende investieren.

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Wie haben deine Freunde und deine Familie darauf reagiert, dass du auf Spitzbergen bleiben willst?
Meinen Eltern fiel ein Stein vom Herzen, weil ich endlich einen Ort gefunden hatte, an dem ich mich niederlassen wollte. Vorher war ich ja ständig unterwegs. Es hätte wohl niemand gedacht, dass es mich gerade nach Spitzbergen verschlägt. Aber das passt schon zu mir. Der Meinung sind auch meine Freunde.

Eine von Ballons umhüllte Frau führt ihren Hund in der Arktis spazieren

Wie hast du am Anfang auf Spitzbergen Geld verdient?
Die ersten beiden Sommer habe ich auf einem Campingplatz gearbeitet. Danach war ich Eisbärenwache. Dann habe ich in der Kneipe und im Tourismusbüro gearbeitet. Ich habe einfach da angepackt, wo man mich gebraucht hat. Heute verdiene ich mein Geld als Tourguide auf Segelbooten für Touristen – im Sommer rund um Spitzbergen, im Winter auch in der Antarktis. Dazu leite ich die schwimmende Künstlerresidenz Arctic Circle. Zweimal im Jahr haben wir 30 Künstlerinnen und Künstler an Bord. Ich bin für das tägliche Programm verantwortlich, führe die Gäste an Land herum und passe immer auf, dass wir keinen Bären begegnen.

Moment, was genau ist eine Eisbärenwache?
Wenn Touristen die Insel erkunden wollen, brauchen sie jemanden, der sie vor den Eisbären schützt. Als ich auf Spitzbergen ankam, war mir sofort bewusst, dass ich lernen muss, mit einer Waffe umzugehen. Hier braucht man keine Jagdlizenz, jeder Einwohner darf einfach so eine Waffe besitzen. Ich dachte mir aber, dass ich trotzdem so viel übers Schießen lernen sollte wie möglich. Mit einer Jagdlizenz darf man pro Jahr ein Rentier erlegen. Das habe ich einmal gemacht, um zu schauen, ob ich dazu überhaupt in der Lage bin.

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Eine Frau liegt nur im Badeanzug auf einer arktischen Eisplatte

Muss man sich auf Spitzbergen vor Eisbären fürchten?
Viele Leute glauben, dass Eisbären einfach so angreifen, aber das stimmt nicht. Eisbären sind zwar neugierig, aber auch vorsichtig. Die Bären gehen sofort auf Distanz, wenn mein Hund auf sie zurennt. Mein Gewehr ist wirklich nur für den Notfall.

Aber hier muss man immer damit rechnen, auf Eisbären zu treffen. Vor allem jetzt, da das Eis schmilzt und die Tiere nach neuen Nahrungsquellen suchen. Inzwischen sehe ich Eisbären an Orten, wo sie vorher noch nie hingegangen sind.

Wie ist der Klimawandel auf Spitzbergen zu spüren?
Früher hat sich die Landschaft nicht verändert, jetzt schon. Alles schmilzt. Nicht nur das Eis, sondern auch der Permafrostboden darunter. Spitzbergen galt immer als Polarwüste. Heutzutage regnet es manchmal wochenlang. In den sieben Jahren, die ich schon hier lebe, habe ich richtig gemerkt, wie die Gletscher kleiner werden – und das nicht nur von Jahr zu Jahr, sondern teilweise von Monat zu Monat. Es besteht kein Zweifel daran, dass der Klimawandel hier ein ernsthaftes Problem ist.

In Longyearbyen gibt es kaum mehr Platz zum Leben. Das liegt auch daran, dass Lawinen immer häufiger Häuser unbewohnbar machen. Dazu kommt, dass die Häuser hier traditionellerweise auf Pfählen gebaut sind, die in den Permafrostboden geschlagen werden. Aber der schmilzt jetzt.

Was sind deine Pläne für die Zukunft?
Ich habe sieben Jahre quasi durchgearbeitet und auf meinen Touren ganz Spitzbergen gesehen. Zeit für mich selbst oder für noch längere Entdeckungstouren hatte ich nie. Jetzt habe ich mir ein Stahlboot gekauft und will damit mehr alleine segeln. Ich liebe es, allein zu sein und Entscheidungen nur für mich zu treffen. Und wenn ich doch mal Lust auf andere Menschen habe, lege ich einfach im nächsten Hafen an.

Um Spitzbergen noch intensiver zu erfahren, muss ich allein sein. Mein Traum ist es, im Winter auf dem Boot eingefroren zu sein. So kann ich die Dunkelheit so intensiv wie nur möglich wahrzunehmen. Und so kann ich weit weg von allem sein und mich auf die Dinge konzentrieren, für die ich sonst keine Zeit habe: die Fragen, die mir Kopfzerbrechen bereiten, und die Bücher, die ich lesen will. Ein Winter ohne Ablenkung. Spitzbergen wird für immer mein Zuhause sein.

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