Menschen

Bin ich ein schlechter Mensch, wenn ich meine Freunde im Corona-Lockdown nicht vermisse?

"Videochats gehen mir auf die Nerven, lasst mich in Ruhe" – ein Psychologe erklärt, was hinter diesem Gedanken steckt und was dagegen hilft.
Vincenzo Ligresti
Milan, IT
Eine Illustration zeigt einen jungen Mann vor seinem Laptop in einer Videokonferenz
Illustration: Matteo Dang Minh

Seit Kurzem sind Gruppen-Videochats das neue Ding. Kein Wunder, du kannst deiner Mutter und deinem kleinen Bruder gleichzeitig nah sein, du kannst mit Freunden oder Fremden "feiern" und etwas trinken. Auch im Corona-Lockdown, einfach von zu Hause aus. Ich persönlich hab darauf keinen Bock. Jedes Mal, wenn ich so einen Chat verlasse, fühle ich mich danach schlechter als davor. Alles wirkt belanglos und ich habe Kopfschmerzen, die ich vorher nicht hatte.

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Wenn ich verschiedene Stimmen hören möchte, kann ich auch einfach in meinen Kopf reinhorchen. Da ist schon genug los. Gut, das ist vielleicht etwas übertrieben, aber dennoch frage ich mich: Bin ich ein schlechter Mensch, weil ich meine Freunde während des Corona-Lockdowns nicht so sehr vermisse wie gedacht? Der Psychologe Gianluca Franciosi hat mir darauf Antworten gegeben.


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"Am Anfang des Lockdowns haben sich viele Menschen noch total über Gruppen-Videochats gefreut", sagt Franciosi. Die hätten ihnen geholfen, mit der "neuen Normalität" klarzukommen. Dann hätten sich die Gruppenchats allerdings erst zu einer Art Lückenfüller entwickelt, dann zu einer weiteren Tagesaufgabe – und damit zu einem potenziellen Stressfaktor.

Laut dem Psychologen kann die virtuelle Kommunikation das Treffen von Freunden im echten Leben nicht ersetzen. "Zwar kann man die Gesichter und die Mimik und Gestik der Freunde sehen, aber es ist trotzdem unmöglich, ihnen körperlich nahe zu sein oder sie zu berühren", sagt Franciosi. Und dann sei da noch das Gefühl, dass alle einen ständig beobachten würden – ja, sogar man selbst starre häufig auf das eigene Bild. "Wenn man richtig mit Freunden ausgeht, kann man zuerst mit zwei Personen reden, sich dann einer anderen kleinen Gruppe widmen, und dann noch einer anderen. So kommt es einem nicht so vor, als ob einen jeder ständig beobachtet", sagt Franciosi.

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Selbst Unterhaltungen mit geliebten Menschen können laut Franciosi nach einer Weile anstrengend werden, wenn sie ausschließlich virtuell stattfinden. "Derzeit laufen die meisten Tage gleich ab. Auch in den Nachrichten hört man kaum Neues. Vielleicht gibt es deswegen nicht viel, was man sich zu erzählen hat", sagt er. Dass es häufig zu technischen Problemen kommt – schlechte Verbindungen, hängende Bilder, unverständliche Audioqualität und so weiter – hilft sicherlich auch nicht. Es ruiniert den Moment. "Mag sein, dass es einen am Anfang nicht so stört", sagt Franciosi, "aber mit der Zeit wird es immer nerviger."

Der Psychologe rät deshalb, einen neuen Blickwinkel auf die Situation einzunehmen: Wenn man jemanden nicht vermisst, sei das nicht zwingend ein Zeichen der Unreife, so Franciosi; und auch der Wunsch, alleine zu sein, mache einen nicht direkt eigenständig: "Sozialer Kontakt ist wichtig für uns. Aber wir dürfen das Ganze trotzdem an unsere Bedürfnisse während eines bestimmten Zeitraums anpassen." Das Verlangen nach weniger Gesellschaft sei ein Ruf nach Erholung von den ersten Wochen des Lockdowns, in denen wir vielleicht sogar öfter miteinander gesprochen haben als sonst, aber nicht unbedingt besser.

Zum Abschied hat Gianluca Franciosi noch eine tröstende Botschaft für mich: Der Psychologe glaubt nicht, dass ich meine geliebten Menschen wirklich nicht vermisse. Meine derzeitige Abneigung richte sich nicht gegen die Freundschaften selbst, sondern gegen die widrigen Umstände, an die sie sich anpassen müssen. Damit das gelingt und ich meine Liebe weiter pflegen kann, schlägt Franciosi vor, für neuen Gesprächsstoff zu sorgen – wenn ich das denn wolle. Meine Freunde und ich könnten ja die gleichen Filme anschauen, uns auf eine sportliche Challenge einigen oder die gleichen Artikel und Bücher lesen.

Ansonsten bliebe mir nur, auch mal Nein zu sagen. Dass sei laut Franciosi zwar derzeit schwieriger als sonst, aber zum Wohle der eigenen psychischen Gesundheit müsse man es trotzdem tun, wenn nicht anderes hilft.

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