Politik

Abtreiben sollte für Ärzte eine Pflicht sein!

Eine Blinddarm-OP dürfen Ärztinnen auch nicht aus "Gewissensgründen" ablehnen
Abtreibung sollte Pflicht sein, ein Schwangerschaftstest wird in zwei Händen gehalten, dahinter ein Gesetzestext zum Paragraphen 218
Bilder: imago images  | Westend61 |suedraumfoto | Montage: VICE

Wer als Ärztin in Deutschland Abtreibungen anbietet, macht sich das Leben zur Hölle. Wenn man Glück hat, campieren nur radikale Christen vor der Praxis und belästigen Patientinnen. Wenn man Pech hat, wird man von einem gelangweilten Mathestudenten und einem rechten Rentner mit Strafanzeigen terrorisiert. Auf diese beiden gehen in Deutschland hunderte Anzeigen nach dem Paragrafen 219a zurück.

Wenn du also Abtreibungen anbietest, landet deine Adresse auf Listen im Internet und einmal im Jahr demonstrieren 8.000 Menschen dagegen, dass du einfach nur deinen Job machst. Dazu kommt: Schwangerschaftsabbrüche hast du im Medizinstudium gar nicht gelernt, sie werden nicht von der Krankenkasse bezahlt und sind außerdem eigentlich verboten. Wer will schon etwas anbieten, was im Strafgesetzbuch geregelt wird? Irgendwie verständlich also, wenn man als frischgebackener Gynäkologe lieber in Ruhe Babys auf die Welt bringt, Brustkrebs kuriert – und dafür geliebt wird.

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Immer weniger junge Medizinerinnen und Mediziner wollen Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Die, die es tun, seien oft 60 Jahre und älter, sagte Baden-Württembergs Sozialstaatssekretärin Bärbl Mielich von den Grünen neulich der taz.

Das ist ein Problem. Und es gibt nur eine Lösung dafür: Abtreibungen müssen für Ärzte Pflicht werden.

Mielich und die baden-württembergische Landesregierung prüfen gerade eine solche Pflicht zu Schwangerschaftsabbrüchen für Ärzte an staatlichen Unikliniken. Denn der Staat hat die Verantwortung, seine Bürger medizinisch zu versorgen – auch, wenn es Frauen sind.


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Das zeigt ein Vergleich: Was, wenn ich meinen Blinddarm loswerden will, aber in meinem Umfeld weigern sich alle Praxen, den Eingriff durchzuführen? Wenn die Ärzte sagen: Lohnt sich nicht, keine Lust auf Stress, moralische Bedenken? Das klingt absurd und kann zum Glück nicht passieren. Denn dass sich Ärzte weigern dürfen zu helfen, ist ziemlich selten.

Das "Weigerungsrecht" bei Abtreibungen gibt es seit 1974. Ausnahmen sind Fälle, in denen es um Leben und Tod geht oder eine schwere Gesundheitsschädigung. Das Recht gilt auch für Krankenschwestern und Hebammen oder ganze Krankenhäuser. Das führt dazu, dass es an vielen Orten in Deutschland keine Kliniken gibt, die Abtreibungen durchführen.

Das ist eigentlich illegal. Nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz ist der Staat verpflichtet, ein ausreichendes Angebot ambulanter und stationärer Einrichtungen für Schwangerschaftsabbrüche sicherzustellen. Gibt es nicht genügend, muss er eigene Einrichtungen schaffen. Eigentlich.

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Denn die Bundesregierung findet, die Länder müssten selbst entscheiden, ob sie genügend Abtreibungskliniken haben. In Bayern meint man: Passt schon! Dabei gibt es in Niederbayern nur einen einzigen Arzt, der Abtreibungen anbietet. Der ist mit 71 Jahren eigentlich schon lange in Rente. Statt zu gärtnern, führt er immer noch Abtreibungen durch, und muss sich als Mörder beschimpfen lassen.

Abtreibungsgegner hassen den Blinddarm-Vergleich. Ein Embryo sei ja wohl kein nutzloses Darmstück! Aber schaut man in andere europäische Länder, ist Schwangerschaftsabbruch genau so geregelt – eben wie andere Eingriffe: Unaufgeregt und unemotional, als medizinisch notwendiges Angebot.

In italienischen Kliniken winken Ärzte mit Bibeln

In Schweden ist Abtreibung ein Pflichtmodul im Medizinstudium. In Griechenland droht Ärzten, die in ländlichen Regionen arbeiten und eine Abtreibung verweigern ein Disziplinarverfahren und Schadensersatzansprüche. In Norwegen darf eine Klinik keine Abtreibung verweigern, wenn die Schwangere gerade kein Cash zur Hand hat (erstattet wird sie sowieso).

Natürlich gibt es auch das Gegenteil. Was passiert, wenn die gesellschaftliche Ächtung von Schwangerschaftsabbrüchen auf die Spitze getrieben ist, zeigt sich in Italien. Aktivistinnen berichten von einer Art Corpsgeist unter Gynäkologinnen und Gynäkologen. In vielen Regionen bietet kein einziger Arzt mehr den Eingriff an.

Frauen berichten von "mittelalterlichen" Szenen, in Kliniken wurde ihnen mit Bibeln gewunken, die Abtreibungspille mussten sie ohne ärztliche Unterstützung auf der Toilette einnehmen. Derzeit läuft in Sizilien ein Prozess wegen Totschlags gegen sieben Ärzte. Wie die Financial Times berichtet, wurde die 32-jährige Valentina Milluzzo im fünften Monat mit Komplikationen ins Krankenhaus eingeliefert. Dort weigerten sich die Ärzte aus moralischen Gründen, die Schwangerschaft zu beenden, denn die Herzen der Zwillingsbabies schlugen noch. Milluzo starb an einer Sepsis.

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Her mit der Abtreibungspflicht!

Ein Tag – so lange darf laut einer Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts von 1993 die Anreise zur Abtreibung dauern. Dabei ist sogar das schon viel zu lang. Wer betreut in dieser Zeit die Kinder? Wie erklärt man dem Arbeitgeber den Fehltag – den das vielleicht gar nichts angeht? Was passiert, wenn ich mir die Bahnfahrt nicht leisten kann, meine Eltern nichts von der Schwangerschaft wissen dürfen, wenn niemand bereit ist, mich auf dem Rückweg zu stützen?

All das dürfen staatliche Ärztinnen unter Berufung auf ihr Gewissen einfach beiseite wischen. Dabei ist es nicht ihr Gewissen, das in diesen Momenten zählt – sondern das der Schwangeren.

Ist die breite Versorgung mit Ärztinnen an Unikliniken gesichert, dürfte sich einiges bessern: Die wenigen Praxen sind nicht mehr überlastet und der emotionale Druck und logistische Stress für die betroffenen Frauen sinkt – und idealerweise auch das gesellschaftliche Stigma. Bleibt das Problem, dass sich staatliche Ärzte im richtig großen Stil strafbar machen würden. Spätestens dann wäre es höchste Zeit, den Paragrafen 218 abzuschaffen – und Schwangerschaftsabbruch endlich zu legalisieren.

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