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Der VICE Guide to Geistige Gesundheit

Das Leben, der Tod und die Rückkehr der Irrenanstalt

Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass die „Irrenasyle" der USA nach schrecklichen Misshandlungsfällen schließen mussten. Psychisch Kranke landeten auf der Straße, wenn nicht im Gefängnis. Jetzt wollen einige Experten die alten Anstalten zurück.

1841 betrat eine Frau namens Dorothea Dix das Gefängnis von East Cambridge, Massachusetts, um den weiblichen Insassen Sonntagsunterricht zu geben—und war entsetzt von dem, was sie dort vorfand. Unter den Kriminellen befanden sich, was sie als „Idioten und verrückte Personen" bezeichnete, Menschen, die misshandelt wurden und in Zellen, die nicht für ihre Unterbringung geeignet waren, vor sich hin vegetierten. Obwohl Frauen damals weder wählen noch politische Ämter bekleiden konnten, begann Dix einen politischen Kreuzzug für die Rechte der psychisch Kranken.

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Sie reiste durch die Gefängnisse und Armenhäuser des Bundesstaats, wo sie immer wieder auf Beispiele geistig verwirrter Menschen traf, die in Käfige eingesperrt oder angekettet waren, geschlagen wurden, jahrelang in Isolationshaft saßen oder von ihren Betreuern auf grausame Weise vernachlässigt worden sind. In einem Armenhaus in Newburyport fand sie eine Frau, die in einem winzigen Keller unter der Treppe weggeschlossen worden war, und einen Mann, der neben einem „Totenzimmer" wohnte, wo man die Leichen aufbewahrte. Sie schrieb all dies in einer „Mahnnotiz" nieder, die sie 1843 an die Legislative von Massachusetts übersandte, und in der sie einen „Zufluchtsort für diese Klasse, die Unheilbaren," forderte, "an dem im gegenseitigen Widerspruch stehende Zweckbestimmungen nicht weiter zu derlei Beispielen der Entbehrung und des Leidens führen werden."

Dix befand sich an der Spitze der ersten Reformwelle auf dem Feld der psychischen Gesundheit, und forderte, dass Kranke nicht länger wie Tiere, sondern auf menschlichere Weise behandelt werden würden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Anstalten—viele von ihnen von den Schriften Thomas Story Kirkbrides inspiriert—gebaut, um den psychisch Kranken bessere Zufluchtsorte zu bieten. „Es gibt genügend Gründe, warum jeder Staat hinreichend dafür sorgen sollte, dass alle Geisteskranken innerhalb der Staatsgrenze nicht nur die nötige Fürsorge erhalten, sondern auch die aufgeklärteste Behandlung erfahren," schrieb Kirkbride in seiner 1854 erschienenen einflussreichen Arbeit On the Construction, Organization, and General Arrangements of Hospitals for the Insane („Über den Bau, die Organisation und die allgemeine Ausgestaltung von Krankenhäusern für Geisteskranke"). „Die schlichte Anerkennung unserer geteilten Menschlichkeit […| sollte jeden Staat dazu verpflichten, großzügige Vorkehrungen für einen jeden seiner Menschen zu treffen."

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Dieses Ideal einer „aufgeklärten Behandlung" verfiel im Laufe des folgenden Jahrhunderts allerdings zusehends. Die Anstalten wurden zu überfüllten Horrorkabinetten, in denen psychisch kranke Menschen über Jahre weggesperrt und mit Elektroschocks und Lobotomien „behandelt" wurden. Der Begriff der „Schlangengrube" kam auf, nachdem ein Film von 1948 über die grauenvollen Erfahrungen einer Frau in einer Nervenheilanstalt berichtet hatte. In den frühen 60ern begann eine neue Welle von Reformern Forderungen für die Schließung eben jener Institutionen zu formulieren, wie sie die frühen Fürsprecher geistig Kranker, wie sie Kirkbride und Dix einstmals gefordert hatten. Die Argumente waren klar und einfach: Menschen in Anstalten festzuhalten war teuer und unmenschlich, und es war nun, dank neuer Drogen auch nicht mehr nötig—allen vor Chlorpromazin, das Menschen mit Psychosen beruhigen und ihnen ein einigermaßen normales Leben ermöglichen sollte.

In einem als „Deinstitutionalisierung" bezeichneten Prozess entließen die Nervenkliniken in großem Maßstab Patienten. Das war in vieler Hinsicht ein großer Erfolg, weil es Tausende psychisch Erkrankter aus ihren erdrückenden institutionellen Umfeldern herausholte. Tatsächlich führt heute die große Mehrheit der psychisch Erkrankten ein normales Leben, ohne für längere Zeiträume eingewiesen werden zu müssen, auch wenn viele der auf dem Feld psychischer Gesundheit Tätigen sagen, dass dieser Prozess zu weit gegangen und nichts entwickelt worden sei, um die alten Schlangengruben zu ersetzen. Diese Ansicht hat eine neue Welle von Reformern auf den Plan gerufen— die der Meinung sind, dass es an der Zeit sei, die Anstalten zurückzuholen.

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Ein Foto des Bryce Hospital in Tuscaloosa, Alabama, von 1907, eine der vielen Einrichtungen, die aufgrund der Pläne von Kirkbride erbaut wurden. Foto über Wikicommons

Heute sind die Probleme des US-Systems der Behandlung psychisch Kranker jedem klar, der, wie es Dorothea Dix vor 174 Jahren tat, ein Gefängnis betritt, oder ein Straße aufsucht, die Treffpunkt von Obdachlosen ist. In New York ist es unter den psychisch kranken Insassen von Rikers Island zu Auseinandersetzungen gekommen, bei denen sie von Wärtern geschlagen wurden; im Bundesstaat Washington sagte ein Gefängnispsychiater der Seattle Times 2013, dass 20 bis30 Prozent der Insassen psychisch krank wären, und in Alabama und Minnesota haben Kürzungen der Budgets zu schweren Engpässen bei Betreuungseinrichtungen geführt. Das Problem ist im ganzen Land dasselbe: Es gibt keine ausreichende Pflege für psychisch schwer Kranke, die nicht in der Lage sind, sich um sich selbst zu kümmern und infolgedessen auf der Straße landen.

Laut eines Artikels der USA Today vom letzten Jahr schätzt das Department of Housing and Urban Development, dass von den 610.000 in den USA lebenden Obdachlosen 124.000 an psychischen Erkrankungen leiden. Anfang dieses Monats ist auf VICE News ein Videobericht erschienen, in dem es um den mutmaßlich „momentan größten psychosozialen Dienstleister der Vereinigten Staaten ging": Das Cook County Jail in Chicago, wo rund 30 Prozent der 9000 Insassen psychisch krank sind. Diese Konzentration in den Gefängnissen ist von Kürzungen im Bereich der staatlichen und städtischen psychosozialen Vorsorge verschärft worden; was, wie der Sheriff von Cook Count, Tom Dart, VICE News berichtete, dazu führt, dass viele zwischen dem Leben auf der Straße und dem Gefängnis hin und her wechseln.

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Unser Video zeigt einen jungen Mann mit einer bipolaren Störung, der sich in seiner Zelle zusammengekauert hat, nachdem er von einem psychologischen Betreuer wegen Selbstmordgefährdung unter Beobachtung gestellt worden war. So kümmert sich wenigstens überhaupt jemand um ihn—aber es ist schwer vorstellbar, dass so jemand wirklich hinter Gitter gehört. „Ich hätte mir ganz ehrlich nicht vorstellen können, dass eine umsichtige Gesellschaft es für richtig halten könnte, Leute so zu behandeln," sagte Dart dem Vice News-Korrespondenten Danny Gold.

Es gab auch keinen exakten Moment, zu dem beschlossen worden wäre, dass so große Teile der Betreuung psychisch Erkrankter von den Gefängnissen und Haftanstalten übernommen werden sollte. Wie viele langfristige Veränderungen offizieller Vorgehensweisen, die sich rückblickend als Fehler herausstellen, war auch die Deinstitutionalisierung das Ergebnis partieller Entscheidungen auf unterschiedlichen Regierungsebenen über einen langen Zeitraum hinweg: gute oder zumindest gut gemeinte Maßnahmen, die in ihrer Gesamtheit zu einer Katastrophe geführt haben.

Die Belegung psychiatrischer Anstalten erreichte in den USA 1955 mit 558.000 Insassen ihren Höhepunkt. Seitdem hat eine Abfolge verschiedener Maßnahmen die Zahl von Patienten in staatlichen psychiatrischen Krankenhäusern auf 45.000 reduziert. Einer der wichtigsten dieser Schritte, der Community Mental Health Act von 1963 versprach, dass 1500 kleinere psychiatrische Gesundheitszentren geschaffen werden würden—was daraufhin nie passiert ist. „Das Programm wurde weder von der US-Regierung noch von den einzelnen Bundesstaaten je ausreichend gefördert," sagte Paul Appelbaum, Professor an der Columbia University und jahrelanger Kritiker der Deinstitutionalisierung auf Anfrage von VICE. „Seither ist ein Flickenteppich von Programmen geschaffen worden, der nie ausreichend war."

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Ein weiteres Problem ist laut Appelbaum, dass die „Verfechter der Deinstitutionalisierung ihre Ideologie über ihr besseres Wissen stellten. Ausgehend von der Annahme—die absolut richtig ist—dass viele Menschen mit psychischen Erkrankungen keiner langfristigen stationäre Behandlung bedürfen, schlossen sie, dass fast niemand eine solche dauerhafte Betreuung bräuchte." Im Laufe der Jahre haben viele Psychiater und andere Fachleute die Befürchtung geäußert, dass die Deinstitutionalisierung zu schnell und zu weit gegangen sei. Schon 1974 veröffentlichte die American Psychiatric Association ein Positionspapier, in dem sie ihrer Sorge Ausdruck verlieh, dass Patienten „ohne genügende Vorbereitung" entlassen werden, „was dazu führt, dass sie unter ungenügenden und unwürdigen Bedingungen zu leben gezwungen sind."

1981 brandmarkte ein Artikel der New York Times die Deinstitutionalisierung als „eine grausame Peinlichkeit, eine tragisch fehlgeleitete Reform," da die psychisch Kranken außerhalb der Anstalten nicht hinreichend versorgt werden würden. Selbst, als die Probleme psychisch kranker Obdachloser in den 80er Jahren mehr und mehr Medienaufmerksamkeit bekamen, tat die Reagan-Regierung wenig, um sie zu lindern, und verlagerte stattdessen die Verantwortung für die Finanzierung und den Unterhalt psychosozialer Pflegeeinrichtungen in den Verantwortungsbereich der Bundesstaaten.

Manche zweifeln an der verallgemeinernden Behauptung, dass die Deinstitutionalisierung an sich dazu geführt habe, dass psychisch Kranke in Gefängnissen oder auf der Straße gelandet sind. Mark Salzer, ein Psychologe und der Vorsitzende der Fakultät für Rehabilitationswissenschaft an der Temple University, sagte VICE, dass der Anteil psychisch Kranker in den Gefängnissen erst in den 80er Jahren – also Jahrzehnte nach Beginn der Deinstitutionalisierung – gestiegen sei. Das Problem sei eher, dass der „War on Drugs" und ähnlich brachiale Rechtsverfolgungsstrategien die Inhaftierungsrate von Drogenabhängigen und Armen in die Höhe getrieben hätten. „Die Polizei nimmt alle fest, die bestimmte Dinge tun," sagt Salzer. „Es liegt nicht nur daran, dass sie psychische Probleme haben."

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Die Probleme, mit denen sich die psychisch Kranken konfrontiert sehen, haben sich durch die Finanzkrise noch verschärft, auf die viele Bundesstaaten mit drastischen Kürzungen ihrer Ausgaben reagiert haben. Verschiedene Experten sind der Meinung, dass diese Art Budgetkürzungen in Wirklichkeit zu keinerlei finanziellen Einsparungen führen, da die Kosten der Behandlung psychisch Kranker in Nothilfeeinrichtungen und ihrer Verwahrung in Gefängnissen genauso hoch sind. Die traurige Wahrheit ist, dass es bislang an politischem Willen mangelt, Programme zu fördern, die helfen könnten. „Psychisch Kranke sind mehr oder weniger der Teil der Bevölkerung, der am wenigsten gehört wird—von ein paar wenigen großartigen verbleibenden Interessengruppen einmal abgesehen," sagte Sheriff Tom Dart VICE News.

„Das war die ursprüngliche Bedeutung des psychiatrischen ‚Asylums' – einSchutzort, wo psychisch Kranken Sicherheit, Zuflucht und langfristige Betreuungzugesichert wird." – Dominic Sistier

Diesen Januar erschien im Journal of the American Medical Association ein Meinungsartikel mit dem Untertitel „Bring Back the Asylum" („Bringt die Anstalten zurück"). Darin argumentieren der Bioethiker Dominic Sisti aus Pennsylvania und seine Mitautoren, dass es an der Zeit sei, zu der Art Reformen zurückzukehren, wie sie einst von Dorothea Dix vorgeschlagen worden waren: Statt psychisch schwer Kranke und Bedürftige in Gefängnissen zu versorgen, sollten wir neue Krankenhäuser bauen, wo die Wenigen, die auf eine stationäre Behandlung und strukturierte einrichtungsbasierte Betreuung angewiesen sind, diese auch erhalten. „Das war die ursprüngliche Bedeutung des psychiatrischen ‚Asylums' – ein Schutzort, wo psychisch Kranken Sicherheit, Zuflucht und langfristige Betreuung zugesichert wird," schrieben die Autoren. „Es ist an der Zeit, sie wieder zu bauen." Dies wären hochmoderne Einrichtungen mit hochausgebildeten Angestellten, sagte Sisti VICE—keine Lobotomien, keine Schlangengruben. Dass das englische Wort asylum auf die Ideale der Quaker zurückginge, die seiner Meinung nach darin bestünden, „den Individuen mit psychischen Erkrankungen mit grundlegendem Respekt zu begegnen, sie als Menschen mit Würde zu behandeln und ihnen die Sicherheit und Zeit zu geben, die sie brauchen, um wieder Kontrolle über ihr Leben zu erlangen."

Der Artikel führte in Fachkreisen zu kontroversen Auseinandersetzungen. Psychology Today und die New York Times veröffentlichten Meinungsartikel, die der Idee von mehr Anstalt-ähnlichen Einrichtungen prinzipiell positiv gegenüberstanden, was wiederum zu einer Reihe Leserbriefe an die Times führte, von denen einige Skepsis äußerten, dass die Behörden in Zeiten knapper finanzieller Mittel willig oder fähig wären, psychiatrische Kliniken zu erbauen, die nicht von exakt denselben Problemen geplagt würden, unter denen die letzte Generation der Anstalten gelitten habe. „Jeder, der sich mit ihrer Geschichte auskennt, oder ihre Eigenarten versteht, wird sich bewusst sein, dass die ‚Asyle' ihrer ursprünglichen Aufgabe nicht gerecht werden können," schrieb Mark Salzer in einer Gegenschrift auf Philly.com. „Sie waren nie wohltuende Häfen der Heilung und sie werden es auch nie sein können." Und selbst, wenn es klar wäre, dass mehr psychiatrische Krankenhäuser gebraucht werden, wüsste man weder wie viele benötigt werden, noch—was noch wichtiger ist—wo das Geld herkommen sollte, um sie zu bauen. Das tieferliegende Problem, ist, dass die Gesundheitseinrichtungen im Land unterfinanziert und wahllos verstreut sind.

„Vielleicht brauchen wir, mehr als alles andere, eine Vision," sagte Paul Appelbaum, „also einen umfassenden Plan für ein integriertes System der Behandlung psychischer Erkrankungen, das die Bundesstaaten und die Regierung dann unterstützen und Stück für Stück umsetzen können." Wie würde ein solches System aussehen? Es könnte Polizisten umfassen, die speziell dafür ausgebildet wären, mit psychisch Kranken umzugehen—in einem Programm, das in San Antoino bereits mit einigem Erfolg umgesetzt worden ist. Es könnte Zentren beinhalten, in die man psychisch Kranke schicken könnte, statt sie in Gefängnissen zu verwahren. Es würde den psychisch Kranken helfen, ihren Alltag zu verbessern, wenn man ihre Verbindung zu ihrem sozialen Umfeld stärken würde. Salzer ist jedenfalls der Meinung, dass die USA sich ein ganzheitlicheres Model der psychischen Gesundheit zu eigen machen müssten, eines, dass den Kranken helfen würde, verbreitete Probleme wie Armut, Isolation und Arbeitslosigkeit zu überwinden. „Wenn man es mit vielen Arbeitslosen zu tun hat und man dann nichts dagegen tut, verpasst man eine großartige Behandlungsmöglichkeit," sagte Salzer.

„Es geht nicht nur um Medikamente, es geht nicht nur um die Einzelfallbetreuung, es geht nicht nur um Krankenhäuser."