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Ein Schweizer Psychotherapeut erklärt, wieso uns das derzeitige Regenwetter deprimiert

"Wir sehen uns oft als Opfer unserer Emotionen. Das stimmt zu einem erheblichen Mass nicht."
Collage von VICE Media | Bild von Google Weather

"Im vergangenen Monat machte sich die Schweiz als Schüttstein Europas einen Namen", lautet das ernüchternde Fazit von meteonews.ch zum sonst als Romantiker unter den Monaten bekannten Mai. In Zürich etwa tropfte rund 60 Prozent mehr Regen auf den Asphalt wie im sonstigen Monatsdurchschnitt. Den Regen bezeichnen wir auch gerne als "schlechtes Wetter". Er sorgt dafür, dass Bäche zu reissenden Flüssen werden. Dass Bauern ihre Ernte verlieren. Und dass—was uns in unserem 0815-Alltag wohl am meisten betrifft—wir sehr viel dafür geben würden, keinen Fuss vor die trockene Wohnung setzen zu müssen.

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Kaspar Aebi, ein Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie SGPP, hat mir näher gebracht, wieso wir Regen als etwas Schlechtes ansehen. Ich habe mit ihm darüber gesprochen, wieso die derzeitige Schlechtwetterfront auf unsere Stimmung drückt, was unsere Bekannten damit zu tun haben und wofür die Fussball-EM neben schlafraubenden Hupkonzerten noch gut sein kann.

VICE: Guten Tag Herr Aebi, inwiefern merken Sie als Psychotherapeut etwas vom momentanen Regenwetter?
Kaspar Aebi: Auf der einen Seite merke ich bei mir selbst, dass ich mich nicht sonderlich freue, wenn es ständig regnet. Auf der anderen Seite merke ich auch bei den Patienten eine Veränderung, aber auf ganz verschiedene Arten. Es gibt Patienten, die bei schlechtem Wetter sogar besser gestimmt sind als bei Sonnenschein und heiterem Wetter. Das lässt sich vor allem bei Depressiven beobachten und ist dadurch erklärbar, dass das schlechte Wetter alle dazu veranlasst, ihre Flügel hängen zu lassen. Depressive sind bei schlechtem Wetter eher unter ihresgleichen als bei schönem Wetter, das alle euphorisch werden lässt.
Bei schönem Wetter vergrössert sich quasi die Differenz zwischen der Stimmung der Gesunden und der Depressiven. In Skandinavien passieren daher mehr Suizide in den Sommermonaten, während denen es länger hell ist als in den Wintermonaten—und Suizide sind quasi die extremste Konsequenz einer Depression.

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So sieht Kaspar Aebi aus, wenn er im Trockenen sitzt und skypt | Screenshot vom Autor

Wenn also bei Regenwetter depressive Symptome auftreten, ist das hauptsächlich durch das Licht bedingt?
Das Licht spielt vor allem bei Stimmungsveränderungen mit Krankheitswert oft eine wesentliche Rolle.
In Bezug auf die allgemeine Befindlichkeit, auch von Gesunden, spielen zudem andere Faktoren eine Rolle. Ich denke etwa, dass jüngere Menschen zwischen 10 und 30 Jahren subjektiv schlechter gelaunt sind, wenn es dauernd regnet. Sie sind relativ häufig draussen und viele ihrer sozialen Kontakte finden dort statt. Bei Regen findet das Leben weniger draussen statt und dementsprechend nehmen auch die sozialen Kontakte ab.
Es gibt auch Studien, die untersuchen, wie erfolgreich Flirt-Versuche bei Sonnenschein und bei Regenwetter sind. Da ergibt sich eine Differenz von 10 bis 15 Prozent, um die man bei Sonnenschein erfolgreicher sei.

Wenn ich am Morgen aufwache, schaue ich jeweils als erstes zum Fenster hinaus und sehe, wie das Wetter ist. Bei schlechtem Wetter merke ich, dass ich grundsätzlich schon träger bin. Ist das eine typische Reaktion?
Das ist unter gesunden Leuten ein allgemein beobachtbares Phänomen. Wenn es draussen regnet, man die Tropfen hört und bei einem Blick aus dem Fenster alles grau ist, kann man sich sehr viel besser vorstellen, im Bett liegenzubleiben.
In diesem Zusammenhang gibt es eine interessante Studie der Uni Zürich. Diese hat untersucht, wie erfolgreich Prüfungen nach einer Regen- und einer Sonnenperiode abgeschlossen werden. Es ist eindeutig so, dass nach einer Regenperiode Prüfungen erfolgreicher geschrieben werden als nach Sonnenperioden. Das liegt daran, dass die Studenten bei schönem Wetter an Dinge denken, die sie draussen machen könnten und dadurch entweder abgelenkt werden oder schlicht und einfach öfters draussen sind. Das Regenwetter kann also auch Vorteile haben.

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Ein Sommergewitter empfinden wir trotz Regen und düsterer Stimmung allgemein als etwas Schönes. Kann man sagen, wie lange eine Regenperiode sein muss, damit sie auf unser Gemüt schlägt?
Es ist so, dass lange Regenperioden mit ein Faktor sein können, zu Depressionen neigende Personen in eine Depression zu bringen. Depressionen sind multifaktoriell bedingt, etwa genetisch oder durch die derzeitige Lebenssituation. Regnet es draussen ständig, fallen die protektiven Faktoren von beispielsweise sozialen Kontakten teilweise weg. Da kann der Regentropfen jener Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Generell erleben wir Wechsel, etwa wenn ein warmer Sommertag durch ein entlastendes Gewitter abgelöst wird, als etwas Positives—insbesondere wenn am nächsten Morgen der Himmel wieder blau ist. Bei länger andauernden Regenperioden, wie wir jetzt eine erleben, fehlt dieser Effekt und der Regen wird zu einer Belastung.
Wir heizen diesen Effekt auch gegenseitig an, indem wir uns über das Wetter beschweren. Dadurch entsteht ein depressiver Groove, der übertragbar ist. Wir schwingen mit dem Groove mit und die Stimmung sinkt ständig etwas mehr. Fehlt uns die Voraussetzung, depressiv zu werden, werden wir zwar nicht depressiv—aber haben, im Strassen-Slang ausgedrückt, einen Anschiss.

Foto von Pixabay

Also wird die Schweiz momentan von einem depressiven Groove erfasst?
Das könnte man so formulieren, wenn damit nicht die Krankheit der Depression im engeren Sinn gemeint ist. Gehen Sie zum Beispiel in ein Kleidergeschäft und fragen dort, wie sich die Einkäufe entwickeln. Die Einkäufe gehen zurück—und das liegt sicherlich nicht nur daran, dass wir weniger draussen sind und dementsprechend weniger an Geschäften vorbeigehen. Es ist einfach so, dass auch die Kauflust sinkt. Die Neigung, proaktiv zu sein, nach vorne zu gehen und eine positive Perspektive auf die Zukunft zu haben, wird durch solche Perioden des Dauerregens sicherlich eingedämmt.

Aktuell findet gerade noch die Fussball-EM statt, die grundsätzlich eine euphorische Stimmung mit sich bringt. Viele der Public Viewings sind im Freien und werden durch das Wetter beeinflusst. Inwiefern lassen sich die Public Viewings in den Zusammenhang zwischen dem Regen und unserer Stimmung einordnen?
Es ist erstaunlich, wie begeisterungsfähig grosse Gruppen von Menschen in solchen Situationen sein können, etwa auch am Greenfield-Festival, das kürzlich stattfand. Es regnete, alles war nass, stinkend und dreckig aber die Leute dort haben sich die Stimmung nicht vermiesen lassen. Sie dachten eher: Jetzt erst recht!
Ich denke, in grossen Gruppen und vergnüglichen Situationen kann ein innerer Widerstand und Kampfeswille stimuliert werden, sich die Stimmung nicht durch den Regen vermiesen zu lassen. In einer Rekrutenschule hingegen wird dieser Kampfeswille weniger vorhanden sein. Dort ist das Draussensein nicht mit Vergnügen verbunden, sondern eher mit einer Leistung oder einer Anstrengung. Der Regen wirkt dann wohl eher doppelt belastend.
Der Umgang mit dem Wetter hängt also sehr vom Kontext ab, in dem einen das schlechte Wetter begegnet. Bei einem Public Viewing kann ich mir gut vorstellen, dass durch den Regen und den Willen, sich die Freude nicht nehmen zu lassen, sogar eine Kraft entsteht.

Wenn man trotzdem bemerkt, dass einem das Wetter bedrückt: Was sind generell Möglichkeiten, etwas dagegen zu tun?
Wir sehen uns oft als Opfer unserer Emotionen. Wir denken, wir werden von ihnen dominiert und können uns nicht gegen sie wehren—egal wie lange wir an etwas Positives denken. Das stimmt zu einem erheblichen Mass nicht. Wenn wir uns ganz bewusst positive Gedanken zu einer Situation machen, die auf den ersten Blick negativ erscheint, beeinflusst das unsere Stimmung positiv und wir sind widerstandsfähiger.
Beim Regenwetter ist eine Möglichkeit sicherlich, ganz bewusst dem Regen zu trotzen—etwa indem man draussen spazieren geht und sich denkt, wie schön nass alles ist und wie gut die Nässe der Vegetation tut. Zu versuchen, positive Gedanken zu formulieren und sich so die positive Seite des Regens bewusst zu machen.
Probieren Sie nur mal, zu lachen. Sie spüren, wie sich ihre Emotion sehr unmittelbar verändert. Das hat etwas damit zu tun, dass wir unsere Emotionen wesentlich über Körpersignale wahrnehmen. Unser Gehirn registriert, dass sich die Mundwinkel nach oben neigen und die Augen sich entsprechend verändern. Dadurch kommt die Botschaft an: Du bist glücklich. Wir haben die Möglichkeit durch sehr einfache, ganz bewusst vollzogene Verhaltensweisen, unsere Stimmung zu beeinflussen. Das reisst uns niemals aus einer schweren Depression—aber für den Durchschnittsverbraucher ist das eine sehr hilfreiche Erkenntnis. Und an was denken Sie, wenn Sie merken, das Regenwetter bedrückt Sie?
Den Blick von einem geschützten, gedeckten Platz aus ins Grüne. Das beruhigt mich. Und ich höre dem Regen auch zu. Das Geräusch des Regens ist ein Geräusch, das ich sehr gerne mag. Sebastian auf Twitter. VICE Schweiz auf Facebook und Twitter.


Titelbild: Collage von VICE Media | Bild von Google-Weather