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Diese Basler Wohnung wurde von psychisch kranken Straftätern gestaltet

Zwei Jahre lang arbeiteten Künstler und psychisch Kranke gemeinsam an diesem Projekt.
Alle Fotos von Jan Sulzer

Du trittst in einen Raum, links von dir ist der Boden mit Eierschalen übersät, rechts sind die Eier noch ganz. Über dir hängen Eier in Kondomen und das Flüssige vom Ei in Raschelsäckchen. Die Wände sind mit hingekritzelten Funfacts zum Fortpflanzungsverhalten von Schnecken übersät. Schnecken hat es auch—lebendige Schnecken.

An diesem Punkt noch gar nicht erwähnt habe ich die Person, die wie Jack Nicholson in The Shining oder Homer Simpson in einer Folge von Treehouse of Horror diese Zimmerwände ursprünglich vollgeschrieben hat: Blassrosa Kleid und geschäftiges Auftreten, blonde Haare—sie schreibt in ihr Notizheft einen einzigen ewigen Schulaufsatz zur Fortpflanzung von Schnecken. Wieso sie das tut? „Weil es das ist, was ich mache." Gute Antwort. Tönt irgendwie wie all die Menschen, die im Kulturbereich arbeiten und im Gegensatz zu Investmentbankern ihr Verhalten nicht mit der Höhe ihres Lohns erklären können.

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Aber natürlich ist das keine abschliessende Antwort, denn sie, der Raum, das Glibbrige der Eier und das Glibbrige der Schnecken sind eine Erarbeitung, eine Collage. Ein Abbild dessen, was Häftlinge in psychiatrischer Behandlung zusammen mit der Gruppe „We Ate Lobster" während zwei Jahren erarbeitet haben.

Das Wirken von echten psychisch Kranken—also nicht die Menstruationsblut-Verliebtheit von Pipilotti Rists Pepperminta—hat in den letzten 100 Jahren mit die bedeutendste Schweizer Kunst hervorgebracht, denn nicht nur Friedrich Glauser hat vor allem in der Psyche geschrieben, auch der nach der versuchten Vergewaltigung einer Fünf- und einer Zwölfjährigen 1895 eingewiesene Adolf Wölfli hat sich befreit von helvetischen Norm und das Verständnis für Normen zu Weltruhm geschrieben, gemalt und komponiert.

Im Ausstellungsführer der Basler Wahnsinns-Wohnung heisst es zum Eierraum:

„Raum 1/ Sublimste Vanitas in jeder Schale"

Die ausgestellten Werke sind:

„-Kalk an Wand. 10m2 x 2m
-Kalk in Schrank. 2m x 1m
-Kalk zwischen Glas. 2m x 1m x 0,50m
-Kalk auf hellem Grund. 5m x 2m
-Kalk an der Leine. 3,2m"

Ja, auch der Wahnsinn hat einen Ausstellungsführer, denn das Eier-Wahn-Shining-Zimmer ist nur eines von sechs „Stillleben" in einer Kleinbasler Wohnung. Bis zu vier Stunden lang kann man hier betrachten, provozieren, erleben, Reize überfluten und überfluten lassen. Das Projekt nennt sich „Komm auf meine Seite" und welche Seite das ist, ist offensichtlich, denn einer der mitgestaltenden Häftlinge lässt sich zitieren mit:

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„Das sieht jetzt so brav aus, aber da steckt eigentlich alles drin, (…) alles was ich von meiner Seite auch gar nicht so erzählen kann" Michi Höllinger, Charcutier

So brav sieht das aber gar nicht aus und es fühlt sich auch überhaupt nicht brav an. Ein Ort, an dem konsequent andere Regeln gelten, versprüht natürlich ein gewisses Unwohlsein: Nach einer Weile legt die von Schnecken und Eiern Getriebene das Notizheft auf den Stapel mit den bereits vollgeschriebenen und zeigt, was es mit den Kondomeiern auf sich hat. Mit einer der Spritzen saugt sie den Inhalt aus dem Ei, dann schwenkt sie Salz, Eigelb und Eiweiss in einem Becher, spritzt das Gemisch zurück ins unbeschadete Ei, danach macht sie ein Pflaster drauf und packt alles zusammen in ein Kondom.

Für ein paar Momente ist sie bereit, ihr Stammzimmer zu verlassen, setzt in der Küche Wasser auf und wirft das verschnürte Kondom-Ei mit in die Pfanne. Ich habe niemanden ein solches Kondom-Ei essen sehen und auch Google-Recherchen zum Schmelzpunkt von Kondomen bleiben erfolglos, aber die Dame mit dem Schnecken- und Eitick beharrt drauf, dass das die besten Eier der Welt seien. Der Latex-Geschmack störe nicht.

Obwohl ich nicht wirklich auf der anderen Seite bleiben will, übt die Seite der Häftlinge—von ehemaligen Köchen bis zu Innenarchitektinnen—trotzdem eine ähnliche Anziehung wie Jack Nicholsons Augen aus, wenn er durch das mit der Axt geschaffene Loch linst und „Here's Johnny!" ruft. Apropos Verwendungszwecke von Äxten: Während fleissig „Safer Eggs" erstellt werden, zerlegt auf dem Balkon eine andere Performerin Meringues und bietet uns die süssen Splitter am Boden an.

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Im Wohnzimmer—das aussieht wie ein Wes Anderson-Film, aber nach vollen Windeln riecht—hetzt währenddessen eine nervöse Frau mit Baby auf und ab, im Schlafzimmer erklärt ein Typ aus der demografischen Gruppe „Freunde von T-Shirts mit Drachenmotiven" die an die Wand projizierten Fotos von „Stilleben aus dem Jägerleben". Es wird etwas beängstigend, als er sich über die Ungenauigkeiten gewisser Fachbegriffe aus dem Sektor „Tiere zerlegen" aufregt. Dann wirkt er gereizt. Und der Jagdhorn-Sound verkleinert den gespürten Fluchtreflex auch nicht gerade, aber trotzdem bleibe ich und lausche weiter, was er zum scheinbar ewigen Loop aus alten Fotos zu erzählen hat.

Diese Wohnung ist für manche Besucher ein Horrorhaus, denn wenn man das Gebrabbel und die Einrichtung auf sich wirken lässt, kann das Erlebte—so hat es mir ein Ausstellungsgänger erzählt—längerfristig verstören. Die Wohnungstür ist zu, drinnen herrschen andere Regeln und in der Wohnung sind kaum je mehr Besucher als Leute in ihrem jeweiligen Wahnsinnsding. Persönlich habe ich den Weg gewählt, auf alles mir Gesagte mit zustimmendem Gemurmel oder Fragen wie „Tschuldigung, kannst du auch mal das Jagdhorn-Stück ‚Seehund tot' laufen lassen? Das kenn ich von der Jagdhorn-App meines Vaters." zu reagieren. So konnte ich mir selbst etwas Raum erhalten.

Draussen ist die Welt normal. Das ist gut. Es ist aber auch gut, dass man bis zum 6. September und nochmals vom 9. bis 12. September zwischen 14:00 und 18:00 Uhr diese Exkursion in andere Wahrnehmungswelten unternehmen kann. „We Ate Lobster" ist eben der Name des Kollektivs, das „Komm auf meine Seite" verantwortet. Im Gegensatz zu einer psychotischen Hummervergiftung (nie erlebt) und einem LSD-Trip (erlebt) musste ich hinterher aber nicht zwölf Futurama-Episoden schauen und austesten, ob ich der Handlung folgen kann, um sicher zu sein, dass ich wieder normal bin.

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