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Reisen

Die lächerlichste Führerscheinprüfung der Welt gibt es in Hanoi

Einmal eine Acht fahren. Jetzt wird klar, warum man im Straßenverkehr von Hanoi so sauer wird, dass man am liebsten jemanden—ganz egal wen—mit bloßen Händen umbringen würde.

Es ist ein grauer, winterlicher Morgen. Ich bin auf meinem Motorrad zum Prüfungscenter beim Literaturtempel in Hanoi gefahren. Dort stehe ich jetzt mit einigen hundert Menschen und warte darauf, dass meine Nummer aufgerufen wird. Aus irgendeinem Grund bin ich davon ausgegangen, dass es hier nicht sehr voll sein würde. Ich glaube, ich habe noch nie jemanden getroffen, der die Motorradfahrprüfung absolviert hat—und ich habe wirklich fast jeden gefragt. Vielleicht ging ich auch nur davon aus, weil ich schon jahrelang durch das Chaos auf Hanois Straßen fahre, wo niemand nach links oder rechts schaut, sondern nur geradeaus. Dort, wo ich unzählige Male das Gefühl hatte, nur knapp dem Tod entronnen zu sein; dort, wo ich oft so sauer wurde, dass ich am liebsten jemanden—ganz egal wen—mit bloßen Händen umgebracht hätte. Vielleicht sind es auch die ganzen Unfälle und Überbleibsel von Unfällen, die ich mit ansehen musste. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich weiß, dass jährlich 12.000 Menschen auf den Straßen von Vietnam ihr Leben lassen. Wahrscheinlich spielt alles davon eine Rolle.

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Jetzt stehen wir hier aber alle und warten darauf, dass die Männer an den Schreibtischen unsere Namen und unsere Nummern aufrufen. Sie scheinen gestresst, wühlen sich durch Berge von Papier, scheuchen jeden weg, der ihnen zu nahe kommt.

Der lange Weg hierher hat in einem Krankenhaus begonnen. Dort gibt es einen eigenen Raum, der ausschließlich dafür genutzt wird, die Straßentauglichkeit der angehenden Verkehrsteilnehmer zu überprüfen. Ich werde gewogen und vermessen. Plötzlich bin ich um zwei Zentimeter größer, da die Ärztin ziemlich unmotiviert im Sitzen ihre Arbeit vollrichtet und den Messbalken nur bis zu meinen Haaren herunterschiebt. Dann sind die Augen dran. Dazu nehme ich einige Meter entfernt vor einer Tafel platz, auf der U-Formen mit Öffnungen in unterschiedliche Richtungen abgebildet sind, die Reihe für Reihe immer kleiner wurden.

Die Frau, die vor mir dran ist, nimmt ihre Brille ab und beginnt mit dem Test. Mit ihrem rechten Auge kann sie lediglich die erste Reihe der U-Formen erkennen, mit ihrem linken Auge keine einzige. Sie ist fast blind. Die Ärztin schreibt einige Zahlen und Schnörkel in die Dokumente der Frau. Dann bin ich an der Reihe.

Ich halte mir mit einem kleinen Paddel zuerst mein linkes, dann mein rechtes Auge zu und sage, in welche Richtung sich die U-Formen öffnen. Ich komme mit meinem linken Auge weiter in den Reihen als mit meinem rechten—genau wie ich es auch erwartet hatte. Ich sehe, wie die Ärztin die gleichen Zahlen und Schnörkel in meinem Formal einträgt wie bei der Frau vor mir. Hat sie bestanden? Habe ich bestanden?

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“Ok không?“, frage ich—alles OK?

“Ok, rất tốt”, antwortet die Ärztin—OK, wunderbar.

Kurz frage ich mich, was hier gerade eigentlich getestet worden ist.

Bei der Prüfstelle gibt es neben mir noch ein paar andere Ausländer—fünf oder sechs. Einer davon war Lars, den ich zuvor schon mal getroffen habe. Die Männer an den Tischen fangen nun an, Namen auszurufen.

Wir sammeln unsere Formulare bei einer fülligen Frau ein. Ihr rechtes Auge ist von grauem Star deutlich gezeichnet. Sie bellt Befehle an die Schreibtischmänner. Sie hat hier eindeutig das Sagen. Sie schnappt sich uns und unsere Dokumente. Als sie uns nach draußen führt, gerät sie völlig unerwartet für einen kurzen Moment in Panik.

„Ich habe die Ausländer verloren“, sagt sie und schaut sich dabei um, schaut hinter sich und schaut auch uns direkt an, „wo sind sie nur?“

Alles OK, wir sind doch hier.

Sie nimmt uns mit in ein anderes Büro, wo noch mehr Dokumente ausgetauscht werden und noch mehr gestempelt wird. Sie führt uns durch die Räumlichkeiten und hält nur kurz Inne, um Lars’ Frau, Thuy, zu rügen, dass sie „sich nicht um uns kümmert“. Inzwischen befinden wir uns schon seit anderthalb Sunden hier und sind nicht mal in die Nähe eines Motorrads gekommen—abgesehen von den Maschinen, auf denen wir alle selber gekommen sind.

Endlich ist es soweit. Wir werden auf einen Hof geleitet, auf dem eine Acht und drei ‚Hindernisse’ aufgemalt sind. Diese bestehen aus einer geraden Linie, einer eingegrenzten Strecke, durch die man sich links und rechts rum fädeln muss und aus eine geraden, unebenen Strecke. Neben der Acht am Eingang stehen fünf Honda Waves und drei Juroren sitzen unter einem Schirm an einem Tisch und warten auf Prüflinge. Als Erstes ist ein junger Mann an der Reihe. Er scheint etwas nervös zu sein, meistert die Acht aber tadellos. Als Nächstes ein Mädchen, sie ist etwas wackelig, aber auch sie macht es OK.

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In meiner Hand halte ich meine Dokumente und noch zwei andere Dinge. Eins davon ist die Anleitung, die mir die Frau aufgemalt hat, die diesen Test für mich organisiert hat. Ich muss gestehen, dass ich auflachen musste, als ich sah, woraus die Prüfung bestand. Entweder bin ich ein arrogantes Arschloch oder der Test ist einfach kinderleicht. Er schien aber nicht nur lächerlich einfach, sondern auch meilenweit von der eigentlichen Fahrpraxis entfernt. In Hanoi oder sonst wo in Vietnam musste ich noch nie eine Acht fahren. Wo ist stattdessen der Fahrer, der sich, ohne in die Spiegel zu schauen, in den Verkehr stürzt? Wo ist der Gemüsehändler auf einem Fahrrad ohne Bremsen, der, ohne zu schauen, schnurstracks über alle Fahrbahnen schießt? Wo ist das Taxi, das mir plötzlich auf der falschen Straßenseite entgegenkommt? Wo ist der plötzlich auftauchende Haufen Schotter? Und wo sind die riesigen Schlaglöcher, die nur von einer kleinen Plastiktüte an einem Zweig markiert werden? Warum machen wir den Test außerdem nacheinander? Wäre es nicht sinnvoll und geradezu praxisnah, wenn wir ihn alle gleichzeitig machen würden?

Das zweite Ding in meiner Hand ist mein vietnamesischer Führerschein, auf dessen Foto ich mir in keinster Weise ähnlich sehe. Aus unerfindlichen Gründen haben die Leute, bei denen ich die Bilder habe machen lassen, einen Hemdkragen auf mein weißes T-Shirt gephotoshoppt, meine Augenbrauen so überarbeitet, dass sie wie geschmolzene Schokolade aussehen, das ganze Blut aus meinem Gesicht in meine Lippen verlagert und mir einen Helm aus Haaren auf den Kopf gemalt. Ich sehe aus wie eine unheimliche Gothic-Mischung aus Robert Smith und Buffalo Bill.

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Meine Hände fühlen sich etwas taub an. Ich werde langsam nervös.

Ein Mädchen in einer roten Jacke fährt auf die Acht zu. Sie schlingert unkontrolliert über den Hof. Immer wieder muss sie sich mit ihren Füßen abstützen, fährt kurvige Linien außerhalb der Markierung. Noch bevor sie die Acht zur Hälfte gemeistert hat, stürzt sie. Leute kommen und befreien sie von dem Motorrad. Sie geht vom Hof und stellt sich hinter die Absperrung. Sie sieht blass und verwirrt aus. Ich hoffe, dass sie nicht wie alle anderen auf einem Motorrad hergekommen ist.

Noch einer fällt durch. Ein Mann fährt die Acht in der falschen Richtung. Ich dachte eigentlich, dass es unmöglich sei, diese Prüfung nicht zu bestehen—das hatte man mir jedenfalls so gesagt. Und ich weiß, dass ich um diese einfachen Hindernisse fahren kann. Überhaupt kein Problem. Der erste Ausländer, Lars, macht den Test. Sehr gut, er besteht. Als Nächstes ist eine Frau dran. Sie schlingert durch die Acht, fährt außerhalb der Markierungen und setzt immer wieder den Fuß ab. Der Ausbilder scheint etwas unschlüssig darüber, was er damit machen soll. Soll er sie durchfallen lassen? Wie flexibel sind die Regeln? Er schaut fragend zu den Juroren. Sie zeigen keine Regung. Sie hat bestanden. Danach ist ein Mann an der Reihe. Er fährt einfach quer über den Hof und verpasst die Acht komplett. Auch er fällt durch.

Ein paar Tage vor meinem Test hatte ich noch eine E-Mail bekommen, in der stand: „Bei der Prüfung wirst du nicht Dominic genannt werden, sondern James (mein zweiter Name).“ War das ein Trick, um mich zu verunsichern? Ich sagte zu mir, falls ich den Test nicht bestehe, werde nicht ich es sein, der durchfällt, sondern der photogeshoppte Freak auf meinem Führerschein. Das ist James. Wenn hier jemand durchfällt, dann er. Ich bekomme eine SMS von meiner Freundin: „Du machst das, James!“ Ich bin an der Reihe.

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Die Acht ist überhaupt kein Problem. Sie ist etwas enger, als sie aussieht, und mir gefällt es nicht, dass alle Augen auf mich gerichtet sind, aber ich bringe es hinter mich. Bei den anderen Hindernissen lasse ich den Motor plötzlich wie ein Vollidiot aufheulen und rase so schnell durch den Parcours, wie ich nur kann. Ich ratter über die Hubbelpiste und sause an der Außenseite des Hofs wieder zum Start zurück, als ob ich gerade meine Siegesrunde absolvieren würde. Selbstbewusst schreite ich zu den Juroren und grinse dabei wie eine Arschgeige.

„Không!“, sagt der erste Juror, „Nhanh quá!“—Nein! Komm her!

Mein Herz rutscht mir in die Hose. James ist durchgefallen und ich muss den ganzen Wahnsinn noch einmal über mich ergehen lassen. Der Juror schaut mich immer noch an und schüttelt seinen Kopf, während er meine Papiere weiterreicht. Sie werden gestempelt, und ich gehe zurück zu Lars und Thuy.

Ich habe das Gefühl, dass ich die Prüfung trotz meines arroganten Auftretens bestanden habe. Thuy bestätigt mir das. Ich soll nächste Woche wiederkommen, um meinen Führerschein abzuholen.

Eine Woche später bin ich wieder in dem Prüfungscenter und bekomme meinen brandneuen Motorradführerschein ausgehändigt. Es ist vollbracht! Ich habe den Juroren gezeigt, dass ich—nein, wir beide, Dominic und James—eine Maschine steuern können, ohne dabei nach links und rechts zu schauen, sondern nur stur geradeaus. Wir sind straßentauglich. Wir sind bereit. Wir schwingen uns auf mein Bike und brausen los.

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