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Wodka, Homophobie und Zivilcourage—so feiert Berlin den Tag des Sieges

Wir trafen auf nachdenkliche alte Militärs, Frauen mit geblümten Kopftüchern aber auch homophobe Glatzen in Bomberjacken und die unvermeidlichen Verschwörungstheoretiker.

Vergangenen Freitag vor 69 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. In Russland ist der 9. Mai der größte nationale Feiertag, und während Soldaten über den Roten Platz marschierten und Putin sich bei einer Militärparade in Sewastopol darüber freute, dass die Krim endlich „heimgekehrt“ sei, feierten auch am sowjetischen Ehrendenkmal in Berlin ein paar hundert Menschen den Jahrestag des Sieges über den Faschismus in Deutschland. Gleichzeitig wurde das Fest von einigen Gruppen dazu genutzt, den aktuellen Kampf gegen die ukrainischen „Faschisten“ anzutreiben und das international umstrittene Referendum in der Ostukraine zu unterstützen, bei dem sich am Wochenende in Donezk laut Angaben der Separatisten 89 Prozent für die Unabhängigkeit der Region aussprachen.

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Wir haben uns auf dem Fest umgesehen, Wodka getrunken und Menschen getroffen, die trotz des strömenden Regens fröhlich feierten, sangen, tanzten und Blumen niederlegten. Wir trafen auf nachdenkliche alte Militärs, Frauen mit geblümten Kopftüchern, amerikanische Austauschstudenten und Kinder in putzigen Soldatenuniformen, aber auch homophobe Glatzen in Bomberjacken und die unvermeidlichen Verschwörungstheoretiker. Erstaunlicherweise erschien niemand, der sich als Lenin oder Stalin verkleidet hatte, dafür sahen ein paar Typen aus wie Putin.

Wir fragten die Leute, was ihnen der Tag des Sieges bedeutet und wie sie zu Putin und den aktuellen Entwicklungen in der Ostukraine stehen. Die meisten, mit denen wir sprachen, waren sehr nett zu uns, wenn sie auch teilweise Meinungen vertraten, bei denen uns Zweifel kamen, ob sie Faschismus wirklich so doof finden, wie sie behaupteten.

Vor dem sowjetischen Ehrenmal treffen wir Thomas aus Holland und Mary und Forced aus den USA. Alle drei sind Austauschstudenten—und unter allen Leuten, mit denen wir sprachen, die einzigen, die wussten, was VICE ist.

VICE: Wie gefällt euch das Fest?
Mary: Es ist sehr schön hier, wir haben so etwas noch nie gesehen. Alles ist so anders: die Menschen, die kitschige Musik.

Und wie ist eure Meinung zu Putin?
Forced: Er ist ein ziemlich guter Entertainer. Wir sehen ihn nicht als Gefahr.
Thomas: Tut ihr nicht???
Mary: Nein, vielleicht weil wir in den USA viel weiter weg sind von all dem, was passiert.
Forced: Wir sind erst nach den Ende der Sowjetunion geboren, die Russen sind nicht unsere Feinde. Ich liebe die russische Kultur, ich meine, lest doch mal Bulgakov.

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Als wir die Stufen des Ehrenmals heruntergehen, hält gerade ein Mann von der „Aktion blauer Punkt“ vor einer Gruppe interessierter Zuhörer eine flammende Rede über die Nichtexistenz der Bundesrepublik Deutschland, die nichts anderes als die Fortsetzung des Dritten Reiches sei. Und auch darüber, dass auf dieser Welt alles „nach einem festen Plan“ geschieht.

Ein Junge, der nicht seine Meinung teilt und ihn als Verschwörungstheoretiker bezeichnet, wird von ihm als „Faschist und Nationalsozialist“ beschimpft. Auf die Frage, was gerade vorgefallen ist, antwortet er: „Ich hab ihm gesagt, dass ich das scheiße finde, weil er in meinen Augen den Nationalsozialismus relativiert, und behauptet, dass alles, was die BRD heute macht—so scheiße ich das auch finde—genauso schlimm ist wie das, was im Zweiten Weltkrieg in Deutschland passiert ist.

Ich glaube, dass er einer von diesen Montagsdemos ist, von KenFM, die ja den Gedanken von einer Einheitsfront haben und links und rechst auflösen wollen. Gemeinsam als deutsche Bürger die Regierung zur Ordnung rufen und die Finanzmärkte kontrollieren (wollen) und auch ziemlich viel antisemitischen Scheiß verkünden. Verkürzte Kapitalismuskritiker und sowas, was meiner Meinung nach ziemlich rechtspopulistisch ist.“

Ein älterer Herr mit Militärmütze geht vorbei und sagt mit einem Blick auf den Anti-BRD-Redner: „Wenn man zu weit nach links geht, landet man irgendwann rechts.“ Er heißt Anatoli, kommt gebürtig aus Russland, genauer gesagt aus dem ehemaligen Stalingrad, wohnt aber seit DDR-Zeiten in Berlin.

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VICE: Wie siehst du die Entwicklungen auf der Krim?
Anatoli: Das ist eine schwere Prüfung für mich. Ich bin nach meiner Mutter Ukrainer, mein Großvater stammte aus diesem gerade unruhigen Gebiet, aus der Ostukraine. Was jetzt passiert, ist wie ein richtiger Bürgerkrieg, das ist schrecklich, aber was die Deutschen jetzt am besten tun können ist, sich nicht einmischen. Mit Worten ja, aber nicht mit Sanktionen. Die Leute dort verstehen das nicht. Es gibt auch vernünftige Leute, aber wissen Sie, die Ukrainer sind eigentlich wie die Bayern, und ich glaube, die Deutschen wären auch nicht begeistert, wenn die Bayern plötzlich selbständig sein wollen würden. Bayern ist aber auch noch nie ein souveräner Nationalstaat gewesen. Aber die Grenze wurde einfach mit dem Lineal gezogen. Diese Gebiete in der Südostukraine gehörten früher nie zur Ukraine. Russen und Ukrainer haben dort zusammengelebt.

Also ist die Übernahme der Krim in deinen Augen richtig?
Eigentlich ja.

Und wie ist deine persönliche Meinung zu Putin?
Ich habe Respekt vor ihm. Die Leute meckern über ihn, aber jemand anderes wollen sie auch nicht.

In dem, was er weiter erzählt, wird allerdings deutlich, dass dieser Respekt für Putin vor allem darauf beruht, dass sich Putin, der, zumindest während seiner DDR-Zeit, nie Schnaps getrunken hat, im Gegensatz zu Jelzin noch nie in aller Öffentlichkeit besoffen [zum Deppen](http:// www.youtube.com/watch?v=R-z9wfueMAw) gemacht hat.

Als Nächstes treffen wir auf ein älteres russisches Ehepaar. Der Mann trägt ein blaues Barrett und eine mit Orden behängte Uniformjacke. Er versteht leider kein Deutsch. Deswegen fragen wir seine Frau, die für ihn übersetzt, ob wir ein Foto von ihm machen dürfen. Er nickt freundlich. Die Frau fragt, von welchem Magazin wir kommen.

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VICE kennt sie nicht. Sie fragt, ob das Magazin faschistische oder homosexuelle Propaganda verbreitet. Wir erklären ihr, dass wir durchaus Beiträge über Homosexualität und auch homosexuelle Autoren haben. Dann möchte sie doch lieber nicht. Auch ihr Mann schüttelt jetzt entschieden den Kopf. Er sagt, er habe nichts gegen Schwule, aber in der Öffentlichkeit und in der Politik habe Homosexualität nichts zu suchen. Seine Frau pflichtet ihm bei und erzählt, dass die beiden seit 35 Jahren verheiratet sind und nicht möchten, dass ihre Enkelkinder „durch homosexuelle Propaganda“ schwul oder lesbisch werden.

Bevor sich die beiden freundlich verabschieden, erklärt sie uns noch mit deutlichen Handzeichen, dass Gott die Menschen mit einem „Ring“ und einem „Stecker“ ausgestattet habe, damit sie sich fortpflanzen, und „Stecker mit Stecker oder Ring mit Ring“ daher unnatürlich sei und gegen die göttliche Ordnung verstoße.

Leider werden wir im Laufe des Tages noch Zeuge von sehr viel deutlicher zur Schau gestellter Homophobie. Als ein Typ—der sich zur Feier des Sieges über [„das Böse der Welt“](http://german.ruvr.ru/20140507/Feierliche-Aktion- am-Tag-des-Sieges-uber-den-Faschismus-1998/) mit kurzem Rock und roten Strumpfhosen ziemlich in Schale geschmissen hat und dafür eigentlich schon einen Tapferkeitsorden verdient hätte—an einer Gruppe junger Männer vorüber zum nächsten Bierstand geht, brechen diese sofort in lautes Gelächter aus. Die meisten von ihnen tragen Bomberjacken und haben sehr kurzgeschorene Haare.

Einer von ihnen zückt sein Smartphone und läuft dem Typen im Rock hinterher, während die anderen ihn umlagern und versuchen, ihn mit blöden Sprüchen zu provozieren. Schließlich geht einer der Veranstalter dazwischen, um den Bomberjacken zu erklären, dass ihr Verhalten absolut daneben ist. Ob sie das verstanden haben, wissen wir nicht.

Schade, denn eigentlich hätte es so ein nettes Fest werden können.

Fotos von Julian Slagman www.slagman.me