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Occupy Turkey

Der Istanbuler Aufstand geht im Untergrund weiter

Die Polizei hat die Demonstranten von der Straße geprügelt, also suchen sie nach neuen Formen des Widerstands. Ich war auf einer nächtlichen Versammlung in einem Park, auf der über die Zukunft der Bewegung diskutiert wurde. Auf dem Taksim-Platz...

Nach mehr als zwei Wochen, in denen man eigentlich immer eine Atemmaske mitnehmen musste, wenn man in Istanbul auf die Straße ging, war es Montag plötzlich vorbei. Am Nachmittag versuchten ungefähr 300 Menschen noch einmal, über die Istiklal auf den Taksim-Platz zu marschieren, wurden aber von der Polizei und Gummigeschossen innerhalb von fünf Minuten verjagt. Um 21 Uhr konnte man in Cihangir noch einmal das Klappern der Töpfe hören zum Protest, aber danach war Ruhe. Die hippen Bewohner des Viertels saßen wieder in den Cafés, als sei nichts passiert.

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War also alles umsonst? Nein, sagen die Demonstranten. „Erdoğan ist ein Lügner. Wir haben gewonnen“, meint Ceyhun, der schon seit Anfang der Demonstrationen dabei ist, auf der Fahrt zu einer Versammlung am Montagabend. „Vielleicht nicht jetzt sofort, aber auf lange Sicht haben wir gewonnen. Wir haben gezeigt, dass sie nicht alles mit uns machen können.“

Der Meinung sind fast alle, mit denen ich in den letzten Tagen gesprochen habe. Der Widerstand geht weiter, nur die Taktik muss sich ändern. Eine kreative Methode hat sich der Choreograph Erdem Gündüz ausgedacht, als er sich am Montag einfach acht Stunden lang schweigend auf den Taksim (#duranadam) stellte. Nachdem die ersten paar Anhänger, die sich zu ihm stellten, verhaftet worden waren, lässt die Polizei sie jetzt gewähren.

Stehende Protestler

Montagnacht sprach ich mit Şükrü, der eigentlich Feldwebel in der Armee ist und bei der Steh-Aktion mitmacht. Er meint, dass er vor allem auf den Mord an Ethem Sarısülük aufmerksam machen will. Ethem war am 6. Juni während der Proteste in Ankara von einem Polizisten in den Kopf geschossen worden und nach ein paar Tagen im Koma gestorben. Bis jetzt wurde noch kein Verfahren gegen den Polizisten eingeleitet, obwohl man angeblich weiß, wer er ist. Hier im Video sieht man, wie der Polizist seine Waffe zieht und Ethem nach dem dritten Schuss zu Boden geht.

Die Istanbuler, von denen sich viele vorher als apolitisch bezeichnet hatten, sind plötzlich wie berauscht von Politik und Mitbestimmung. Schon am Montagabend begannen sich die Leute heimlich in ganz Istanbul in Parks zu treffen, um über das weitere Vorgehen zu diskutieren. Im Abbasağa-Park in Beşiktaş hatten sich am Montagabend so an die 200 Menschen versammelt, am Dienstag waren es bereits dreimal so viele.

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Ich fragte auch meine Freunde, die demonstriert haben, ob der Kampf denn nun zu Ende sei. Sie reagierten ausweichend: Man habe doch sowieso nie gekämpft, das sei immer ein friedlicher Protest gewesen. Außerdem dürfe man ja jetzt wieder auf den Taksim-Platz.

Das stimmt, Fußgänger wurden schon Montagabend wieder auf den immer noch von Polizisten wimmelnden Platz gelassen. Aber nur in kleinen Gruppen. Parolen traute sich keiner mehr zu singen. Der Zugang zum Gezi-Park ist immer noch gesperrt, selbst für Journalisten. Angeblich pflanzt die Stadtverwaltung gerade neue Bäume.

Nach und nach wurde deutlich, dass Erdoğans kompromisslose Taktik Erfolg hatte. Das letzte Wochenende war einfach zuviel für die Demonstranten gewesen. Die Polizisten hatten sie gnadenlos durch die Straßen gejagt und bis in die Häuser verfolgt, AKP-Schlägertrupps waren mit Messern und Stangen durch die Straßen gezogen, und zum ersten Mal wurden Demonstranten en masse verhaftet.

Am Dienstag erklärte Erdoğan seinen Anhängern triumphierend, dass die Demokratie gesiegt habe. Und dass man die Polizei zahlenmäßig noch verstärken werde, um solche Unruhen in Zukunft noch schneller beenden zu können.

Bei den Versammlungen im Park ist das System das gleiche wie im Gezi-Park, bevor sie hinausgejagt wurden: Wer etwas sagen will, stellt sich hinten an, und jeder bekommt ein bis zwei Minuten. Ansonsten gibt es keine Regeln, man kann so ziemlich alles sagen, was einem auf dem Herzen liegt. Viele wollen einfach mal sagen, wie begeistert sie von der Energie der Bewegung sind. Ein Mann braucht gar kein Megaphon, um der begeisterten Menge „Wir haben gewonnen!“ zuzurufen. „Wir erschaffen ein neues Land! So etwas gibt es auf der ganzen Welt nicht! Wir sind die Zukunft, keiner kann sich gegen uns stellen!“

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Andere schimpfen auf die Polizei oder die Medien. Ein Geschichtslehrer riet allen, mehr Geschichtsbücher zu lesen, um den Umgang mit Diktatoren zu lernen. Ein Videokünstler rief alle Künstler zum „Kunstwiderstand“ auf. Am Dienstag waren aber auch schon deutlich mehr Sprecher dabei, die konkrete Vorschläge machten, wie man sich jetzt weiter organisieren könne. Ein paar Sprecher schlugen die Gründung einer neuen Partei vor, „eine Partei für die Randgruppen und Çapulcus!“ Anderen ging das zu weit, sie wollen erstmal eine Plattform gründen, um die Anliegen und Beschwerden der Leute zu sammeln.

Ich versuchte, irgendwie herauszubekommen, wer die Idee zu diesen Versammlungen gehabt hatte, und wer sie organisierte. Also fragte ich Basri, der die meiste Zeit das Megaphon gehalten hatte. „Die Idee kam vielleicht ursprünglich von Çarşı“, meinte er. „Aber eigentlich ist das völlig spontan entstanden. Die Leute haben sich gegenseitig auf Facebook davon erzählt, und dann sind sie gekommen. Und wir werden weiter kommen, bis die Regierung uns zuhört.“

Basir

Auch Necme, ein großer Mann, der ein bisschen wie ein Anführer aussah und auch dauernd von Leuten zu irgendwas gefragt wurde, bestand darauf, dass die Bewegung völlig spontan und führerlos entstanden war. „Wir haben keine Gemeinschaft oder Partei, und wir haben keine Anführer. Ich bin nur irgendein Typ. Ich habe vielleicht mehr Erfahrung mit Unterdrückung, weil ich Alevit bin. Und jetzt verstehen diese ganzen apolitischen Jugendlichen endlich, worum es hier eigentlich geht.“

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Necme

Außer in Beşiktaş hatten sich am Dienstagabend noch in elf anderen Parks der Stadt Protestierende zu solchen Foren versammelt. Um der Polizei keinen Grund zu geben, sie auch von dort zu verjagen, versuchen sie, den Lautstärkepegel niedrig zu halten. Klatschen ist verboten, stattdessen wedelt man mit den Händen wie bei Occupy Wall Street, um seine Zustimmung  auszudrücken. Um Mitternacht wurde das Megaphon ausgeschaltet. Trotzdem halten die meisten es nicht für unwahrscheinlich, dass die Polizei sie auch hier vertreiben wird. „Aber es ist uns egal“, sagt Basri. „Wenn sie uns hier rausschmeißen, ziehen wir eben in den nächsten Park.“

Basri und Necme waren überzeugt, dass die Bewegung auch ohne Taksim-Platz oder Gezi-Park als Fokus funktionieren würde. „Taksim ist überall, der Widerstand ist überall, das war schon vorher unser Spruch“, meinte Basri. Selen, eine Produktdesignerin, erklärte mir, dass die Regierung immer noch Angst vor den Demonstranten habe. „Wir sind gebildet, und wir haben jetzt verstanden, wie mächtig wir sind. Im ganzen Land versammeln sich die Menschen, weil sie mit Erdoğan unzufrieden sind. Alle wissen jetzt, dass es hier keine Demokratie und keine Gesetze gibt. Und wir werden nicht aufgeben.“

Selen

Am Dienstagabend jedenfalls schien niemand nach Hause gehen zu wollen. Um Mitternacht standen immer noch Leute an, um ihre Ideen zu verkünden, obwohl das Megaphon mittlerweile ausgefallen war. Bis jetzt haben die Demonstranten immer noch keine klare Position formuliert, und sie scheinen es auch nicht eilig damit zu haben. Ob Erdoğan wirklich dermaßen vor den nächtlichen Versammlungen in Istanbuls Parks zittert, ist vielleicht nicht so wichtig. Wichtiger ist, dass auf einmal sehr viele Menschen gemerkt haben, dass sie nicht alleine mit ihrer Unzufriedenheit sind. In Basris Worten: „Die Menschen sind vielleicht nicht mehr im Gezi-Park. Aber der Gezi-Park ist noch in den Menschen.“