"Die Leute sahen mich als Außenminister Israels – aber ich war einfach ein kleiner Junge"
Titelfoto: Grey Hutton

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"Die Leute sahen mich als Außenminister Israels – aber ich war einfach ein kleiner Junge"

Einer von ihnen war Türke, er kam zu mir und fragte: "Kennst du die jüdische Nationalhymne?" Dann holte er ein Feuerzeug raus und drückte aufs Gas.

Ben Salomo ist der erste deutsche Rapper, der seinen jüdischen Background in Texten zum Thema macht. Bekannt wurde er als Host von Rap am Mittwoch. Die Battlerap-Veranstaltung ist in Berlin zur Institution geworden und hat mittlerweile über 150.000 Fans auf Facebook. Gerade erschien sein erstes Solo-Album Es gibt nur einen. Wir haben mit ihm über das Aufwachsen in Berlin gesprochen, wie er Antisemitismus erlebte, über Straßengangs und warum er einen "bewaffneten Raub" beging.

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Meine Mutter und mein Vater waren noch sehr jung, als sie mich bekommen haben. Sie war 19, er 22. Ich bin jetzt gerade Vater geworden, mit 38, und weiß, wie krass das ist—wie krass wird das dann wohl erst für sie gewesen sein. Die ersten vier Jahre meines Lebens verbrachten wir in Rechovot, einer Stadt in Israel südlich von Tel Aviv. In unserer Wohnung hatten wir ein Aquarium und einen Dackel, damals waren dort viele Ackerflächen und ich spielte zwischen den Orangen- und Zitronenbäumen. In Israel fühlte ich mich frei.

Meine Eltern—sehr jung und mit Kind—brauchten Hilfe von den Eltern meiner Mutter. Die lebten in Berlin, also zogen wir dorthin. Zuerst dachte ich, wir besuchen nur meine Großeltern. Ich war vier Jahre alt und habe gar nicht verstanden, dass wir in einem anderen Land mit einer anderen Sprache sind. Das Flugzeug hat sich auch nur angefühlt wie ein Bus mit Flügeln dran. Nach dem ersten Tag im Kindergarten habe ich zu meiner Mutter gesagt: "Die sind alle blöd, die verstehen mich nicht, wenn ich rede." Dann hat sie verstanden, dass sie mir erst mal erklären muss, was es heißt, dass wir jetzt in Deutschland waren. Sie hat gesagt: "Hier gibt es Kinder mit hellen Augen, asiatischen Augen, schwarzer Haut"—alles, was es an Vielfalt geben könnte. Und sie hat gesagt: "Das sind alles gute Kinder, mit allen darfst du spielen."

Wir haben in Lankwitz im Süden Berlins in einem Hochhauskomplex gelebt—dort, wo man mit Wohnberechtigungsschein wohnen konnte, wenn man nicht genug Geld hatte. Ich verständigte mich die erste Zeit im Kindergarten mit Händen und Füßen und nach drei Monaten konnte ich Deutsch—und, noch lustiger, die anderen Kinder ein bisschen Hebräisch—sie hatten es von mir aufgeschnappt. Nachmittags riefen sie auf Hebräisch: "Deine Eltern sind da!" Nach einem Jahr kam ich in den jüdischen Kindergarten. Ich weiß noch, dass ich mich damals gefragt habe, warum vor unserem Kindergarten Polizisten stehen. "Es gibt Leute, die wollen uns verletzen", hat mir meine Mutter erklärt. Weiter fragt ein Kind dann ja nicht. Bis ich selbst merkte, dass es Leute gibt, die uns Schlechtes wünschen, dauerte es noch einige Jahre.

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Wenn ich zu Besuch in Rechovot in Israel war, spazierte ich mit meinem Opa durch die Straßen. Alle haben gegrüßt. "Das ist mein Enkel aus Deutschland", sagte er und ich hatte dieses unbeschreibliche Gefühl, zu Hause zu sein. Mein Großvater schenkte mir eine Kette mit Davidstern. Ich mag das Symbol, ich finde es geometrisch einfach schön, jetzt mal ganz abgesehen von allem, was damit zusammenhängt. Ich habe ihn als Kind gern gemalt. Die Kette war für mich einfach eine Kette. In Israel konnte ich damit durch die Straßen laufen. Meine Mutter riet mir, sie in Deutschland nicht zu tragen. Warum, merkte ich dann selbst.

Es zeigte sich an einem Tag im Hof in Schöneberg. Dort wohnten wir, seit ich sieben war. Jahrelang habe ich mit den Jungs aus dem Kiez im Hof gespielt—wir sind Fahrrad gefahren, haben Ball oder mit Murmeln gespielt. Und plötzlich, als ich die Kette trug, kam die Frage: "Woher kommst du?" Die Jungs kamen aus Palästina. Als sie hörten, dass ich aus Israel komme, war ich auf einmal ihr Feind. Von einem Tag auf den anderen. Obwohl ich davor beliebt war in der Gruppe.

Erst als wir uns geprügelt haben und ich stärker war als sie, war ich plötzlich doch wieder akzeptiert, weil ich ein ernstzunehmender Gegner war, den sie nicht wollten. In diesem Fall hat eine Sandkastenprügelei alles geklärt.

Aber es blieb nicht die einzige. In der siebten Klasse war ich bei einer Klassenkameradin zum Geburtstag eingeladen. Auf unserem Gymnasium wusste jeder, dass ich Jude bin, und es war kein Problem. Aber auf ihrem Geburtstag waren auch Jungs aus ihrer Nachbarschaft in Moabit. Einer von ihnen war Türke, er kam zu mir und fragte: "Kennst du die jüdische Nationalhymne?" Ich habe überlegt und dachte: Es gibt keine jüdische Nationalhymne, wenn dann eine israelische, also meinte ich: "Ne."

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Er holte ein Feuerzeug raus und drückte aufs Gas.

Dann hat er mit seinen Freunden gelacht und gelacht. Da war nichts zu klären, ich bin gegangen. Auf dem Nachhauseweg war ich sehr traurig. In dieser Zeit wurde es für manche zum Problem, dass ich bin, wer ich eben bin—ein Mensch mit jüdischem Background. Das kam plötzlich von allen Seiten: auf dem Hof, in der Schule. Es zeigte sich in einer Frage, die plötzlich wichtig war:

"Woher kommst du?"

Bis zu diesem Alter zwischen 12 und 13 habe ich mein Jüdischsein im Alltag kaum gespürt. Ich unterscheide mich optisch gar nicht so sehr von einem Araber, Türken oder Italiener. Ich fühlte mich auch immer eher zu den Migranten zugehörig, ich bin ja auch Migrant. Und ich habe auch noch sehr nah mitbekommen, dass Juden in Deutschland Schreckliches angetan wurde. "Opa, was ist mit deinen Zähnen passiert", fragte ich einmal. "Das war ein deutscher Soldat", sagte er. "Ich war ein kleiner Bub, irgendwas war und er hat mir den Gewehrkolben ins Gesicht geschlagen." Aber ich selbst habe von Deutschen selten Antisemitismus erlebt. Der Rassismus, den ich erlebt habe, kam meistens von anderen Migranten.

Nach zwei Jahren Gymnasium stürzten meine Noten in der Schule ab. Meine Eltern trennten sich gerade, zu Hause war Chaos, in mir war Chaos. Ich ging ab vom Gymnasium, diesmal auf eine Schule in Moabit.

Der Begriff "Jude" wurde dort genau so benutzt wie "du Hurensohn". Die Jungs sprachen es aus, wie man es aus diesen Nazi-Filmen kennt. "Jude, komm her!" Tief, laut, abfällig. Die meisten Leute, die das als Schimpfwort benutzen, wissen noch nicht mal, was es bedeutet, Jude zu sein. Wenn ich sage, dass ich Jude bin, meine ich nicht meine Religion, sondern meine Ethnie. Das ist wie bei Kurden: Man kann gleichzeitig Kurde und Christ sein, oder Kurde und Atheist. Ich kann jüdischen Glaubens sein, ich kann aber auch Jude und Atheist sein.

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Was mich am meisten genervt hat: Ich wurde immer als Außenminister Israels gesehen. Ein Klischee, in das man gedrängt wird, wie Arye Shalicar es in seinem Buch Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude beschreibt: "Für die Deutschen war ich ein Kanake, für die Moslems ein Jude, für die Juden ein krimineller Jugendlicher aus dem Wedding." Wenn ich gesagt habe, dass ich aus Israel komme, musste ich immer die Politik dort erklären wie ein Repräsentant, dem man seinen Frust an den Kopf schmeißen kann. Ich dachte mir immer: Warum muss ich das tun? Diese Fragen wurden mehr, je älter ich wurde.

Berlin war damals anders. Als ich 18 Jahre alt war, gab es viele Straßenbanden, es war ein "Survival of the Fittest". Ich wurde von älteren Jugendlichen abgezogen: Taschengeld, Jacken, alles, was man eben am Körper hatte. Irgendwann fingen wir selbst an, Leute abzuziehen, bis ich mit 19 erwischt wurde. In der juristischen Sprache nannten sie es einen "bewaffneten Raub". Jemand hatte ein Messer dabei, ein anderer eine Schreckschusspistole. Wir haben einer Gruppe Jugendlicher Geld abgezogen, 100 Mark hatten sie alle zusammen, und dann wollten wir in einen Club. Wir waren nicht zu verwechseln. Ich hatte kurze Haare, der zweite eine Cap, der andere hatte eine dicke Daunenjacke an. Die Personenbeschreibung hat gepasst. Zivilbullen haben uns kontrolliert, ich habe Sozialstunden bekommen. Aber hey, das war gut, sonst wäre ich am nächsten Tag wieder los.

Straßengangs gibt es, denke ich, heute weniger. Antisemitismus gibt es leider immer noch. Am schlimmsten war es für mich, als ich 2007 bei der 1.-Mai-HipHop-Bühne in Kreuzberg aufgetreten bin und nach uns Deso Dogg auf die Bühne kam. Bevor er einen Ton gesagt hat, holte er aus seinem Rucksack die grün-gelbe Hisbollah-Flagge mit der Kalaschnikow darauf heraus. Die Masse machte Lärm, einen zustimmenden Krach, der lauter war als der Applaus für alle anderen Acts. Danach bin ich drei, vier Jahre lang einfach gar nicht mehr aufgetreten. Warum rasten die Menschen aus, wenn da jemand die Flagge einer terroristischen Organisation hochstreckt?

Wir sind doch alle Menschen, egal woher wir kommen. Mensch ist Mensch. Ich weiß, wie kitschig das klingt, aber es stimmt.

Nacherzählt von Sofia Faltenbacher, du findest sie auf Twitter und Facebook.