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DIE SKAMMERZ ISHU

Lügentriade—die Top 3 der deutschen Betrüger

Kai Christiansen hat Filme über die wichtigsten deutschen Betrüger gemacht: über den Vater aller Lügner, Baron Münchhausen, Gert Postel, der sich immer wieder als Psychiater ausgegeben hat, und Otto Weidt, einen blinden Bürstenfabrikanten, der die...

Porträt von Heinrich Völkel

Von den unzähligen literarischen Erzeugnissen und fantastischen Gute-Nacht-Geschichten, um die Deutschland Eltern auf der ganzen Welt bereichert hat, stellen die Lügengeschichten des Baron Münchhausen wohl die gemeinste Form von Rufmord vor Erfindung der Intouch dar. Der echte Münchhausen litt schon im 18. Jahrhundert darunter, dass ihn alle Welt für einen Spinner und Lügner hielt, obwohl die allseits bekannten Lügenmärchen nicht mal aus seiner eigenen Feder stammten. Auch im 20. Jahrhundert wurde nicht sonderlich viel für die Rehabilitierung seines Namens getan, als der Londoner Psychiater Sir Richard Asher in den 50ern die Bezeichnung Münchhausen-Syndrom prägte für die psychische Störung, die Menschen dazu verleitet, Krankheiten vorzutäuschen. In den 70ern kam dann noch das Münchhausen-Stellvertretersyndrom dazu, bei dem erkrankte Personen andere missbrauchen und ihnen absichtlich Schaden zufügen, um dann mit deren mysteriösen Krankheitssyndromen hausieren zu gehen und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Würde er nicht schon seit Ewigkeiten irgendwo in der Bodenwerder Erde vor sich hinverwesen, würde der echte Münchhausen wahrscheinlich spätestens jetzt im Boden versinken wollen. Ganz anders sieht es aus mit einem der berühmtesten deutschen Hochstapler der letzten Jahrzehnte: Gert Postel. Der Postbote, der es zweimal schaffte, als Psychiater einen Job zu landen, ist dermaßen von sich selbst und seiner Fälscherkunst überzeugt, dass er seit Jahrzehnten die deutsche Medienlandschaft mit seiner eigenen Legendenschreibung infiltriert und sich dabei gerne als listigen Systemkritiker darstellt, der die Schwächen der deutschen Psychiatrie vorführt. Dass es psychisch labilen Menschen vielleicht schaden könnte, von einem Quacksalber therapiert zu werden, scheint für Postel, der sich vor allem gerne in Talkshows und Dokus selbst reden hört, weniger von Belang zu sein. Der historisch und menschlich mit Abstand interessanteste Hochstapler der deutschen Geschichte dürfte jedoch Otto Weidt sein. Er betrog systematisch die NS-Behörden und rettete jüdischen Arbeitern das Leben. Kai Christiansen ist Regisseur und hat über jeden dieser inoffiziellen Top Drei bereits einen Spielfilm gedreht. Und wer auch nur das Geringste vom Filmemachen versteht, weiß, dass ein solches Vorhaben mit monatelangen Recherchen und akribischer Faktensammlung einhergeht, was Kai also zum idealen Gesprächspartner machte, als wir mehr über die Geschichten der drei erfahren wollten.

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Für unser Gespräch trafen wir uns im November in Otto Weidts ehemaliger Bürstenfabrik in der Rosenthaler Straße 39, in der heute ein sehr sehenswertes Museum über das Leben des anarchistischen Wohltäters und seiner Arbeiter untergebracht ist. Zuerst sprachen wir aber über Postel.

Otto Weidt in seinem Büro

GERT POSTEL (*1958)

VICE: Kai, in deinem Film über Gert Postel stellst du ihn als eher erbärmliche Figur dar. Es gibt aber eine Menge Menschen, die ihn aber für seine Geschicktheit und dafür, wie er die Psychiatrie als medizinische Disziplin vermeintlich bloßgestellt hat, sehr bewundern.
Kai Christiansen: Ja, das ist leider so. Man darf aber nicht vergessen, dass die ganze Berichterstattung über ihn auch extrem von ihm geprägt ist. Postel ist immer noch ein gern gesehener Talkshowgast, der seine eigenen Geschichten reproduziert. Man kommt auch gar nicht gegen seine eigene Geschichtsschreibung, seinen Mythos, an. Die Leute wollen, dass es wahr ist, dass es einen so tollen Typen gibt. Dass es vielleicht gar nicht so war, das mag man gar nicht mehr so richtig hinterfragen. Wie traurig, wie leer, wie ätzend und übergriffig dieses ganze Leben war und ist, das will man gar nicht wissen.

Du kannst dem Gedanken, dass er die Psychiatrie entlarvt hat, also nicht so viel abgewinnen?
Er behauptet immer, er habe in Zschadraß 30 oder 40 Mitbewerber gehabt, aus denen man ihn ausgewählt habe, aber das stimmt überhaupt nicht. Es gab zwei Bewerber auf die Stelle, und der andere sprach kein Deutsch. Er hatte also eine Stelle gefunden, die niemand haben wollte. Was er wirklich entlarvt, sind die katastrophalen Zustände, die dort herrschten, weil viele Stellen nicht besetzt werden konnten. Da hat sein Schwadronieren irgendwie funktioniert.

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Was denkst also du, welche Rolle diese Umstände dabei spielten, dass er erfolgreich mit seiner Täuschung davonkam?
Es handelte sich vor allem um therapeutische Situationen unter vier Augen, bei denen kein anderer dabei war, also wurde da auch nicht so schnell kontrolliert. Wenn er jetzt hätte operieren müssen, wäre er sofort aufgeflogen. Er hatte gar keine Wahl, er musste dahin gehen, wo er nicht operieren musste und möglichst einzeln mit den Patienten arbeiten konnte.

Aber wie hat er es geschafft, dass diese Institutionen ihn überhaupt ernst nehmen?
Die Art, wie er das macht, ist sehr raffiniert. Einer seiner großen Tricks ist, dass er mit Befürwortern arbeitet. Wenn es um eine Stelle geht, dann ruft er nicht als er selbst an, sondern erst mal als ein angeblicher Kollege, und sagt: „Ich bin Professor in irgendwas, und ich habe hier einen Assistenzarzt, der sucht eine neue Stelle, was haben Sie denn da?“ Später ruft er dann als Postel an und sagt, er sei der junge Kollege.

Irgendjemand hat mal über Postel gesagt, er sei wie ein Schwamm. Er saugt alle Eindrücke auf und kann mit diesen Versatzstücken dann hantieren und sie fehlerfrei wiederholen. Auf diese Weise kann er sich seine Persönlichkeit und sein ganzes Wissen zusammenbauen.

In Zschadraß hat er aber dann auch ein bisschen anders gearbeitet als vorher, oder?
Er hatte einen kleinen, illustren Kreis von Leuten, die er in die Sache einweihte. Er macht es unter seinem Namen. Dann tauchte aber eine Krankenschwester aus Flensburg auf, die sich an die Geschichte von „Bartholdy“ erinnerte [Postel hatte sich Jahre früher in Flensburg als Amtsarzt Dr. Dr. Clemens Bartholdy ausgegeben], und dann ging es wieder los.

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Bist du dahintergekommen, warum er das alles eigentlich gemacht hat?
Das ist seine Art hochzustapeln. Das ist eine eigene Persönlichkeitsform, die ihm keinen echten Vorteil verschafft. Es gibt zwar den Versuch, in den höheren Mittelstand zu kommen, aber der wird nie erreicht. Es gibt auch keine Kohle, die er damit macht. Nur einen zweifelhaften Ruf, den er geerntet hat. Wenn man ihn fragt, gibt es unendlich viele Storys, die er erzählt.

Die Belegschaft der Blinden-werkstatt. Von den meist jüdischen Arbeitern konnten einige dank Weidt ihr Leben retten. Kais Film Ein blinder Held wird am 6. Januar in der ARD gezeigt.

Also hochstapeln um der Hochstapelei willen?
Vielleicht auch, weil er es gar nicht anders kann. Er hatte da keine Wahl. Also meine These war immer, wenn er in der Rolle ist, dann wird er ruhig. Ansonsten ist er umtriebig: Du hast dann jemanden, der Telefonverzeichnisse anlegt, der 7, 10, 15 Frauen am Tag anruft, mit spezieller Buchführung. Einfach, um an die ranzukommen, um Kontakt zu kriegen und sich mit denen zu treffen. Das waren alles Akademikerinnen über 30. Das ist sein Persönlichkeitsprofil, und das Hochstapeln beruhigt ihn, weil er da in einer Rolle aufgeht.

Das ist wie die Geschichte vom Schauspieler, der keine Persönlichkeit hat, wenn er nicht jemand anderen spielt.
Das würde ich ähnlich sehen, ja. Dass man sich eine Rolle im Leben sucht.

Wie bist du Postel das erste Mal begegnet?
Es ist so, als wir [den Film über] Postel gemacht haben, war das noch die Zeit, als noch nicht jeder ein Handy hatte. Wenn man damals einen ISDN-Anschluss hatte, kriegte man immer drei Nummern. Damals habe ich eine von diesen Nummern Postel mitgeteilt. Weil ich wusste, der ist Telefonjunkie. Das ist seine Bestimmung, sein Wesen. Der hängt am Telefon und stöhnt, belästigt und telefoniert einfach wild, spielt Telefonstreiche. Es war klar, wenn er anruft, dann wird er auf dieser Nummer anrufen, denn das ist die einzige Nummer, die er kennt—und er ist auch der einzige, der die Nummer kennt. Und dann hat er angerufen. Er meldete sich als Spiegel-Redakteur und sagte: „Herr Christiansen, ich habe gehört, Sie machen da was über Postel—wie ist der denn so?“ Da habe ich gesagt: „Das sind Sie doch selber.“ Da hat er gelacht, und das war der erste Kontakt. Das ist seine „Persönlichkeitsform“, diese Art, Rollen zu spielen. Ich glaube, er kann gar nicht anders leben.

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Das klingt, als wäre das pathologisch bei ihm. Hat Postel denn echten Schaden angerichtet mit seinen Lügen?
Da ist immer die Frage, was man für Schaden hält. Natürlich ist es so, dass Menschen psychiatrische Hilfe brauchen—und diese Hilfe wurde ihnen verweigert. Da kann er tausendmal erzählen, dass niemand zu Schaden gekommen ist. Das wird immer unterschätzt, weil man gerne Witze über die Psychiatrie macht, weil es so schwer vorstellbar ist. Psychiatrisch Kranke sind unangenehm für Nichtkranke. Das ist befremdlich, da will man nichts mit zu tun haben.

Denkst du, dass er die Psychiatrie auf diese Weise zu entmystifizieren scheint, ist der Grund dafür, dass ihn viele Leute so spannend finden?
Wir fanden das anfangs auch erhellend und witzig, dass uns einer die Verrückten so nahebringt. Also war die Frage: Ist er selber der Verrückte, oder sind es die anderen? Am Anfang war es eine Komödie. Wir wussten ja nicht, dass da so eine tieftraurige und böse Geschichte dahintersteht. Weil eben hinter der Hochstapelei eigentlich ein Stalker steht, der sein ganzes Leben damit verbringt, Leute zu verfolgen und zu hecheln und zu stöhnen und zu bedrängen, solange er nicht in seinem „Hochstapelmodus“ ist. Das ist alles erst bei den Recherchen rausgekommen.

Der Bürstenfabrikant genoss es, die Autoritäten an der Nase herumzuführen. (Fotos mit freundlicher Genehmigung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand)

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HIERONYMUS CARL FRIEDRICH VON MÜNCHHAUSEN (1720–1797)

Wie kam der arme Hieronymus zu seinem schlechten Ruf? Hat er wirklich so viel Mist erzählt?
Es gibt einen wahren Münchhausen und einen literarischen Münchhausen, das sind zwei verschiedene Figuren. Der Mensch, der da in Bodenwerder gelebt hat, hatte es tatsächlich geschafft, als junger Mann in russischen Diensten als Soldat zu arbeiten. Mit Anfang 30 war er schon wieder zurück auf seinem Hof und brachte auch eine exotische Frau mit, eine deutsche Lettin. Damit war er sicher etwas Ungewöhnliches in seiner kleinen Gemeinde. Er hat in den adeligen Kreisen, in denen er verkehrte, etwas aus der fernen Welt erzählt, und er beherrschte vermutlich ganz gut das, was man heute Jägerlatein nennt.

Das ist dann der Ursprung der Geschichten, die man heute mit ihm assoziiert?
Vielleicht drei oder vier von den großen Geschichten, die wir heute alle kennen, waren tatsächlich in seinem Repertoire. Ganz viele der Geschichten, die wir heute als Münchhausen-Geschichten kennen, sind Tausende von Jahren alt. Die haben schon immer kursiert, aber das wirkte dann wie ein Salzkristall, alles haftete plötzlich an dem Mann an.

Wie kam es denn zu seiner Berühmtheit?
Es waren in Wirklichkeit nur sehr wenige, meist nur Adelige, die ihn kannten und diese Geschichten hörten. Aber in den akademischen Kreisen von Göttingen machte dieser Name die Runde. Die Akademiker sind ja eher arm, die Adeligen sind eher reich, also verspotteten die Akademiker gerne die reichen, dummen Adeligen. Der Name Münchhausen wurde da zu einer satirisch überhöhten Witzfigur in schlauen Kreisen. Man nimmt einen Witz, den man eh schon kennt, und setzt den auf diesen Namen. Dabei war der wahre Münchhausen ein entfernter Verwandter des Gründers der Universität von Göttingen!

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Wie wurden dann aus diesen mündlichen Überlieferungen die heute so bekannten Geschichten?
Wahrscheinlich wurden schon sehr früh ein paar dieser Witze aufgeschrieben. Aber die ganze Geschichte nahm einen so rasanten Verlauf, weil der Autor des ersten großen Münchhausen-Buches ein auf der Flucht befindlicher Wissenschaftler aus Kassel namens Rudolf Erich Raspe war. Der floh nach London, weil er in Kassel Münzen gestohlen hatte. Das war einer der größten Professoren seiner Zeit! Einer der bestbezahlten und renommiertesten Denker, einer der schlausten Menschen der Welt. Raspe hat Verfahren erfunden, zum Beispiel zur Stahlhärtung, die bis heute gelten. Er hat geologisches Grundlagenwissen geschaffen, er war also ein sehr angesehener Mann—der aber in großer Geldnot war. Als er floh, wurde er in England erst mal wohlwollend aufgenommen, aber dann bekam er den Ruf, ein Betrüger zu sein, und dann hat keiner mehr was mit ihm zu tun haben wollen. Aus Geldnot schrieb er dann ein Witzebuch, und kam auf die Idee, vorne einen Autoren reinzuschreiben. „Dies ist das Buch von Baron von Münchhausen, nahe Hameln an der Weser“. Er schrieb also die Adresse rein, und damit wusste jeder, welcher Münchhausen gemeint war. Und das war der eigentliche Knaller, dass ein echter Adeliger es gewagt hatte, so eine Geschichte zu schreiben.

Also ist Raspe der wahre Hochstapler in der Geschichte?
Ja! Er ist der echte Hochstapler, der wirkliche Münchhausen. Er ist der, der alle belügt und alle austrickst, weil er es perfekt kann. Weil er Wahrheit und Fiktion in einer Art und Weise verdrehen und verwechseln kann, die kein anderer beherrscht. Er kennt eben die ganze Literaturgeschichte, kann alle Geschichten rauf- und runterbeten, und er kennt alle großen Erfindungen seiner Zeit. Beispielsweise die Reise mit dem Ballon: Es gab Gerüchte, dass Leute mit einem Ballon in die Luft geflogen waren. Das taucht in Münchhausen erst als eine Wolke auf, da gibt es verschiedene Varianten, aber was kommt am Ende raus? Der Ritt auf der Kanonenkugel—das ist einfach die geilere Geschichte.

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Denkst du, dass die Leute auf solche Geschichten damals wirklich reingefallen sind?
Das hat natürlich keiner geglaubt, aber es entspricht den Meldungen dieser Zeit, den großen Entdeckungen. Aber die Grundintention Raspes war wahrscheinlich, dem Adel die Maske runterzureißen und zu zeigen, das sind alles Aufschneider und Spinner. Das war ja anonym gedruckt, die Bücher sind unter der Ladentheke verkauft worden, das war böseste Satire.

Weißt du, ob sich Raspe und Münchhausen jemals begegnet sind?
Darüber gibt es viele Gerüchte. Im Film haben wir eine Begegnung angenommen, die wir für wahrscheinlich halten. Raspe hat in Kassel ein großes Museum geleitet—einer von den tausend Jobs, die er hatte—und in dem Besucherbuch sind ganz viele Münchhausens eingetragen. Ob er den aus Bodenwerder wirklich mal getroffen hat, ist die Frage—und selbst wenn sie sich getroffen haben, haben sie bestimmt nicht viel geredet, denn es war eine Ständegesellschaft, und das war Raspes Problem. Er war nicht auf einem Stand mit Münchhausen—der übrigens auch nie Baron war, sondern nur Rittmeister!

Hat Münchhausen darunter gelitten?
Ja. Über Studenten ging das Buch wahrscheinlich zurück nach Deutschland, aber alles erschien ja anonym, und das traf dann den echten Münchhausen. Ein Landadeliger, der seinen Hof bestellt und in adeligen Kreisen durchaus als guter Erzähler einiger netter Anekdoten bekannt ist, verliert plötzlich Ruf und Ehre. Erst mal schreibt man als Adeliger ja keine Witzebücher, das war einfach völlig degoutant. Und es war auch eine Rufschädigung, weil dann der Begriff des Lügenbarons aufkam.

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Hat er denn nicht versucht, sich zu wehren?
Er hatte nach dem Tod seiner ersten Frau einen großen Ehestreit, als er eine junge Nachbarstochter aufnahm, die ihm eigentlich von einem verarmten benachbarten Adeligen untergeschoben wurde. Die war 19, 20 Jahre alt und er war ja schon Ende 60, aber sie verheiratete sich mit ihm, denn sie war schon schwanger und musste schnell unter die Haube gebracht werden. Dann kam es zu einem Scheidungsprozess, bei dem ihre Anwälte sehr clever waren und das berühmte Buch nahmen, um zu sagen: „Kuckt mal, das ist ein Lügner, er sagt nie die Wahrheit!“ Und er verliert, er verliert alles. Die wahre Person scheitert an der literarischen Figur. Sein Ruf war tatsächlich vor Gericht ruiniert, sie gewann das Scheidungsverfahren, und er verlor Haus und Hof. Das ist die wahre Geschichte von Münchhausen. Aber immerhin: Es ist eines der meistgelesenen Bücher der Weltliteratur geworden. Eine der ganz großen Geschichten.

Zur Zeit von Münchhausen begannen Gerüchte über die ersten Ballonflüge die Runde zu machen. Die Geschichte vom Ritt auf der Kanonenkugel könnte daraus entstanden sein. (Foto mit freundlicher Genehmigung vom NDR/GBF)

OTTO WEIDT (1883–1947)

Wie passt der Held Otto Weidt zu den anderen beiden?
Otto Weidt war auch ein Hochstapler, ganz klar. Er hatte ein anarchistisches Grundmotiv, der hatte Spaß daran, als vom Leben Gezeichneter letztlich dem Leben ein Schnippchen zu schlagen. Und weil er von Haus aus Pazifist und Anarchist war, war es für ihn eine Genugtuung, den Nazis eine Rolle vorzuspielen. Er hat da einen Spaß drin gesehen. Ich frage mich, ob ihm von Anfang an in der Konsequenz klar war, wie wichtig er später werden würde. Am Anfang ging es ihm einfach um eine Obrigkeit, der man ein Schnippchen schlagen konnte.

Das heißt, er hat die Nazis zu Anfang nur aus Spaß belogen?
Es ging am Anfang erst mal um seine eigene Existenz, die er sich dadurch sicherte. Er war als Maler und Anstreicher relativ erfolglos. Wir wissen nicht, warum er erblindet war, aber er konnte danach als Maler nicht mehr arbeiten. Also hat er als Bürstenfabrikant gearbeitet oder die Fabrik übernommen, das wissen wir nicht so genau. In dem Moment, wo er anfing, mit den Mächtigen seiner Zeit Geschäfte zu machen, hatte er auch einen unglaublichen finanziellen Benefit. Jemand, der sehr, sehr arm war und eine kleine, schlecht laufende Blindenwerkstatt hatte, hatte—über die Geschäfte mit der Wehrmacht—für seine Verhältnisse eine echte Form von Wohlstand erreicht.

Also war er eigentlich sowohl der erfolgreichste als auch der moralisch bewundernswerteste Scammer.
Ja, aber am Anfang ging es erst mal darum, zu überleben. Er hat sich selber nie als Lebensretter oder als Held gesehen. Er hat einfach sein Leben gemeistert. Aber er ist in dieser Rolle weit über alles hinausgewachsen, was wir im Leben jemals hinbekommen werden. Das ist eine Lebensleistung, die ist vollkommen unheimlich. Der Sinn der ganzen Hochstapelei ist da viel größer, da geht es um was, da geht es im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod.

Wie kam es dazu, dass er so viele Juden beschäftigte?
Durch die neuen Rassengesetze der Nationalsozialisten kam er plötzlich in Kontakt mit hoch qualifizierten Leuten, die er sonst nie bekommen hätte. Weil die Nazis die Menschen ausgegrenzt haben, haben sie bei ihm gearbeitet, und er hatte plötzlich gute Arbeiter, ein gutes Büro, gute Sekretärinnen, er hatte plötzlich Leute, weil die sonst nirgendwo unterkamen. Weidt nahm sie als Arbeitskraft, und der Nazi vom Amt bedankte sich noch bei ihm und sagte: „Sie sind so toll, Herr Weidt, dass Sie uns die ganzen Leute abnehmen, die wir alle nicht nutzen können!“ Die sind da sicher sehr viel argloser gewesen, weil er so toll mitgespielt hat. Er hatte also unbeabsichtigt erst mal einen großen Gewinn aus dieser Situation. Auch von der Wehrmacht, die die Bürsten brauchte für die Uniformen.

Die er dann laut deinem Film lieber an Karstadt verkauft hat.
Ja, das hat ihm mehr Spaß gemacht.

Trotz seiner Taten würdest du Weidt als Hochstapler bezeichnen. Wäre Oskar Schindler in dem Sinne auch ein Hochstapler gewesen?
Der Unterschied zu Schindler ist, Schindler war Nazi. Das ist natürlich eine Passionsgeschichte: Jemand, der in einem bestimmten politischen System funktioniert hat und dann eine Form von Mitmenschlichkeit entdeckt. Das ist bei Otto Weidt überhaupt nicht so. Er war jemand, der völlig außerhalb der Gesellschaft funktionierte.

Was meinst du damit genau? Wie kann man sich ihn vorstellen?
Er war ein Anarchist, ein Hobbylyriker—er hat scheußliche Gedichte geschrieben, sagen wir’s ruhig. In der Vorstellung der Menschen war Otto Weidt ein eleganter Mann. Er hatte ein elegantes Auftreten, er wollte ein Bohemien sein. Aber in Wirklichkeit war er natürlich ein Maler und Lackierer ohne große Bildung, der abgeschabte Schuhe trug. Der aber einen auf was Besseres machte. Er hatte—im positiven Sinne—immer diesen Hochstapler-Impuls. Das war gut für ihn als Verkäufer und vielleicht auch zum Überspielen seines Handicaps.

Es gibt eine Szene im Film, in der er seine eben verhafteten Arbeiter aus dem SS-Hauptquartier gerade noch einmal auslöst. Kurz danach sieht man die ganze Truppe auf der Straße, wie sie sich aneinander und an den Hauswänden festhalten, um im Gänsemarsch wieder in ihre Fabrik zu gelangen. Ein skurriles Bild, wie dieser Haufen Unerwünschter und Schwacher mitten durch die verschneite Nazi-Hauptstadt irrt.
Es gibt ja diese Metapher, dass der Einzige, der etwas sieht, der Blinde ist. Es gibt ja in dem Film diese eine Szene: An diesem Tag werden die Letzten eingesammelt, es ist eine Säuberung, eine Massenverhaftung und -deportation. Und Inge beschreibt, wie die Menschen am Fenster stehen und sich verstecken—weil sie doch interessiert sind an dem Gruseleffekt, aber auch nicht hinkucken wollen. Nachher haben natürlich alle aus Scham oder Selbstverteidigung gesagt, sie haben es nicht gesehen. Also ist Otto Weidt so etwas wie der einzig Sehende unter lauter Blinden, obwohl er eigentlich der einzig Blinde unter lauter Sehenden ist, das ist, finde ich, das Verrückte an der Geschichte.