Schönheitsideal

Hört auf, uns fürs Abnehmen zu loben

"Menschen verbuchten diese harte Phase in meinem Leben als etwas Gutes, während ich mich beschissen fühlte." – Jaqueline, 26 aus Wien
Dünne Frau, die sich abmisst
Foto: Imago Images | Panthermedia || Bearbeitung: VICE

Googelt man "Adele hat abgenommen", öffnen sich die widerlichen Weiten des Internets, die zeigen, wie kaputt unsere Gesellschaft ist. Rund 45 Kilogramm soll die Sängerin nach ihrer Scheidung abgenommen haben. Medien sind sich auch 2020 nicht zu schade dafür, über das "Geheimnis ihrer Super-Diät zu schreiben". Logisch machen solche Pseudo-Abnehmtipps vielen Frauen Druck. Ja, für manche ist es sogar gefährlich, wenn Mitmenschen ihr Aussehen, insbesondere ihre Gewichtsabnahme, loben.

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Sechs Frauen erklären, warum sie abgenommen haben – und welche Folgen die vielen Kommentare auf ihre Gesundheit hatten.

Jessy*, 32, Freelancerin aus Wien

Ich hatte vor drei Jahren die erste schwere depressive Phase in meinem Leben und verlor dadurch Gewicht. Ich hatte immer schon ein leicht gestörtes Verhältnis zu Essen und habe mein Gewicht selten über einen längeren Zeitraum gehalten. So fiel das Abnehmen erstmal nicht auf.

Ich verließ mein Bett selten. War ich doch mal unterwegs, wurde mein Gewicht stetig kommentiert. Das ging von "Oh, du siehst aber nicht gut aus" bis hin zu "Hammer, siehst richtig gut aus" – beides hat meine Situation erschwert. Ich habe mich selbst gehasst, und gleichzeitig haben mich solche Kommentare in meiner Appetitlosigkeit bestärkt. Ich genoss es, als schön wahrgenommen zu werden, ohne irgendetwas dafür zu tun. Ich fühlte mich in meinem Leid anerkannt. Besonders absurd war, dass meine Appetitlosigkeit viele als positives Lebensgefühl interpretierten.

Wenige Monate darauf starb mein Vater, die traumatischste Zeit in meinem Leben. Ich nahm mehr als zehn Kilo ab. Das Feedback war unglaublich. Ich fühlte mich so schuldig: Während ich innerlich gestorben bin, sah ich nach außen "super" aus. "Wow, du hast aber abgenommen, endlich siehst du so aus wie früher", hieß es von meinen Mitmenschen. Oder: "Dieses Mal musst du dein Gewicht halten – steht dir super. Veränder dich bloß nicht!" Ich sollte also für immer die trauernde Tochter bleiben.

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Ich habe versucht, mich unvorteilhaft anzuziehen, weil ich bei jedem Kommentar mit den Tränen kämpfen musste. Das Schlimmste war, dass ich dachte, ich verrate meinen Vater. So als würden mir diese ganzen Komplimente meine Trauer absprechen. Manche witzelten, dass sie mich gar nicht wiederkennen würden. Ich dachte: Ich erkenne mich selbst ja auch nicht mehr. Sogar diejenigen, die wussten, was ich durchmache, haben kein Blatt vor den Mund genommen. Sie haben durch mein neues Erscheinungsbild wohl vergessen, wie schlecht es mir ging."

Ena, 23, Studentin aus Wien

Ich bin mit 17 an Knochenkrebs erkrankt. Entweder war ich vom vielen Cortison aufgeplustert wie ein Kugelfisch oder ich sah aus, als könnte ich bei Germany’s Next Topmodel mitmachen. Beides wollte ich nicht. Zurzeit kann ich gar nicht essen, weil ich jedes Mal erbrechen muss. Stattdessen schaue ich den ganzen Tag Kochsendungen und male mir aus, was ich essen werde, wenn ich es wieder kann.

Kürzlich habe ich einer Freundin von meinen Problemen erzählt. Ich sagte ihr auch, dass ich sieben Kilo abgenommen hätte. Daraufhin meinte sie, das sei doch etwas Positives in dem Ganzen. Was genau gut daran sein soll, dass ich nicht essen kann, verstehe ich bis jetzt nicht. Ich kommentiere das Aussehen anderer wegen meiner Erfahrungen nicht mehr, außer ich mache mir ernsthafte Sorgen um ihre Gesundheit. Selbst dann frage ich möglichst vorsichtig nach. Ehrlich, das Einzige, woran ich denke, ist die selbstgemachte Pizza meiner Mutter, die ich hoffentlich bald wieder essen kann.

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Tammy, 23, in Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin, aus Aachen

Ich hatte schon immer ein gestörtes Verhältnis zu Essen. In den ersten Jahren meines Lebens manifestierte sich das größtenteils durch Frustessen, Überessen und Fressanfälle. So nahm ich irgendwann deutlich an Gewicht zu.

Vor etwa neun Jahren hörte ich von jetzt auf gleich auf, mich vollzustopfen. Über Tage hinweg aß ich nichts mehr und wenn, dann nur sehr geringe Mengen. Außerdem fing ich an, immens viel Sport zu machen, meist nachts, damit ich tagsüber noch Schule und Haushalt erledigen konnte. Ich verlor rasant Gewicht, was natürlich nicht unbemerkt blieb. Überall bekam ich Komplimente, wie schön ich abgenommen hätte. Leute fragten mich, ob ich Tipps geben könne. Das stachelte mich erst recht an, nichts zu essen, und ich wurde immer depressiver, weil das Leid und der Schmerz, die dahinter steckten, nicht gesehen wurden.

Am Ende bin ich in einer Klinik gelandet. Nur langsam und mit vielen Rückschlägen wurde die Essstörung besser, und bis heute ist es ein täglicher Kampf, mit ihren Symptomen zurechtzukommen.

Bea, 32, Kulturwissenschaftlerin und Podcasterin aus Wien

Ich habe 2012 meine Magisterarbeit sehr schnell runtergeschrieben, in eineinhalb Monaten. Das war eine stressige Zeit, ich habe kaum gegessen, wenig geschlafen. Nach der Abgabe sind die Anspannung und die Angstzustände geblieben. Mein ganzes Nervenkostüm war hinüber. Ich war immer schon etwas dicklicher, und zum Zeitpunkt der Diplomarbeit wog ich etwa 90 Kilogramm. Danach habe ich 40 Kilo abgenommen, bin von Größe 46 runter auf Größe 36. Ich habe infolge dieser Gewichtsabnahme diverse Mangelerscheinungen gehabt. Mir sind Haare ausgefallen. Zahnprobleme, Hautprobleme. Meinem ganzen Körper ging es nicht gut.

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Mein Verhältnis zu meinem Körper ist sowieso sehr speziell, weil ich eben schon als Kind mollig war und deswegen gemobbt wurde. Ich wurde zum Beispiel als "fette Sau" beschimpft. Nachdem ich abgenommen hatte, bekam ich auf einmal Anerkennung. Einerseits hat es mich gefreut, nicht mehr die "fette Sau" zu sein. Aber mir war natürlich klar, dass ich aufgrund meiner psychischen Erkrankung und des Stresses so viel Gewicht verloren habe. Ich wusste, dass ich nicht gesund bin.

Aber ich habe sehr viele Komplimente bekommen, Menschen haben mich für mein Gewicht bewundert. Dass ich meinen Abschluss mit Auszeichnung geschafft habe, hat dagegen kaum jemanden interessiert. Es ging nur um mein äußeres Erscheinungsbild.

Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich bei meinem Ex-Freund war und eine Tante von ihm meinte, es sei toll, wie viel ich abgenommen hätte, "Hut ab". Sie war bei dieser Familienfeier ungefähr die Zehnte, die Geheimtipps zum Abnehmen von mir wollte und mich mit Komplimenten überschüttete. Bei ihr hatte ich keine Lust mehr darauf und ich habe trocken gesagt: Nichts essen hilft. Sie hat daraufhin bloß ihr "Hut ab" wiederholt.

Die Message war eindeutig: Die wichtigste Aufgabe einer Frau ist es, normschön zu sein. Also auch schlank. Egal, wie es einem dabei geht und welche Auswirkungen das auf einen selbst und andere hat. Für eine Frau ist immer der Körper das Wichtigste. Entweder wirst du für dein Gewicht abgewertet oder du erhältst Anerkennung.

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Jaqueline, 26, Sozialarbeiterin aus Wien

Als Menschen angefangen haben, meine Gewichtsabnahme zu kommentieren, habe ich mich nicht gesehen gefühlt. Ich wusste, dass es mir nicht gut geht, und ich dachte eigentlich, dass das nach außen getragen wird. Aber das war nicht so, und ich habe mich in meiner Situation noch schwerer getan. Menschen verbuchten diese harte Phase in meinem Leben als etwas Gutes, während ich mich beschissen fühlte.

Niemand hat Rücksicht darauf genommen, welche Auswirkungen die Gewichtsabnahme für mich hatte, ich war gesundheitlich in einem schlechten Zustand. Aufzuhören zu essen, kann ein Hilfeschrei sein, und der wurde von vielen nicht gehört.

Es erzeugt wahnsinnig viel Druck, wenn man plötzlich mit Komplimenten überschüttet wird, weil man dünner ist. Eigentlich müsste man ja widersprechen, aber mir ist das kaum gelungen. Ich habe es nicht geschafft, die Hürde zu überwinden und zu sagen: Hey, eigentlich geht es mir gerade sehr schlecht.

Julia, 22, Studentin aus Gelsenkirchen

Nach sehr vielen Fehldiagnosen wurde mir ADHS attestiert. Ich hatte mein Abi gerade beendet und wollte erstmal ein Jahr arbeiten und dann Jura studieren. Die Diagnose, die Medikamente und die Therapie halfen mir, einen strukturierten Alltag zu führen. Das erste Mal schaffte ich es, regelmäßig und gesund zu essen. Vorher ist mir das oft nicht gelungen, weil mein Gehirn zu überfordert dafür war. Viele Menschen mit ADHS neigen zu Suchterkrankungen. Welche Kleidungsgröße "meine" ist, wie viel ich wiege, wie hoch mein IQ ist, wie groß ich bin – all das wollte ich nie genau wissen, aus Angst, in irgendeiner Form obsessiv zu werden. Der Gedanke, mich in Zahlen zu vermessen, löst in mir Unbehagen aus.

Wiederkehrende depressive Episoden habe ich, seit ich 12 bin, und sie halten bis heute an. Meistens kommen sie alle drei bis vier Monate und bleiben zwei bis drei Wochen. Eine Episode im letzten Jahr wollte allerdings keine Episode bleiben, sie wandelte sich zu einer ausgewachsenen Depression. Seit ungefähr einem halben Jahr habe ich keinen Appetit mehr. Essen ist etwas, das ich aus Pflichtgefühl tue, weil ich weiß, dass ich es muss. Manche ADHS-Medikamente können einigen Patienten ein wenig auf den Magen schlagen. Bei manchen bleibt das Hungergefühl aus. Eigentlich war das für mich keine negative Nebenwirkung – ich war gezwungen, zumindest morgens und mittags vor der Einnahme etwas zu essen, und konnte meinen Rhythmus so besser beibehalten.

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Durch die Depressionen zusammen mit den Nebenwirkungen wurde das Essen aber teilweise schwer, gefühlt oft unmöglich. Immer wieder bin ich letztes Jahr ins Untergewicht gerutscht. Ein, zwei Kilo klettere ich dann wieder hoch, wenn ich es eine Weile schaffe, mich selbst zum Essen zu zwingen. Seit ich im Untergewicht bin, kriege ich laufend Komplimente für mein Gewicht. Obwohl mein Körper kaum erkennbar ist unter der Kleidung, in der ich mich momentan gern verstecke, loben die Leute, dass ich abgenommen habe. Bedankt habe ich mich dafür kein einziges Mal.

Ich habe nicht mit Absicht abgenommen – noch nie. Ich empfinde es nicht als Leistung. Ich bin zurzeit krankgeschrieben und muss mit meinem Studium kurz vor dem Repetitorium pausieren. Die Weihnachtszeit, in der viele die Heimat besuchen, war für mich ein Spießrutenlauf. Die Mitschüler von früher, die en masse bemerkten, wie "gut" ich und vor allem meine Figur aussahen, ließen mich mit einem bitteren Gefühl nach Hause kommen.

Die eigentliche Leistung ist, dass ich gegen meine Depressionen kämpfe. Lobt mich jemand für mein Untergewicht, muss ich mich dagegen wehren zu denken: Dein Gewicht ist das Einzige, was du im Griff hast. Manchmal frage ich mich: Werden diese Menschen es als etwas Negatives empfinden, wenn ich wieder gesund bin und auch so aussehe?

Du leidest an psychischen Problemen oder sorgst dich um einen nahestehenden Menschen? Die Nummer der Telefonseelsorge in Deutschland ist 0800 111 0 111. In dieser Liste sind bundesweite Anlaufstellen für Menschen mit Depressionen aufgeführt. Die Nummer der Telefonseelsorge in der Schweiz ist 143. Die Nummer der Telefonseelsorge in Österreich ist 142. Den Notfallpsychologischen Dienst erreichst du hier unter 0699 18 85 54 00.

*Die Namen wurden auf Wunsch der Protagonistinnen anonymisiert.

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