Eine Frau kniet vor einer Hauswand. Man sieht Grabenkerzen und Blumen. An der Hauswand steht: "Polizei=Mörder".
Alle Fotos: Franziska Lange
Politik

Der Fall Maria: Was (nicht) passiert, wenn Polizisten töten

War die junge Frau eine Gefahr für den Polizisten? Handelte er wirklich aus Notwehr? Warum das wohl nie aufgeklärt werden wird.

Eine junge Frau kniet vor brennenden Grabkerzen vor einem Wohnhaus in Berlin-Friedrichshain. Sie weint und steckt frische Tulpen in eine Vase. Noch immer kann sie nicht glauben, dass das wirklich passiert sein soll: dass in diesem Haus vor wenigen Tagen, am 24. Januar, eine junge Frau erschossen wurde. Von einem Polizisten, der sich von einem Messer in ihrer Hand bedroht gefühlt haben will: Maria starb noch in ihrer Wohnung. Sie wurde nur 33 Jahre alt.

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Die Frau mit den Tulpen arbeitet beim gegenüberliegenden Frauenarzt, Maria war dort Patientin. Die Frau sagt, Maria habe psychische Probleme gehabt. Aber dass vier bewaffnete Polizisten keine andere Wahl gehabt hätten, als auf Maria zu schießen, eine Frau, die an Multipler Sklerose litt und nicht einmal 50 Kilogramm wog – das kann sie nicht glauben. "Die Frau konnte man umpusten, so dürr war die," sagt der Mann, bei dem Maria regelmäßig ihre Pakete abholte. Andere Nachbarn sagen, Maria habe Drogen genommen und sei oft auch mal laut geworden. Laut Tagesspiegel war sie der Polizei bekannt. Aber bedrohlich? Einer sagt: "Maria hatte Arme wie Salzstangen."

War Maria wirklich eine Gefahr für die Beamten? Die Menschen, die sie kannten, zweifeln daran. Und sie sind damit nicht allein: Am Wochenende nach dem tödlichen Schuss versammelten sich spontan gut 100 Menschen vor dem Haus, in dem sie lebte. In Marias Wohnung sollen Fahnen in den Antifa-Farben Schwarz und Rot gehangen haben. Deshalb hat für einige vor Ort ihr Tod wohl auch eine politische Dimension. An die Hauswand hat jemand gesprayt: "Polizei = Mörder". Es ist ein Graffiti der Wut. Die Berliner Staatsanwaltschaft und eine Mordkommission des LKA ermitteln in diesem Fall wegen vorsätzlicher Tötung.

Dass dabei herauskommt, dass den Polizisten eine Schuld trifft, ist jedoch äußerst unwahrscheinlich. Ermittlungen gegen Polizisten, die im Dienst Menschen verletzen oder gar töten, werden so gut wie immer eingestellt. Laut einer Studie der Ruhr-Universität Bochum kommt es in gerade einmal sechs Prozent der Fälle, in denen wegen unrechtmäßiger Gewaltanwendung gegen Polizisten ermittelt wurde, überhaupt zu einer Anklage.

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Auch bei VICE: Die Geschichte eines erzwungenen Geständnisses


Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin sagt gegenüber VICE, der Einsatz in Marias Wohnung werde nun erst einmal ausgewertet. Eine schriftliche Anfrage zu den Ermittlungen beantwortete die Staatsanwaltschaft bisher nicht. Abwarten, ruhig bleiben, erstmal alle Fakten prüfen, diese Signale sendet die Staatsanwaltschaft. Laut der Berliner Morgenpost hat Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik den Einsatz dagegen schon am vergangenen Montag vor Abschluss der Ermittlung verteidigt. Nähert sich ein Mensch den Beamten mit einem Messer – wie Maria es laut Polizei getan hat –, "ist zur Eigensicherung der Schusswaffengebrauch durchaus vorgesehen", sagte sie im Innenausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses.

Es könnte also sein, dass sich Marias Tod in eine ganze Reihe von Fällen einreiht, bei denen es für Beobachtende so aussieht, als habe die Polizei unangemessen gehandelt – ohne dass daraus Konsequenzen für die Beamten entstehen. Notwehr, vermeintliche oder echte, als Argument, um jede Ermittlung abzuwürgen. Das passiert nämlich immer wieder, gerade in Berlin.

Blumen und Grabkerzen stehen auf dem Bordstein. Auf den Grabkerzen kleben Sticker mit linken Botschaften.

Im Jahr 2018 wurden elf Menschen von Polizisten erschossen. Jeder dieser elf Menschen hatte eine Geschichte. Jeder von ihnen hinterlässt Menschen, die um ihn oder um sie trauern. So wie Maria in Berlin

Zum Beispiel im Oktober 2012. Gegen Mittag wankt der 50-jährige André Conrad betrunken mit einem Messer in der einen und einer Bierflasche in der anderen Hand durch den Berliner Wedding. Anwohnende rufen die Polizei. Als die Beamten eintreffen und Conrad ansprechen, weigert der sich, sein Messer fallen zu lassen. Wenig später fallen Schüsse, sechs Kugeln treffen Conrad in Bauch und Beine. Er geht stark blutend zu Boden. Weil er das Messer nicht loslässt, treten die Beamten nach, sprühen ihm Pfefferspray in die Augen. Conrad stirbt zwei Wochen später an seinen Verletzungen. Die Polizisten müssen sich niemals vor Gericht verantworten.

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Oder im Juni 2013. Der unter Drogen stehende und an Schizophrenie leidende Manuel F. badet nackt im Neptunbrunnen am Alexanderplatz. Als Polizisten anrücken, zückt der 31-Jährige ein Brotmesser und schneidet sich damit in den Hals. Manuel F. reagiert nicht auf die Aufforderung eines Beamten, sein Messer wegzulegen. Ein Beamter steigt in den Brunnen, Manuel F. geht schwankend mit dem Messer auf ihn zu, der Polizist weicht zurück, er ruft noch "Messer weg!", dann drückt er ab. Schon zwei Monate später werden die Ermittlungen gegen die Beamten eingestellt.

"Polizisten haben Narrenfreiheit", sagt ein Anwalt, der seit Jahrzehnten für Opfer von Polizeigewalt kämpft.

In solchen Fällen wenden sich Angehörige oder Hinterbliebene an den Berliner Anwalt Hubert Dreyling. Er hat schon oft versucht, Polizeigewalt vor Gericht zu bringen. Besonders, wenn es um tödliche Schüsse ging.

Im Gespräch mit VICE erhebt er schwere Vorwürfe: "Polizisten haben teilweise Narrenfreiheit und die Strafjustiz deckt sie." Dreyling kritisiert, dass die Staatsanwaltschaften sich auf die Ermittlungsergebnisse von Polizisten stützen. "Unter Kollegen hält man zusammen wie Pech und Schwefel", sagt Dreyling und das sei ein Problem: Viele Beamten kennen einander und sollen doch gegeneinander ermitteln. Und anschließend, vor Gericht, sollen sie ausgerechnet ihren Kollegen als Zeugen belasten.

Obwohl Dreyling den Fall Maria bisher nur aus der Zeitung kennt und noch sagt, man müsse mit der Beurteilung vorsichtig sein, wagt er eine Prognose: "Ich denke, die Staatsanwaltschaft wird die Ermittlung in diesem Fall einstellen. Oder den Vorwurf runterdrücken: von Mord auf Körperverletzung mit Todesfolge. Ich kann mir vorstellen, dass es am Ende heißt: Das Messer war bloß wenige Zentimeter von der Brust des Beamten entfernt, Ausweichen unmöglich! Also musste er schießen."

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Auch der Anwalt Mathes Breuer, der in München häufig Opfer von Polizeigewalt vertritt, sagt: "Ich halte es für unwahrscheinlich, dass die Polizeibeamten sich vor Gericht verantworten müssen. Statistisch werden fast alle Verfahren gegen Polizeibeamte eingestellt. Wie der Fall Oury Jalloh zeigt, führen auch deutliche Indizien regelmäßig nicht zu einer Anklage gegen Polizeibeamte."

Trauernde haben Zettel in die Fenster geklebt. Darauf steht, dass sie den Tod von Maria bedauern. Sie kritisieren die Polizei.

Ein Polizist, der schießt, wird selten als Individuum wahrgenommen, sondern meistens als strukturelles Problem: Der Staat greift seine Bürger an

Breuer und Dreyling argumentieren aus der Praxis. Aus ihren eigenen Erfahrungen und Fällen wie Maria oder Oury Jalloh, die sie beobachten. Ein Forscherteam der Ruhr-Universität Bochum hat sich dem Thema systematisch angenommen. Zunächst befragten das Forscherteam mehr als 3.000 Opfer von Polizeigewalt und nun, in einem zweiten Schritt, die Polizisten selbst. Das Forschungsprojekt "Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen", das gerade entsteht, ist die erste groß angelegte Studie, die sich der Frage widmet: Warum wird Polizeigewalt so selten verfolgt? Warum hat es so selten Konsequenzen, wenn Polizisten im Einsatz Menschen verletzen oder sogar erschießen?

Laila Abdul-Rahman aus dem Forscherteam in Bochum sagt, obwohl die Staatsanwaltschaft die sogenannte "Herrin im Verfahren" ist, nehme sie selten ihr Recht wahr, Zeugen erneut zu vernehmen. Sie verlässt sich also oft ausschließlich auf die Aussagen und Ermittlungen der Polizisten. Es gebe zwar Bemühungen, unabhängige Ermittlungsstellen zu etablieren, sagt Abdul-Rahman: In Berlin wird es bald einen Landespolizei-Beauftragten geben, der ausschließlich dem Berliner Abgeordnetenhaus verpflichtet sein wird. Doch in dieser Idee steckt ein neues Problem: ein Beauftragter oder eine Beauftragte für ein Bundesland mit 17.000 Polizisten. So eine Stelle bräuchte viele Mitarbeiter – und die kosten Geld, von dem es im klammen Berlin ohnehin zu wenig gibt.

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Ein Werkzeug für bessere Aufklärung tragen einige Polizisten schon heute bei sich: Body-Cams. Sie müssten sie nur anders benutzen.

Abdul-Rahman sagt, oft fehlten "objektive Beweise", wie etwa DNA-Spuren oder Videoaufnahmen, die vor Gericht benutzt werden könnten. Im Fall von Maria gibt es außerdem abgesehen von den Polizisten keine "Drittzeugen", wie Abdul-Rahman sie nennt, deren Aussage man benutzen könnte. Ihr Mitbewohner, der die Polizei rief, hatte die Wohnung verlassen. Gefilmt hat die Tat niemand.

Dabei gebe es eine Möglichkeit, mit der immer Videoaufnahmen von solchen Polizeieinsätzen verfügbar wären: Body-Cams. In Deutschland sind nicht alle Polizisten damit ausgestattet. Und wenn sie es doch sind, dürfen sie meist selbst entscheiden, ob und wann sie sie einschalten. Videoaufnahmen, die Polizisten machen, etwa bei Demos oder Fußballspielen, dienen bisher nur dazu, Beweismittel zu sammeln, die die Polizei für sich verwenden kann. Es wäre möglich, sagt Abdul-Rahman, dass man umdenkt: Body-Cams, die bei solchen Einsätzen verpflichtend mitliefen, würden so auch Beweise gegen Polizisten sammeln. Allerdings würde eine Body-Cam auch nur Bilder aus der Perspektive des Polizisten liefern.

Noch mehr abgelegte Blumen und Botschaften, die die Polizei kritisieren. Darunter:

Kinder lernen Beamte als "dein Freund und Helfer" kennen" das Vertrauen in die Polizei ist eine sehr deutsche Denkkonstante. In Friedrichshain ist es erschüttert

In Fall von Maria würden vor Gericht also die Bilder einer Frau gezeigt werden, die mit einem Messer auf Polizisten losgeht. Dem Gefühl von Gefahr oder Bedrohung, das in dem Polizisten in diesem Moment womöglich aufkam, widersprechen sie nicht – selbst bei einer Frau wie Maria , über die einer ihrer Nachbarn an diesem Tag in Friedrichshain gesagt hatte, sie habe "Arme wie Salzstangen" gehabt.

Vor Marias Haustür im untersten Stock des Wohnhauses haben Trauernde Schilder aufgehängt. Auf einem steht "R.I.P. Maria", darunter weiße Lilien. Am 1. Februar wolle man wieder demonstrieren, sagt einer von Marias Nachbarn. Im Stillen. Für Maria und gegen Polizeigewalt.

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