Eine Illustration zeigt ein älteres Elternpaar, dem eine eine junge Frau aus der Ferne zuwinkt; wir beantworten mithilfe eines Psychologen die Leserfrage, ob man ein schlechtes Kind ist, wenn man seine Eltern weniger sehen will
Illustration: Djanlissa Pringels
Menschen

Bin ich ein schlechtes Kind, weil ich meine Eltern weniger sehen will?

"Wenn es nach meinen Eltern ginge, würde ich sie jedes Wochenende besuchen."

"Frag VICE" ist eine Artikelreihe, bei der uns Leserinnen und Leser bitten, ihnen bei verschiedenen Problemen zu helfen – egal ob es sich um nicht erwiderte romantische Gefühle oder den Umgang mit nervigen Mitbewohnern handelt. Heute beschäftigen wir uns mit den Schuldgefühlen, die beim Verlassen des Elternhauses unweigerlich aufkommen.

Hey VICE,

meine Eltern haben unglaublich hart gearbeitet, um meinen jüngeren Schwestern und mir alles zu geben und zu ermöglichen, was wir wollten und brauchten. Sie kümmern sich aufopfernd um uns, sind gleichzeitig aber sehr schwierig, fordernd und dominant.

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Meine Mutter leidet heute noch unter ihrer Kindheit, sie ist deswegen genauso sensibel wie unsicher. Und mein Vater ist einer dieser Väter alter Schule, die fest daran glauben, dass die Eltern immer recht haben und Kindern kein Mitspracherecht bei Familienangelegenheiten zusteht.

Wenn meine Mutter bei einer neuen Freundin von mir kein gutes Gefühl hatte, war die Freundschaft vorbei. Wenn ich mich nach einem schlechten Tag in mein Zimmer verziehen und Musik hören wollte, sah sie das direkt als persönlichen Angriff. Man erwartete von mir, jede Sekunde mit der Familie zu verbringen. Daran konnte ich nichts ändern.

Zum Glück wurde es für mich besser, als ich mein Studium in einer anderen Stadt begann. Nachdem ich meine ganze Kindheit lang nur nach der Pfeife meiner Eltern getanzt hatte, fühlte ich mich wie befreit. Außerdem wurde mir klar, dass ich keine Ahnung habe, wer ich eigentlich bin. Immer wenn ich freitagnachmittags in den Zug steige, um meine Familie zu besuchen, überkommt mich eine Stresswelle, die erst wieder vergeht, wenn ich zurück zur Uni fahre.

Jetzt während der Pandemie habe ich Angst davor, meine Eltern mit dem Coronavirus anzustecken. Deswegen war ich fast drei Monate lang nicht ein einziges Mal bei ihnen zu Hause – und habe diese Zeit richtig genossen. Ich will nun meine Heimatbesuche reduzieren, aber meine Eltern verlangen immer noch, dass ich jedes Wochenende zu ihnen fahre. Und sie erwarten von mir, dass ich nach dem Ende meines Studiums wieder bei ihnen einziehe. Ich denke inzwischen sogar darüber nach, noch einen weiteren Abschluss dranzuhängen, nur um das Ganze hinauszuzögern. Meine Schuldgefühle machen mir schwer zu schaffen, und ich weiß nicht, wie ich die Situation lösen kann, ohne meine Eltern zu verletzen. Wie kann ich vernünftig mit ihnen darüber reden? Und bin ich ein schlechtes Kind?

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S.


S.,

nur weil du unabhängig von deinen Eltern sein willst, bist du kein schlechtes Kind. Das zu erkennen, macht deine Erfahrung jedoch nicht weniger schwierig.

Der Psychologe Jean-Pierre van de Ven – ein Spezialist für Paartherapie – hat schon Patienten behandelt, die sich in einer ähnlichen Situation wie du befanden. "Eltern haben oft Schwierigkeiten damit, ihre Rolle aufzugeben und loszulassen", sagt er. "Das ist an sich nicht so problematisch, aber wenn das Ganze eskaliert, fühlt sich das Kind oft wie erdrückt."

Van de Ven sagt, dass man versuchen sollte, sich in die Eltern hineinzuversetzen und zu verstehen, warum sie sich so verhalten. Manchmal sei es ganz einfach: Elterlicher Schutz verwandelt sich in übertriebene Fürsorge. Es könne aber auch sein, dass Eltern durch ihre Kinder das Leben leben, das sie nie hatten. "Vielleicht fühlen sich Eltern wie Versager, und für sie ist es dann Aufgabe des Kinds, das zu berichtigen", so van de Ven weiter.

In deinem Fall, S., gibt es vielleicht noch tiefer liegende psychologische Gründe für das Verhalten deiner Eltern. Du hast geschrieben, dass die Kindheit deiner Mutter schwierig gewesen sei, und dass sie sich zurückgewiesen fühle, wenn du eine körperliche und emotionale Distanz zwischen euch schaffst. "Das könnte auf Bindungsprobleme zurückzuführen sein, die deine Mutter als Kind erfahren hat", sagt van de Ven. "Manchen Menschen wurde im jungen Alter beigebracht, bei Beziehungen immer Angst zu haben, dass sie vielleicht bald zurückgewiesen werden."

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"Du solltest dich bei ihnen für all das bedanken, was sie für dich getan haben. Dann musst du ihnen aber auch unmissverständlich mitteilen, dass du jetzt bereit bist, dein eigenes Leben zu führen."

Van de Ven vermutet, dass Eltern, die in ihrer eigenen Kindheit solche Bindungsängste verspürt haben, "ihre Kinder so nah wie möglich bei sich halten, weil ihre Angst vor Zurückweisung so groß ist". Leider bedeute das auch, dass sie total sensibel reagieren, wenn sie das Gefühl haben, dass man sie zurückweist. 

In diesem Fall kann es passieren, dass Eltern noch mehr Regeln und Einschränkungen für ihre Kinder aufstellen, um das Verlassenheitsgefühl zu mindern, das sie selbst als Kinder verspürt haben. Deine Eltern erwarten von dir, dass du sie jedes Wochenende besuchst. Damit zeigen sie deutlich ihre Hoffnung, dass du sie niemals verlässt. Aber so traurig das auch sein mag, du fühlst dich deswegen trotzdem eingeengt und kontrolliert. Du verdienst es, dein Leben so zu leben, wie du es für richtig hältst. Ganz einfach.

Den Abstand zwischen deinen Besuchen zu vergrößern, löst das Problem nicht. Van de Ven sagt, dass du die Situation so unabsichtlich nur noch weiter eskalieren würdest: Je mehr Distanz du schaffst, desto mehr würden deine Eltern versuchen, dich zu ihnen zu ziehen. "Du musst ein offenes und ehrliches Gespräch mit deinen Eltern führen", sagt der Psychologe. "Vielleicht kannst du ihnen dabei sagen, dass du dich durch ihr Verhalten in die Ecke gedrängt fühlst. Du solltest dich bei ihnen für all das bedanken, was sie für dich getan haben. Dann musst du ihnen aber auch unmissverständlich mitteilen, dass du jetzt bereit bist, dein eigenes Leben zu führen. Es ist ja nicht so, dass du komplett ohne sie auskommen willst. Aber du musst deinen eigenen Weg finden."

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"Dir wurde beigebracht, dass die Regeln deiner Eltern wichtiger seien als deine eigenen Gefühle. Deswegen fühlst du dich schuldig, wenn du zuerst an dich denkst."

In der Theorie klingt das alles schön und gut. Leider heißt das aber nicht automatisch, dass deine Eltern vernünftig reagieren werden. Deswegen ist es vielleicht sinnvoll, eine weitere Person zum Gespräch mitzubringen. Das könnte ein weiteres Familienmitglied sein, oder aber ein Mediator oder eine Psychologin. Psychologische Unterstützung ist vor allem dann sinnvoll, wenn es um mehr geht als "nur" Traurigkeit darüber, dass ein Kind das Nest verlässt. "Wenn bei dem Gespräch tiefere Probleme ans Tageslicht kommen, würde ich den Eltern ein privates Gespräch mit einem Psychologen nahelegen", sagt van de Ven. 

Deine Eltern sind aber vielleicht nicht die einzigen Menschen, denen es gut tun könnte, das Ganze mit einer außenstehenden Person zu bereden. Zwar sind deine Schuldgefühle ganz normal, aber vielleicht werden auch sie durch tiefer liegende Probleme verstärkt. "Wenn das zutrifft, kann man dir noch so oft sagen, dass du dich nicht schuldig fühlen musst, die Gefühle werden dadurch nicht verschwinden", sagt van der Ven. "Dir wurde beigebracht, dass die Regeln deiner Eltern wichtiger seien als deine eigenen Gefühle. Deswegen fühlst du dich schuldig, wenn du zuerst an dich denkst."

Am wichtigsten ist, eine Sache nie zu vergessen: Nicht nur du profitierst davon, ohne Schuldgefühle das zu tun, was für dich selbst am besten ist. Langfristig gesehen wird das auch deinen Eltern helfen.

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