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Popkultur

Im Gespräch mit Issa López über 'Vuelven', den wohl traurigsten Horrorfilm aller Zeiten

Das ist herzzerreissendes mexikanisches Märchenkino, in einem leider viel zu realem Milieu.
/slash einhalb

Es ist eigentlich ein gemeiner Trick: Den Kinozuschauer erst mit deprimierenden Einzelschicksalen von lieben Kindern mürbe zu machen, damit er am Ende keine Chance mehr hat, sich auf plötzliche Horrorszenen einzustellen. Du wirst hilflos und mit Tränen in den Augen nach Hilfe schreien – und du wirst trotzdem (oder gerade deswegen) an der Geschichte kleben bleiben wie an einem auf der Flucht vor einem Monster fallengelassenen Lollipop.

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Die Rede ist hier von Vuelven oder auch Tigers are not afraid, einem mexikanischen Film, der diesen Trick perfekt beherrscht und mit viel düsterem Alice im Wunderland-Charme die Geschichte einer Gruppe verwaister Kinder am Rande der mexikanischen Drogenkriege erzählt. Konkret geht es um die Geschichte von Estrella, einem Mädchen, das drei Wünsche frei hat – oder das jedenfalls glaubt. Ihr Zuhause überlässt sie dem schlimmsten vorstellbaren (Psycho-)Horror und legt sich dann mitten im Kartellghetto mit kaltblütigen Banden an.

Diese Geschichte zwischen Märchen und Kinderbauchschuss gehört mit zum Seltsamsten und Herzzerreissendsten, das wir seit langem gesehen haben. Deshalb freut es uns besonders, dass wir uns im Interview mit Issa López, Autorin und Regisseurin des Films, über Mexiko, Trauer, fantastische Geisterstädte und ein paar Filmnerd-Fragen unterhalten konnten.

VICE: Warum hast du so einen unglaublich traurigen Film gemacht? Willst du uns allen das Herz brechen?
Issa Lopéz: Absolut. Ich bin eine unglückliche Kreatur voller Kummer und Verzweiflung. Es ist meine Mission, diesen Kummer in der ganzen Welt zu verbreiten!

Es funktioniert. Aber im Ernst, wie bist du an diese extrem düstere Materie von Vuelven geraten?
Das hat vielschichtige Gründe. Ich habe meine Mutter verloren, als ich 8 war. Verlust, Angst und die Unmöglichkeit, zu verstehen, dass eine Person plötzlich nicht mehr da ist, das sind universelle Gefühle. Als ich das Drehbuch geschrieben habe, befand ich mich in einem sehr dunklen Lebensabschnitt. Alles, was mir zu der Zeit wichtig war, hatte ich verloren und ich fand wieder diese Verbindung zu der tiefsitzenden Verlustangst, die man auch als Kind im Laufe einer Tragödie mit sich trägt.

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Ich fand ich es auch absolut notwendig, dass die Lebenswelt der mexikanischen Kinder in der Geschichte medial eine Plattform findet. Die wachsen in einem Umfeld auf, das brutal beeinflusst ist von Krieg und ökonomischer Gier – gut, letztlich wie jeder Krieg. Jeder spricht von den Kartellen, den Antihelden, aber niemand spricht davon, dass dieser mexikanische Krieg, wie jeder Krieg, Kinder zu Waisen macht, um die sich niemand kümmert.

Bild mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt von Issa López

Sind diese Zustände in Nordmexiko und diesen Kartellregionen in Vuelven überhöht in ihrer Darstellung oder ist das wirklich authentisch?
Der Film spielt nicht explizit in Nordmexiko … er spielt in irgendeiner, wenn nicht sogar JEDER mexikanischen Stadt. Als ich die Idee erarbeitet habe, war diese schreckliche Realität noch auf Grenzregionen des Landes beschränkt.

Als wir aber die Dreharbeiten begannen, waren solche Vorkommnisse plötzlich überall in meinem Heimatland an der Tagesordnung. Sogar in den Vororten von Mexico City, in der Stadt, wo ich geboren wurde. Das ist keine Überhöhung, das kannst du mir glauben. Tatsächlich ist Vuelven noch zurückhaltend im Vergleich zu den Dingen, die manchen diesen Kindern, diesen Frauen, von den Kartellen wirklich angetan werden. Ich bin aber auch nicht der Typ von Filmemacherin, die zu tief in Real-Life-Horror eintaucht.

Frag einfach mal einen männlichen Prostituierten über die sexuelle Orientierung von vielen "Hetero"-Mittelschicht-Ehemännern. Da erfährt man einiges über das konservative Mexiko und deren Privatsphäre.

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Die Bilder von den Geisterstädten, die die Natur zurückerobert, das ist meine persönliche Vision. Mein Magic Kingdom, mein Nimmerland. Es basiert auf visuellen Referenzen, die ich über die Spanne von drei Jahren hinweg gesammelt habe, mit der Idee zu dem Film im Hinterkopf. Ein überflutetes Einkaufszentrum in China, Chernobyl, so ein vergessener Vergnügungspark in New Orleans oder ein Reh, das in einem verlassenen Wohnblock Nord Koreas herumstreunt – diese einzelnen Eindrücke habe ich aufgehoben und meine unglaublich talentierte Production Designerin, Ana Solares, hat sie für den Film interpretiert und zu neuem Leben erweckt. Gedreht haben wir, ob du es glaubst oder nicht, in Mexico City und dabei aber akribisch versucht, dass es sich wie jede beliebige mexikanische Stadt anfühlt.

Also sind auch Eindrücke aus deinem Leben in Vuelven verarbeitet? Die Mutter-Tochter-Beziehung und das Miteinander der Kinder fühlt sich extrem echt an. Aber bitte ignorier die Frage, falls dir das zu privat ist.
Ich bin Mexikanerin, es gibt kein "privat" bei uns! Das war gerade Sarkasmus, falls du es nicht gemerkt hast. Frag einfach mal einen männlichen Prostituierten über die sexuelle Orientierung von vielen "Hetero"-Mittelschicht-Ehemännern. Da erfährt man einiges über das konservative Mexiko und deren Privatsphäre. Das wäre eigentlich auch schon ein Film.

Also zurück zu deiner Frage: Ja. So vieles aus dem Film kommt direkt von mir. Der plötzliche Tod meiner Mutter, die verpasste Chance mich zu verabschieden und sie sterben zu sehen – ein natürlicher und urinstinktiver Part der Trauer, den uns die moderne Gesellschaft mittlerweile vorenthält. Man kann es einfach nicht begreifen, dass eine zentrale Person deines Lebens weg ist, in einem Moment – es ist der eine wahre Magic Trick.

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Alles können wir irgendwie erklären, nur das nicht. Also versucht man sich mit magischem Denken zu helfen, besonders Kinder. Plötzlich verfolgen dich Geister der verschiedensten Art, manchmal dein ganzes Leben lang, weil man sich nicht verabschieden konnte von einer lieben verstorbenen Person. Ich habe den Film gemacht, um sich zu verabschieden, durch die Charaktere. Vuelven ist ein Film über Abschiede, sieh ihn dir genauer an, dann merkst du das.

Mein Film ist eine Form von Rorschachtest, was auch immer man in diese allerletzte Einstellung hineininterpretiert, ist die einzig wahre Wahrheit.

Ich weiß, dass Filmemacherinnen nicht ständig ihre Arbeit, mit der von anderen, verglichen sehen wollen, sondern als eigenständige Kunst, aber ich muss ein paar Nerd-Fragen loswerden: Hast du Jacob’s Ladder gesehen?
JA!

Dieser Film aus den 90ern erzählt die Geschichte der letzten Minuten eines sterbenden Vietnam-Soldaten, der wie in einem „Todestraum" nach New York zurückkehrt und von Paranoia und Monster heimgesucht wird. Kann man Estrellas Leidensweg und *Spoiler entfernt* in Vuelven vielleicht in eine ähnliche Richtung interpretieren?
Weißt du, was Filmemacher WIRKLICH nicht leiden können?! Wenn man die finale Interpretation ihres Films vorweg nimmt, den man eigentlich auf verschiedenste Art und Weise lesen könnte. Vuelven ist eine Form von Rorschachtest, was auch immer man in diese allerletzte Einstellung des Films – auf die du dich hier, glaube ich, beziehst – hineininterpretiert ist die einzig wahre Wahrheit.

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Hast du City of God gesehen, den brasilianischen Film über Straßen-Kids, die auch in einer ähnlichen von Erwachsenen und sozialen Missständen zerrütteten Lebenswelt bestehen?
Ich liebe Cidade de Deus. Es ist ein Meisterwerk, aber der ist einfach "ultra-real" im großen Gegensatz zu Vuelven. Aber es stimmt schon, dass die beiden Filme sich nahe stehen. Ich habe bereits Vergleiche gehört wie: " Stranger Things meets City of God". Ersteres hat noch nicht einmal existiert, als wir gedreht haben. Ich wollte etwas schaffen, das sich authentisch anfühlt wie Cidade anfühlt – aber gleichzeitig ein Abenteuer wie Stand by Me, Lord of the Flies, It, Peter Pan oder Goonies ist.

Eine letzte Nerd-Frage: Hast du den traurigen Anime Grave of the Fireflies gesehen und wenn ja, gab es da vielleicht auch Einflüsse? Man erkennt Ähnlichkeiten in Bezug auf kindliche Trauer und Leid.
Den Film habe ich leider nicht gesehen und es ist mir EXTREM peinlich, da ich erstens Anime liebe und außerdem wurde mir der Film schon mehr als einmal in Verbindung zu Vuelven empfohlen. Ich schau ihn mir an, versprochen!

Was bedeuten die Kreidestücke, die Estrella bei sich hat? Gibt es zu Kreide irgendeine spezielle mexikanische Folklore? Ich kenne Kreide in Märchen nur von "Der böse Wolf und die 7 Geißlein", der sie isst um eine höhere Stimme zu bekommen.
Wirklich?! Wow, das Märchen muss ich lesen! Aber die Kreide hat keinen besonderen Hintergrund in der mexikanischen Märchenwelt. Es geht einfach darum, dass Kinder ganze Universen erschaffen können, voller Königreiche, Monster, Krieger und Tiger, und das alles befindet sich in einem kleinen Stückchen Kreide. Ich finde das wundersam – genau, wie ein kleines Bisschen Tinte alle diese Sonette von Shakespeare in sich hatten. Auch die Graffitis und Filzstifte, die die Kinder verwenden, spielen mit dieser Symbolik des Schaffens.

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Ist diese gruselige, fast lebendige Blutspur, die Estrella verfolgt und sich durch die Räume und Straßen der Stadt zieht, so etwas wie eine "rote Linie" des Todes durch den Film?
Das Blut der Toten in Mexiko ist immer da und verlangt, gesehen zu werden. Du wirst davon heimgesucht, egal, wohin du gehst, es gibt keinen Ausweg. Aber wenn man gewisse Sensibilität entwickelt und du das Blut nicht ignorierst, sondern beachtest, dann kann es dich führen und dir helfen, dich selber besser zu verstehen, auch dein Land, deine Realität. Es befreit dich. Wow, das klang jetzt wie aus einem Selbsthilfebuch, tut mir leid.

Ich verstehe schon, was du meinst. Aber es kommt auch ein kleiner fliegender Fairy-Drache vor, der in ein Smartphone hineinfliegt. Das habe ich leider echt nicht verstanden – sorry für die vielleicht blöde Frage.
Ist sie nicht. In der fiktiven Welt, die ich mir ausgedacht habe, hat Estrella durch die Kreide eine spezielle Gabe bekommen, eine Erlaubnis zu sehen, wie Objekte, die etwas Besonderes für tote Personen waren, zum Leben erweckt werden. Sie werden zur Manifestation des Verstorbenen, da schwingt eine gewisse Form des "Animismus" mit. Shine hat sein Feuerzeug, Morro den Plüschtiger, Caco das Smartphone und Estrellas Mutter ihr Vogelarmband. In all diesen Dingen stecken Geister und Estrella kann sie sehen. Diese Objekte genau wie auch die Toten führen sie, und sobald sie versteht, dass alle diese Erscheinungen nichts Böses wollen, findet sie durch dadurch Sicherheit und sogar Transzendenz.

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Ich frage auch, da diese Märchenelemente und schicksalhafte Monster stark an Pan’s Labyrinth, also El laberinto del Fauno , erinnern. Doch noch eine Nerd-Frage: Kennst du Guillermo Del Toro und was hältst du von ihm?
Ich vergöttere ihn! Ich habe ihn vor einem Monat oder so zum ersten Mal getroffen. Er liebt Vuelven und hat sich extrem für den Film eingesetzt – aber es hat Jahre und eine Menge Social Media Fans gebraucht, um ihn zu überzeugen, sich den Film anzuschauen. Seit ich das Skript geschrieben hatte, versuchte ich immer wieder, ihm diese Geschichte zu zeigen.

Die Wahrheit ist, die grundlegende Ausgangsidee von Vuelven hatte viele Elemente von Laberinto: Ein magisches Mädchen gegen den Horror der erwachsenen, der männlichen Welt. Es ist auch viel von Beasts of the Southern Wild und Turtles Can Fly in meinen Film eingeflossen, aber ein Großteil kommt aus dem "Guillermo Universum".

Wie war die Arbeit mit den Kindern, man hört von Filmemachern ja, dass Kinderschauspieler unheimlich schwierig sein können.
Alle Schauspieler sind schwierig! Scherz, ich LIEBE Schauspieler. Die meisten meiner besten Freunde, waren ursprünglich Schauspieler, mit denen ich mal gearbeitet habe.

Diese Kinder waren unglaublich – tapfer, hart arbeitend, sehr lustig und hatten so viel Durchhaltevermögen. Es war nicht einfach mit der Verantwortung umzugehen, dass wir sie sehr düsteren emotionalen Szenen und Mindsets aussetzen mussten, und dann wieder zurückholen, ohne dass sie Schaden davon tragen. Mir war natürlich bewusst, dass die Dreharbeiten eine zentrale Rolle im Leben dieser Kinder einnehmen werden und auch Spuren hinterlassen würden. Also lag es eigentlich an mir, die Zeit wunderbar und spaßig zu gestalten, und nicht als eine furchtbare Erinnerung.

Mir war natürlich bewusst, dass die Dreharbeiten eine zentrale Rolle im Leben dieser Kinder einnehmen werden und auch Spuren hinterlassen würden.

Ich habe mir den Film hindurch gewünscht, dass alles besser wird, auf der ganzen Welt, und dass das alles bitte nicht wahr sein darf. Solche Kinderschicksale gibt es aber tatsächlich. Der Film ist dann auch wieder sehr hoffnungsvoll. Willst du uns, die Zuschauer, wachrütteln, einfach nur konfrontieren, oder sogar mobilisieren?
Diese Dinge sind absolut, komplett und zu hundert Prozent real. Wir müssen uns in Bewegung setzen und Mexiko verändern. Auch Ecuador, Venezuela, Afghanistan, Yemen, Äthiopien, auf den Straßen von Chicago, LA. Wir müssen endlich anfangen, Verantwortung zu übernehmen für die Generationen, die vielleicht die Welt vor unserer Faulheit retten werden müssen. Sorry. Ich hoffe, diese Antworten passen! Die Fragen haben sehr viel Spaß gemacht.

Josef auf Twitter: @theZeffo

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