Wir haben den Wahlabend mit einem Wahlbeobachter der AfD verbracht
Alle Fotos: Lisa Ziegler

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Bundestagswahl 2017

Wir haben den Wahlabend mit einem Wahlbeobachter der AfD verbracht

Die Partei und ihre Sympathisanten wittern Wahlbetrug. Im Berliner Osten zieht der Berliner AfD-Abgeordnete Ronald Gläser los, um Manipulationen zu verhindern.

Wahlsonntag, 17:47 Uhr, Berlin-Niederschönhausen. Am Eingangstor der Berufsschule für Sozialwesen in Pankow lehnt ein junges Paar in Jogginghosen, sie hat einen Hund an der Leine, er liest vom Smartphone ab. "'Haushaltsüberschüsse sollen überwiegend zum Abbau von Staatsschulden verwendet werden' – uff, keine Ahnung." Es ist die Frage 18 aus dem Wahl-o-Mat, bei der nächsten Frage zur Nutztierhaltung brechen sie ab und gehen – ohne überhaupt abgestimmt zu haben. Ronald Gläser wird bei ihnen nichts überprüfen können. Der Abgeordnete und Pressesprecher der Berliner-AfD ist gerade an seinem Wahllokal angekommen, um die Bundestagswahlen zu überwachen.

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Die AfD sowie andere rechte Vereinigungen und Wortführer haben Wahlhelfer und -beobachter mobilisiert, laut Gläser in jedem zehnten Wahllokal allein hier im Bezirk, genaue Zahlen nennt die AfD nicht. Der Tenor: Der Staat und andere Parteien könnten die Wahlen sonst zu Ungunsten der AfD manipulieren.


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Der Wahlbetrug war ein Wahlkampfschlager. Die AfD hat eine eigene Kampagnen-Seite geschaltet, eine weitere stammt von der Identitären-Plattform "Ein Prozent". In dem "Ein-Prozent"-Werbevideo sprechen die AfD-Funktionäre Jens Maier und André Poggenburg von "mutigen Bürgern", die sich gegen diejenigen stellen würden, "die sich unsere Republik zur Beute gemacht haben". Der rheinland-pfälzische Landtagsabgeordnete Damian Lohr behauptet: "Überall, wo in den letzten zwei Jahren gewählt wurde, konnten Wahlbeobachter Betrugsversuche aufdecken."

Auch wegen solcher Videos rechnete die Berliner Landeswahlleiterin mit einem verstärkten Andrang an Wahlbeobachtern, sagt ein Sprecher der Behörde zu VICE. Jeder Bürger darf bei Wahlauszählungen zugucken – solange er die Wahlhelfer nicht nervt und Unruhe stiftet. Die Bundesregierung wiederum hat zum ersten Mal Wahlbeobachter der OSZE eingeladen, die sonst zwischen den USA und der Mongolei, Großbritannien und Moldawien unterwegs sind.

Gläser glaubt, bei allen Wahlen wurde zu Lasten der AfD betrogen

2013 war die AfD nur auf 4,7 Prozent gekommen. Gut 80.000 Stimmen fehlten der Partei damals für den Einzug in den Bundestag – das waren weniger als eine pro Wahl- und Briefwahlbezirk. Ronald Gläser sagt, er glaube, dass die AfD damals betrogen wurde. Und auch bei allen Wahlen in den letzten Jahren – trotz der deutlichen Stimmzuwächse in jedem Bundesland. "Deswegen bin ich heute hier."

Gläser wartet vor dem Seminarraum der Berufsschule, heute Wahllokal 214. Zwei bis drei Stunden werde die Auszählung wohl dauern, sagt er. Seit der Europawahl 2014 habe er alle Auszählungen beobachtet: "Wenn wir da sind, ist Manipulation ausgeschlossen."

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Tatsächlich gab es aber nur bei zwei Landtagswahlen anerkannte Probleme: In Nordrhein-Westfalen erhielt die Partei im Nachgang rund 2.200 Stimmen mehr, in 85 von über 15.000 Wahllokalen hatte es Unregelmäßigkeiten gegeben – am Gesamtergebnis der Partei änderte das allerdings nichts. Anders in Sachsen-Anhalt. Dort hatten Helfer in drei Wahllokalen einige Hundert AfD-Stimmen der Partei ALFA um Ex-AfD-Chef Bernd Lucke zugeordnet, am Ende erhielt die AfD einen Sitz im Landtag zusätzlich.

Von gezielter Wahlmanipulation ging keiner der beiden Landeswahlleiter aus, die ist in Deutschland ohnehin selten: In Quakenbrück 2016 gab es mal eine bei der Stadtratswahl, in Halle 2014 bei der Europaratswahl und im selben Jahr in Stendal und in Geiselhöring bei Kommunalwahlen. Bei Wahlen schummeln ist also wie Trekkerfahren: eher ein Provinzding.

Eine Wahlhelferin kommt von der Toilette zurück: "Die AfD hat 13,5 Prozent." – Pause – "Was machen wir jetzt?"

In Niederschönhausen verlassen die letzten Wähler die Berufsschule. Um 18 Uhr lehnt eine Wahlleiterin die Tür zum Klassenzimmer an. "Einen Moment bitte." Außer uns und zwanzig Wahlhelfern ist nur noch der Hausmeister da. Gläsers Smartphone bimmelt, er schaut nicht drauf. Will er denn nicht die Prognosen checken? Nee, die kenne er ja bereits. Seit dem frühen Nachmittag verfügen hochrangige Parteienvertreter wie er über erste Tendenzen. Die Zahlen von 18 Uhr bestätigen die: 32,5 Prozent für die Union, 20 Prozent für die SPD und 13,5 Prozent für die AfD – weit vor FDP, Grünen und Linken. Der dritte Platz scheint sicher, aber Gläser hat nichtmal einen Minisekt mitgebracht. "Wahlbeobachten ist wichtiger als Party", sagt er.

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Die Tische werden zusammengeschoben. An der Schultafel hängen von rechts nach links die Flaggen Berlins, Deutschlands und der EU, die Tafel wird nun für die Zwischenergebnisse gebraucht. Gläser hilft mit und nimmt die Magnete von der EU-Flagge.

Fünf Frauen und fünf Männer kümmern sich um die Auszählung, keiner von ihnen ist unter 30.

18:07 Uhr. Eine der Wahlhelferinnen kommt von der Toilette zurück: "Die AfD hat 13,5 Prozent." – Pause – "Was machen wir jetzt?"

"Erstmal nur auseinandernehmen", sagt die Wahlleiterin.

Die Helfer entsiegeln die zwei Wahlurnen und hieven die offenen Gefäße gemeinsam in die Höhe. Hunderte Stimmzettel plätschern auf die Tische, ein Stapel für die Bundestagswahl, ein Stapel für den Volksentscheid zum Flughafen Tegel.

"Darf ich fragen, wer Sie sind?", die Wahlleiterin guckt Gläser misstrauisch an. "Ich bin Ronald Gläser, Abgeordneter der AfD, und ich habe kein Misstrauen in Sie." Die Frau wendet sich wieder ihren Zetteln zu. Nach einigen Minuten ruft sie: "Mein erster mit Unterschrift, ha!"

Gläser sagt, er halte es jedenfalls für eine "urban legend", dass AfD-Wähler besonders gerne auf ihren Wahlzetteln unterschreiben. Er hat sich für einen Moment auf einen Schulstuhl gesetzt, um die Nachrichten zu checken. Unter den ersten 100 Zetteln will er 14 AfD Stimmen gesehen haben, "bisschen weniger als erwartet".

Pankow, zu dem Niederschönhausen gehört, hat die niedrigste Arbeitslosenquote aller Berliner Bezirke, am Wahlsonntag sind auf der Straße viele junge Familien zu sehen. Der Linke Stefan Liebich hat den Wahlkreis bei den letzten Wahlen zweimal in Folge geholt, bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus kam die AfD vor einem Jahr hier auf 13,8 Prozent der Zweitstimmen.

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"Wer ist denn die FDR?", fragt die Wahlleiterin

18:42 Uhr. Vier Wahlhelfer kümmern sich um die Tegel-Abstimmung, in ihren Köpfen aber denken sie an die Bundestagswahl: Was die CDU jetzt wohl machen wird, flüstert eine. Gläser hält mir von rechts sein Smartphone unter die Nase, der AfDler liest Spiegel Online. Die SPD will in die Opposition gehen. "Hätt' ich nicht gedacht." Einzige verbliebene Option: Jamaika-Koalition – dann würde die AfD nicht Oppositionsführer. Derweil haben sich die Wähler der umliegenden Straßen mehrheitlich gegen einen Fortbetrieb des Flughafen Tegels ausgesprochen.

Während das Helferteam Bundestagsstimmen zählt, zählt Gläser leise murmelnd mit. Acht Minuten später steht fest: Es sind 817.

Das Wahllokal 215 liegt im Raum nebenan

Sie werden auf vier Stapel verteilt: einer für identische Erst- und Zweitstimme, einer für Stimmen, die an unterschiedliche Parteien gingen, einer ohne Erststimmen und die Ungültigen. Sieben Zettel liegen dort am Ende. Gläser sagt, er hätte nie gedacht, dass es "so kräftezehrend" wäre, Abgeordneter zu sein. Am meisten setze ihm zu, nicht mehr genug Zeit zu haben, um geregelt essen zu können: Er ist auch Pressesprecher der Landes-AfD.

19:08 Uhr. Das Team beginnt, die Zettel der besonders Überzeugten zu zählen, die mit beide Stimmen für dieselbe Partei gestimmt haben. Gläser steht hinter dem Tisch und hilft einer Wahlhelferin, die den richtigen Stapel sucht: "Die Grünen sind weiter links."

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19:26 "Wer ist denn die FDR?" Ein Helfer hat sich an der Tafel verschrieben, die Wahlleiterin wischt den überflüssigen Kreidestrich bei der FDP weg. Die erste Zählung ist durch: 106 für die CDU, 93 für die SPD, 93 für die AfD, 159 für die Linke. Kurz danach wird die AfD auf 113 nach oben korrigiert, der erste Zähler hatte im Kopf zu hastig gerechnet, zur Sicherheit wurde dann vier Mal nachgezählt. Die Zettel kommen in Umschläge.

Jetzt sind die 263 Zettel dran, auf denen sich Erst- und Zweitstimme unterscheiden. Gläser hat eine Idee, wie das Prozedere zukünftig erleichtert werden könnte: zwei getrennte Zettel für Erst- und Zweitstimme. Er macht sich Notizen in seinem Block.

Die AfD hat ein Formular für Wahlbeobachter auf ihrer Webseite. Laut Gläser sammelt der Bezirksverband am Ende alle Formulare ein und gibt sie an den Landesverband weiter, der sie wiederum an die Bundespartei weiterreicht. Er sagt, er wolle das Formular nur dann ausfüllen, "wenn auch was ist".

Im Hintergrund bekommt die SPD gerade 45 Stimmen mehr, weil ein zweiter Stapel zuvor nicht gezählt worden war. Bei den Grünen muss sogar viermal geprüft werden.

Die Wahlhelfer in beiden Lokalen zählen bis nach Anbruch der Dunkelheit

19:55 Uhr. Es ist die Stunde der taktischen Wähler. Diese Kombinationen aus Erst- und Zweitstimme tauchen auf:

  • CDU + AfD
  • AfD + FDP
  • Grüne + CDU
  • CDU + Grüne
  • DIE PARTEI + LINKE

Aber auch: Erststimme LINKE, Zweitstimme FDP – ist das Satire, Lotterie, ungewöhnlich verteilte Sympathie, oder doch schmerzloser politischer Pragmatismus eines Liberalen, der den CDU-Kandidaten einfach noch weniger leiden kann als den Kontrahenten von der Linken?

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"Wo ist die SPD?" – "Die SPD ist am Boden."

20:03 Uhr. Es ist passiert. Eine AfD-Erststimme ist versehentlich auf den Grünen-Stapel gefallen. Gläser hängt da gerade am Smartphone. Später ist er aufmerksamer und bemerkt, wie fünf FDP-Stimmen auf dem Grünen-Stapel landen. Da alle Stapel am Ende aber doppelt durchgezählt werden, wären die Fehler wohl spätestens hier aufgefallen.

20:09 Uhr. Einer der Wahlhelfer, ein älterer Herr, sagt: "Gar nicht so einfach, wa?" Dann fragt er: "Wo ist die SPD?"

"Die SPD liegt am Boden", antwortet ein anderer Helfer.

20:15 Uhr. Gläser zeigt mir einen Screenshot, es ist sein Lieblingsbild des Abends: die Prognose für Ostdeutschland. Mehr als jeder Fünfte zwischen Rügen und Dresden, Berlin-Marzahn und Eisenach hat für die AfD gestimmt. "Wir sind deutlich die zweitstärkste Kraft", sagt er, "leider nur nicht hier."

Das Wahllokal diskutiert einen Sonderfall. Ein Wähler der Partei Die PARTEI hat zwei Kreuze bei der Erststimme gemacht und eins bei der Zweitstimme. Die Helfer beschließen, zumindest die Zweitstimme gelten zu lassen. Gläser ist sich unsicher, ob das so geht, allerdings ist eine Stimme gültig, solange der Wählerwille klar deutlich erkennbar ist und der Wähler keine Kommentare daneben geschrieben hat.

20:42 Uhr. Nach knapp drei Stunden steht das Ergebnis für Wahllokal 214 fest: Der Linke Stefan Liebich gewinnt das Direktmandat, seine Partei erhält zudem fast ein Viertel der Zweitstimmen. Bei den Wählern zwischen Kastanienallee und Eichenstraße landet die CDU knapp auf dem zweiten Platz, mit 153 Stimmen, nur zwei Stimmen vor den Grünen und vier vor der AfD. Gläser hat sich damit arrangiert und zeigt den Wahlhelfern stolz den Screenshot von den Prognosen. Einen Betrug hat er nicht feststellen können.

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Die Stimmzettel werden nach der Auszählung eingetütet

Der Tag endet für Gläser auf der Wahlparty der Pankower AfD in einem Lokal im äußersten Nordosten Berlins. Unterwegs in seinem Diesel sagt Gläser, dass man die Wehrmacht ja auch losgelöst von der NS-Verbrechen betrachten könnte.

Es ist kurz vor halb 10, die AfDler trinken Bier, zwei junge Typen grölen: "Oh, wie ist das schön!" Viele Mitglieder sind gerade erst eingetroffen, manche kommen von der Wahlparty am Alexanderplatz – Tenor: "Viel zu voll! Mehr Journalisten als unsere Leute!" Andere kommen aus den Wahllokalen. Die meisten waren Wahlhelfer statt -beobachter, einer erzählt, wie er als Schriftführer seine Sympathie bis zum Endergebnis zurückgehalten habe, nur um dann laut zu jubeln. Das Bier in seinem halbleeren Glas schwappt fast über, als er die Pose nachstellt. Manipulationen habe allerdings niemand gesehen. Die Leute herzen sich und feixen. "Ich wollte schon immer mal eine Nazibraut umarmen", ruft der Schriftführer von eben, als er eine Parteifreundin drückt.

Am Tag danach werden ein paar Pannen bekannt:

  • Die Rechten von "Ein Prozent" wollen wissen, dass im sächsischen Gornau für zwei Stunden nicht gewählt werden konnte – weil die Stimmzettel am Nachmittag alle waren. Die Wahlleitung behob den Engpass allerdings binnen Minuten, wie Correctiv und die Freie Presse übereinstimmend berichten.
  • In Teilen von Mönchengladbach sorgte die hohe Wahlbeteiligung dazu, dass zwischen 16:45 Uhr bis 17:52 die Stimmzettel aus waren, schreibt RP Online.
  • In Berlin stürzte kurzzeitig der zentrale Wahlserver ab, außerdem wurden auf den Webseiten des Bundeswahlleiters und der Landeswahlleiterin zwischenzeitlich unterschiedliche Ergebnisse für zwei Wahlkreise gemeldet.
  • In Düsseldorf mussten bis zu 190 Erststimmen für ungültig erklärt werden: In Düsseldorf-Garath hatte die Wahlleitung in den Morgenstunden Wahlzettel für den Bundestagswahlkreis 106, Düsseldorf I, ausgegeben – und nicht wie richtig die für den 107, Düsseldorf II.

Eine große Manipulation? Weder in Berlin-Niederschönhausen noch in Gesamtdeutschland. Auch die OSZE spricht in ihrem Bericht von "hochgradig kompetitiven und gut durchgeführten" freien Wahlen. In den rund 200 Wahllokalen, die die Beobachter besuchten, konnten sie keine Unregelmäßigkeiten feststellen. Auch die AfD hat sich bislang nicht beschwert. 12,6 Prozent, so das Endergebnis, sind offenbar selbst ihr genug.

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