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Plattenladen

Gute Musik kriegt in Bern ein neues Zuhause

Serge Berthoud war die letzten zwanzig Jahre Verkäufer im seit März geschlossenen Chop Records. Am 1. Juni eröffnet er seinen neuen Laden Serge and Peppers Records an der Rathausgasse 55. Wir haben ihn zum Interview getroffen.

Alle Fotos von Mahalia Aura Haberthür Mit viel weinenden Smileys und dankenden Worten seitens Stammgästen, Medien und Bekannten verabschiedete sich Ende März einer der letzten Plattenläden der Hauptstadt – kurz vor dem 30. Jubiläum – für immer von seiner Kundschaft. Jürg Tindler fasste den Entschluss, Chop Records an der Amtshausgasse endgültig zu schliessen. Serge Berthoud, der sich zu Anfangszeiten des Ladens (damals in der Speichergasse) selbst als "Hardcore Stammkunde" bezeichnete, war der letzte Angestellter und hätte im Jubiläumsjahr von Chop Records sein 20-jähriges Firmenjubiläum gefeiert.

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Beinahe zeitgleich mit der Bekanntmachung der Schliessung von Chop Records, kündigte er an, ein neues Lokal zu eröffnen und mit einem Teil des alten Chop-Records-Mobiliars eine neue Ära unter eigener Fittiche zu starten. Obwohl die Nachricht gemäss seinen eigenen Aussagen noch nicht wirklich spruchreif war, griffen die lokalen Medien und vor allem diverse Unterstützer auf Social Media seine Aussage auf und wünschten ihm Glück für sein Unterfangen. Mittlerweile ist das Projekt nicht nur spruchreif, sondern Realität geworden. Auch wenn es im Moment noch viele Baustellen gebe, wird Serge and Peppers Records am 1. Juni in einem schmucken Gewölbekeller in der Berner Altstadt an der Rathausgasse 55 seine Eröffnung feiern. Ich traf Serge Berthoud an einem sonnigen Nachmittag im Park-Café auf der kleinen Schanze in Bern für ein Interview über seinen neuen Laden und seine Leidenschaft für die Musik – vorzugsweise auf schwarzem Gold.

Noisey: Du hast die letzten zwanzig Jahre das Plattengeschäft hautnah miterlebt. Was bewegt dich dazu, nun fast nahtlos einen eigenen Plattenladen in derselben Stadt zu eröffnen?
Serge: Lust und Leidenschaft. Und Bock auf das Ladengeschäft. Mir ist völlig bewusst, dass das ein Kamikaze-Projekt ist und sich erst zeigen wird, ob es auch wirtschaftlich funktioniert. Ich habe aber trotzdem langjährige Erfahrung, gute Kontakte und Vertriebskanäle und habe das Projekt nicht ganz blauäugig gestartet. Seit zwei, drei Jahren war ich immer ein wenig auf der Suche nach Inspiration und möglichen Locations. Es war ja schon seit gut zweieinhalb Jahren klar, dass Chop Records an der alten Adresse raus muss, da dort alles umgebaut wird. Soviel ich weiss entsteht eine Einkaufsmeile. Nichtsdestotrotz ist es jetzt doch ein sehr sportliches Unterfangen, in dieser kurzen Zeit alles auf die Beine zu stellen. Viel Papierkram und wenig Zeit – doch ich wollte den Schwung rund um Chop Records mitnehmen und nicht ein Jahr warten, bis ich den neuen Laden eröffne.

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Kurz nachdem die Schliessung von Chop Records bekannt wurde, geisterte auch schon die Nachricht im Netz, dass du bald an anderer Adresse ein neues Lokal eröffnen wirst. Auf Facebook las man "Gute Musik braucht ein Zuhause" – und das Posting zog schnell breite Kreise. Woher stammt dieses Zitat und was ist für dich gute Musik?
Dieser Spruch fiel einmal vor Jahren an einem Meeting im Rahmen meiner Tätigkeit bei Chop Records. Es ging um eine Beschriftung mit knalligem Slogan. Ich habe den Spruch bereits vor ungefähr einem Jahr gepostet und stellte fest, dass er Reaktionen auslöst. Als ich mir überlegte, wie ich den Start des neuen Ladens kommunizieren könnte, fiel die Wahl schnell auf "Gute Musik braucht ein Zuhause". Über den Hype, der das Posting auslöste, war ich aber selbst überrascht.
Gute Musik ist dann gut, wenn sie gut ist. Ich sage das bewusst so, um aufzuzeigen, dass ich einen sehr breiten Geschmack habe und nichts kategorisch ablehne. Die Seele der Musik zählt, nicht der Stil. Wenn ich eine melancholische Phase habe, höre ich beispielsweise auch sechsstimmige Männerchöre. Gute Musik weckt Emotionen, ist authentisch und berührt.

Noch unscheinbar: In diesem Keller kann Bern bald diggen.

Wen sprichst du mit deinem Laden an und was für Musik wird bei dir in den Regalen stehen?
Es soll kein Nischenladen werden. Stilistisch ist alles erlaubt, was gut ist. Der Fokus liegt aber klar auf Neuheiten, vornehmlich aus dem Indie-Bereich, aber genreübergreifend. "Friday to Friday" wird das Sortiment bestimmen. Es wird sicherlich auch eine kleine Second–Hand-Ecke geben und bestellen kann man bei mir dann sowieso fast jeden Wunsch. Ich habe auch schon mal Schlager bestellt für einen Kunden – nicht wirklich meins. Aber die Zeiten, in denen du den Kunden sagen kannst "Geh dir die Scheibe doch an einer Tankstelle suchen", sind vorbei. Das ist aber auch ganz gut so. Mein Laden soll für alle sein. Egal ob fürs alte Grosi, das bei der steilen Treppe in den Laubenkeller wohl Hilfe braucht oder den 19-jährigen, nach Red-Bull riechenden Teenie. Ich denk,e so ein Laden tut der Stadt auch gut und liefert nebst dem ganzen – etwas salopp gesagt – Einheitsbrei eine Alternative.

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Was gibt dir die Sicherheit, mit Serge and Peppers Erfolg zu haben?
Eine Sicherheit gibt es nicht, die Risiken habe ich vor Augen. Ich kann heute nicht sagen, ob das Projekt wirtschaftlich erfolgreich sein wird und meinen Lebensunterhalt finanzieren kann. Dass ich damit weder reich werde noch reich werden will, ist wohl jedem klar. Trotzdem bin ich nicht blauäugig oder aus einer Laune heraus in das Unterfangen gestartet, sondern habe das Gefühl, mit meiner 20-jährigen Erfahrung, meiner tiefen Verankerung in Bern, den Kontakten und Vertriebskanälen optimale Grundvoraussetzungen zu haben – ob es dann funktioniert, wird sich zeigen.

Was wird deinen Laden im Besonderen auszeichnen?
Das Gesamtpaket. Das angenehme und besondere Ambiente eines schmucken Gewölbekellers, ein bisschen Nostalgie durch das Mobiliar vom Chop, die einladende Atmosphäre und natürlich in erster Linie die Qualität des Sortiments, der Musik – klein aber fein. Ich will den Laden auch nach aussen tragen und ab und an kleine Events durchführen. Da an der Rathausgasse der Platz sehr beschränkt ist, sind Ort und Form dieser Veranstaltungen noch offen. Es besteht aber auch die Möglichkeit, unmittelbar vor dem Laden kleine Events zu lancieren. Mit dem Standort bin ich sehr zufrieden; die Rathausgasse ist sehr belebt, dankt Traditionsbetrieben wie dem Les Amis oder neuen Bars wie der Taube – denselben Keller in der Gerechtigkeitsgasse hätte ich wohl nicht genommen. Je weiter unten in der Altstadt, desto toter die Gassen.

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Hast du privat eine grosse Vinyl-Sammlung?
Ich habe keine grosse Vinyl-Sammlung; das wäre gelogen. Ich beschäftige mich gerne mit Neuheiten. Das soll nicht heissen, was heute in ist, sondern was heute erscheint. Da ist jeden Freitag eine Fülle neuer Sounds zu entdecken, die man gar nicht alle sammeln könnte. Trotzdem beginnt und endet für mich seit Jahren jeder Tag mit Musikhören.


Dieser Lausanner hat eine gigantische Sammlung: Fünf Tonnen schwarzes Gold!


Was findet man an der Eröffnung für einen Grundstock an Platten in deinem Geschäft?
Natürlich die Neuheiten der letzten zwei bis drei Monate. Daneben habe ich aber auch eine Auswahl kuratiert, die von namhaften bis zu unbekannteren Künstlern geht. Die Aufgabe war für mich aber eine richtige Challenge. Normalerweise hast du täglich unmittelbares Feedback deiner Kunden und erkennst an den Rückfragen und Anfragen, was gerade Hype ist oder werden könnte. Die letzten zwei Monate waren für mich diesbezüglich ziemlich tricky. Ohne das tägliche Ladengeschäft musste ich mich auf meine eigene Intuition verlassen. Mit dem Ergebnis bin ich dennoch zufrieden, auch wenn aus Budgetgründen nicht ganz alles eingekauft werden konnte, was ich mir gewünscht hätte.

Du betonst deine Offenheit gegenüber allen Stilen. Gibt es aber auch für dich Tabu-Genres?
Ich bin in der Tat offen für fast alles und finde es schrecklich, "andere" Stile schlechtzureden. Das kommt vielleicht auch mit dem Alter und der Weisheit (lacht). Früher haben wir bei Chop immer Jahres-Besten-Listen gemacht und dort gab's die Kategorie "Peinlichstes Lieblingslied". Dort gab ich 2007 "Stark" von Ich & Ich an. Ich finde, auch wenn dir einer dieser produzierten, glatt geschliffenen Tunes gefällt, solltest du dazustehen. Es gibt aber natürlich auch hier Grenzen! Bei den Stilrichtungen gibt es in der Tat Tabus: bei debildem Party-Eurodance komme ich innert 10 Sekunden an meine Grenzen.

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Du standest auch schon als DJ hinter Plattentellern. Ist das etwas, das du gerne machst?
Das ist schon lange her. Ich habe nie oft öffentlich aufgelegt und werde das auch nicht mehr tun. Als DJ hast du eine Art Verpflichtung, die Hits zu spielen. Ich spielte dann beispielsweise immer Track vier, obwohl alle Leute gerne Track sieben gehört hätten. Das gab oft eine Anti-Dynamik, die keinem was bringt. Das Mixen selbst bereitet mir aber schon sehr grosse Freude. Mit gleichgesinnten Kollegen gab es da schon unzählige inspirierende Sessions, zu zweit, zu dritt, mit ein paar Bierchen. Meistens im privaten Rahmen durchgeführt; aber ab und an auch im Laden.

Hast du neben dem Laden noch andere Projekte am Laufen?
In der aktuellen Lage ist das nicht möglich. Der Laden beansprucht mich weit über hundert Prozent, die ich mindestens in der ersten Phase ohne Angestellte stemmen muss. Den Musik-Talk mit ullustren Gästen zum Beispiel, den ich vor ein paar Jahren mit Re (Anm. d. Red. Reto Wilk / Ray Wilco) ins Leben rief, möchte ich aber unbedingt wiederbeleben. Eine kleine Runde Musikfreaks, die – eher auf einer trashigen Ebene – über die aktuellen Neuerscheinungen fachsimpeln. Gemütliche Sofas und Lo-Fi-Lampen geben das passende Ambiente. Das hat immer grossen Spass gemacht und soll bald wieder Platz finden.

Aktuell sprechen viele Leute von einem Vinylboom. Europäische Presswerke – zumindest für Private und kleine Labels – sind monatelang ausgebucht. Wie erlebst du diesen "Boom" und wie wird sich dieser in nächster Zeit entwickeln?
Das mit der Auslastung der Presswerke ist in der Tat so. Man stellt dies auch bei den grossen Schweizer Künstlern fest, bei denen das Vinyl oft erst mehrere Wochen nach dem CD-Release erhältlich ist. Wie sich der Boom künftig entwickelt und wie die Auswirkungen auf das Geschäft im Laden sind, ist sehr schwierig zu sagen. Mittlerweile spricht jeder von einem Vinylboom. Für mich persönlich war Vinyl nie weg. Und die Künstler, die auch in den letzten zehn bis zwanzig Jahren regelmässig Platten veröffentlichten, sind zahlreicher als man meint. Langfristig betrachtet gebe ich dem Tonträger Vinyl deutlich mehr Chancen als beispielsweise der CD.

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Ist Serge and Peppers Records eine Anspielung auf das Beatles-Album Sgt. Pepper's Lonley Hearts Club Band ? Was hat es mit dem Namen auf sich?
Der Name ist tatsächlich eine Anlehnung an das fantastische Beatles-Album. Ich bin selbst Beatles-Fetischist und habe grossen Respekt vor dem Gesamtwerk der Band. Bei der Frage "Beatles oder Stones", würde ich mich ohne mit der Wimper zu zucken immer für die Beatles entscheiden. Das Wortspiel "Serge and Peppers" passt also wunderbar. Das eigentlich Lustige daran ist aber etwas anderes: Eine Woche nachdem ich mich für den Namen entschieden habe, stellte ich zufällig fest, dass das Album genau an unserem Eröffnungsdatum – vor 50 Jahren – herauskam. Das gibt dem Ganzen noch einen besonderen Touch. Der war aber wirklich ungeplant; auch wenn mir das jetzt natürlich wohl niemand glauben wird (lacht).

Was ist dein liebstes Album, dass ein Berner Künstler in den letzten zwei Jahren auf Vinyl veröffentlichte.
Die neue Baze. Bruchstück. Das Album ist richtig gross, fantastisch. Baze ist generell ein Künstler, der mich berührt. Stilistisch offen, sehr mutig, nicht an irgendwelche Genres gebunden, ohne Berührungsängste.

Obwohl es dir sicher nicht leicht fällt: Kannst du mir drei deiner "All time Favourites" nennen?
Wenn ich angetrunken bin, sprudelt es nur so bei dieser Frage. Jetzt bin ich aber nüchtern, sehr nüchtern. Ich versuch's trotzdem; kann dir aber nur eine Momentaufnahme liefern; morgen würde diese Liste schon wieder ganz anders aussehen: "It's A Shame About Ray" von The Lemonheads, "White Light, White Heat, White Trash" von Social Distortion und als absoluter Liebling "Industrial Silence" von Madrugada.


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