Ich habe meinen Vater zu einem Treffen der Anonymen Alkoholiker begleitet
Der Autor und sein Vater vor der AA-Beichte | Alle Fotos: bereitgestellt vom Autoren

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Ich habe meinen Vater zu einem Treffen der Anonymen Alkoholiker begleitet

"Hallo, mein Name ist Charlie … und ich bin kein Alkoholiker."

Vor sieben Jahren gestand mir mein Vater kurz nach meinem 18. Geburtstag, dass er schon länger zu den Anonymen Alkoholikern (AA) geht. Seit sechs Jahren, um genau zu sein. Ich hatte schon immer gewusst, dass mein Vater nicht dazu in der Lage war, nur einen Drink zu sich zu nehmen. Leider verwandelte er sich nach dem zweiten Glas immer in einen anderen Menschen. Meine Beziehung zu ihm war schon seit einer Weile sehr angespannt. Als mir auffiel, dass mein Vater zu viel trank, ließen sich meine Eltern gerade scheiden. Deswegen war ich traurig und sauer auf sie, aber der Alkoholkonsum meines Vaters steigerte meine Wut nur noch weiter. Wenn er betrunken war, kümmerte er sich nicht mehr um mich. Nein, ich musste mich stattdessen um ihn kümmern.

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Zwar gab es einige wirklich schlimme Momente und mein Vater wurde ein ziemliches Arschloch, wenn er trank, aber er war dennoch ein guter Vater. Mir ist nie in den Sinn gekommen, dass er Alkoholiker war und Hilfe brauchte, um nicht komplett abzurutschen.

Nach seiner Beichte fragte mich mein Vater, ob ich ihn zu einem AA-Treffen begleiten würde. Ich wusste damals nicht viel über die Vereinigung, nur das Übliche aus dem Fernsehen; mehrere Menschen sitzen im Kreis zusammen und sagen: "Hallo, mein Name ist X und ich bin Alkoholiker." Ich war mir aber auch der Kritik an den Anonymen Alkoholikern bewusst. Es heißt, das Ganze sei übertrieben religiös, grenze an einen Kult und es gebe keine wissenschaftlichen Belege für die Wirksamkeit des Programms. Direkt mit der Organisation hatte ich jedoch noch nie zu tun gehabt. Also nahm ich die Einladung meines Vaters mit einer Mischung aus Neugier und Ergriffenheit wegen seiner Verletzlichkeit an.


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An einem warmen Sommertag war es schließlich soweit. Zusammen mit meinem Vater fuhr ich zu einem AA-Treffen. Je näher wir unserem Ziel kamen, desto nervöser wurde ich. Ich hatte ja keine Ahnung, wie der Rest der Gruppe mich aufnehmen würde. Und wie würde ich auf das reagieren, was in der Runde zur Sprache kommt? Was, wenn jemandem meine Anwesenheit nicht passt? Mein Vater versicherte mir, dass keiner ein Problem damit haben würde, vor mir zu reden.

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Wir parkten das Auto vor einem Gebäude, das die Organisation jede Woche für ein paar Tage von der Kirche anmietete. In einem großen Raum standen 15 Stühle im Kreis. Wir waren früh dran. Ein Mann, der wie der Leiter des Treffens wirkte, begrüßte meinen Vater und mich. Er machte einen freundlichen Eindruck und hatte einen amerikanischen Akzent. "Dein Vater hat mir schon so viel von dir erzählt. Und weißt du was? Du kannst dich wirklich glücklich schätzen, einen so tollen Vater zu haben. Er ist unglaublich gütig und hat hier schon vielen Leuten weitergeholfen. Ich bin froh, dass du heute mit dabei bist!" Der Mann war so nett, dass ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte.

Immer mehr Leute setzten sich zu uns – meistens Männer zwischen 30 und 60. Mit meinen 18 Jahren fühlte ich mich wie ein Baby. Als sich alle im Kreis zusammengefunden hatten, räusperte sich der freundliche Mann und eröffnete das Treffen.

Allein der Gedanke daran, mich vor fremden Menschen zu öffnen, ließ mein Herz schneller pochen.

"Hallo, mein Name ist David* und ich bin Alkoholiker", sagte er.

"Hallo David", antworteten alle – außer ich – im Einklang.

Es war wirklich so wie im Fernsehen.

David hieß alle Anwesenden willkommen und stellte mich als Andreas' Sohn vor. Wie sich herausstellte, war ich der einzige anwesende Verwandte. Ich war aber zu nervös, um selbst etwas zu sagen. Einfach nur zuzuschauen, war mir nicht unangenehm. Aber allein der Gedanke daran, mich vor fremden Menschen zu öffnen, ließ mein Herz schneller pochen.

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"Wer will anfangen?", fragte David.

Nach einem kurzen Moment der Stille hob ein Mann seine Hand.

"Ich. Hallo, mein Name ist Mats und ich bin Alkoholiker."

"Hallo Mats." Dieses Mal machte ich mit.

Nacheinander war jeder dran, etwas zu erzählen. Zwar hatten alle Geschichten etwas Eigenes, aber gewisse rote Fäden ließen sich dennoch erkennen: ein Verlangen nach dem, was man nicht haben kann, das Chaos nach dem Rückfall, Schuldgefühle, Scham und Traurigkeit.

Der Autor und sein Vater vor wenigen Jahren

Nach gut 20 Minuten hatte die Person rechts von mir ihre Geschichte beendet und alle Augen richteten sich auf mich. Ich wurde erneut von Panik ergriffen, weil ich eigentlich nicht vorhatte, etwas zu sagen.

"Hallo, mein Name ist Charlie … und ich bin kein Alkoholiker", murmelte ich.

Die Worte aus meinem Mund klangen komisch und die Tatsache, dass ich vom Standardsatz abgewichen war, zog einige verdutzte Blicke nach sich. Einige Anwesenden antworteten aber auch mit "Hallo Charlie".

Ich dachte darüber nach, was ich sagen wollte. Meine Beziehung zum Alkohol ist recht kompliziert. Wenn ich mit Freunden unterwegs bin, trinke ich. Manchmal auch zu viel. Es ist auch schon vorgekommen, dass ich völlig verkatert meinen Vater getroffen habe. Das waren immer ziemlich peinliche Momente. Einmal war es beim Mittagessen am Vatertag besonders schmerzhaft, denn er war total enttäuscht und ich fühlte mich total beschissen. Wenn ich wütend bin, verspüre ich ab und an den Drang zu trinken. Dann denke ich daran, wie mein Vater seine Probleme wegtrinken wollte. Der Drang lässt sich so leichter ignorieren. Ich glaube nicht, dass ich jemals trinken werde, nur um meine Gefühle auszublenden. So gesehen hatte die Alkoholsucht meines Vaters zumindest etwas Positives.

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"Ich bin heute hier", erzählte ich der Gruppe, "weil mich interessiert, wie ein Treffen der Anonymen Alkoholiker abläuft. Ich weiß ja auch, wie sehr ihr alle meinem Vater geholfen habt." Mein Vater lächelte mir aufmunternd zu. "Dafür bin ich sehr dankbar. Genauso wie für die Tatsache, dass ich heute dabei sein und eure Geschichten anhören darf", fuhr ich fort.

Und das meinte ich wirklich so. Ich weiß noch genau, wie ich einen dicken Kloß in meinem Hals hatte, als ich mit meinem Vortrag fertig war. Ich bin nämlich nicht nur eine Niete im öffentlichen Reden, sondern war tatsächlich berührt von den privaten Geschichten der anderen. Sie hatten mir Dinge erzählt, die sie normalerweise mit keinem Menschen außerhalb der Gruppe teilen würden.

Ich fühlte so viele Emotionen auf einmal – Freude, Stolz, Liebe, Hoffnung, Dankbarkeit. Aber auch eine tiefgreifende Traurigkeit.

Als Nächstes war mein Vater an der Reihe. Genauso wie bei unserem Abendessen vor ein paar Monaten stellte er sich als Alkoholiker vor. Zum Glück erzählte er nicht von irgendwelchen bestimmten Momenten aus meiner Jugend, als er noch trank. Mir wurde bewusst, dass ich vor dem Treffen genau davor Angst gehabt hatte: im Beisein anderer Leute diese Momente nochmal durchleben zu müssen. Ich war einfach nur froh, dass mein Vater und ich das alles hinter uns gelassen hatten. Bestimmt hatte er diese Geschichte schon bei anderen Treffen erzählt. In meinem Beisein redete er lieber darüber, dass er sich ohne Alkohol viel besser fühlte.

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Zusammen mit meinem Vater zu einem Treffen der Anonymen Alkoholiker zu gehen, war überwältigend. Ich fühlte so viele Emotionen auf einmal – Freude, Stolz, Liebe, Hoffnung, Dankbarkeit. Aber auch eine tiefgreifende Traurigkeit. Denn ich merkte, wie schwer es mein Vater und die anderen gehabt hatten. Am Ende des Treffens standen alle auf und fassten sich an den Händen. Wir sagten das Gelassenheitsgebet auf, das ich natürlich nicht kannte. "Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann … "

Später diskutierte ich mit meinem Vater darüber, dass sich das Ganze für mich sehr religiös angefühlt hatte. Seiner Meinung nach müsse man nicht religiös sein, um zu den Anonymen Alkoholikern zu gehen. Es sei aber hilfreich, an "etwas Höheres als man selbst" zu glauben, damit das Programm etwas bringt. Er und viele andere AA-Mitglieder sehen deshalb einfach die anderen Anwesenden als diese "höhere Macht" an. Für mich ergab das Sinn, denn die Beziehung zu meinem Vater ist auch ein Grund dafür, warum ich ein besserer Mensch sein will.

§

Mein Vater ist jetzt fast 15 Jahre trocken. Er geht immer noch zu den AA-Treffen und glaubt, ohne sie vielleicht wieder mit dem Trinken anzufangen – selbst nach dieser langen Zeit. "Ich bin auch heute noch dabei, weil ich eine Erinnerung daran brauche, dass ich zu den Leuten gehöre, die niemals trinken sollten. Die Organisation hat mir immens weitergeholfen", sagt er. Inzwischen ist er als Sponsor tätig und hilft neuen Mitgliedern beim Einstieg in das Programm.

Ich werde niemals vergessen, was mein Vater im betrunkenen Zustand uns und sich selbst angetan hat. Damit kann ich aber leben. Uns beiden geht es jetzt schließlich viel besser als damals. Die Anonymen Alkoholiker sind vielleicht nicht jedermanns Sache und auch nicht der einzige Weg aus der Alkoholsucht. In unserem Fall wäre mein Vater mir aber vielleicht immer noch fremd, wenn er niemals Hilfe bei der Organisation gesucht hätte.

*Alle Namen geändert

Süchtige und ihre Nahestehenden können bei Kenn-Dein-Limit eine Beratungsstelle vor Ort suchen. Und bei A-Connect gibt es Hilfe für Angehörige.

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