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Kanada

Für kanadische Inuits sind Lebensmittel fast unbezahlbar

In Nunavut im Norden Kanadas leiden die Inuit unter extrem hohen Lebensmittelpreisen. Die Lösung? Zurück zu den eigenen Wurzeln.
Photo via Flickr user Alan Sim

Kanada ist ein extrem fruchtbares Land und ein echtes Schwergewicht in Sachen Landwirtschaft—schließlich ist es der weltweit fünftgrößte Ausführer von landwirtschaftlichen Erzeugnissen wie Rapsöl, Hülsenfrüchte, Hartweizen und, selbstverständlich, Ahornsirup. Da würde man natürlich nicht unbedingt denken, dass immer mehr Kanadier an Hunger leiden.

Laut einem jährlichen Hungerbericht der Vereinigung kanadischer Essenstafeln (Food Banks Canada) sieht sich eine zunehmende Zahl von Kanadiern gezwungen, den Gang zur Suppenküche anzutreten. Denn die Zahl der Hilfesuchenden sei seit der Wirtschaftskrise 2008 um 25 Prozent gestiegen. Wohingegen sich die kanadische Wirtschaft im Großen und Ganzen gut von der weltweiten Rezession in jenem Jahr erholen konnte, sind vor allem viele sozial Schwache auf der Strecke geblieben. Insgesamt waren es im Jahr 2012 rund vier Millionen Kanadier. Ziemlich überraschend, wenn man doch bedenkt, dass Kanada ein Mitglied der G7/G8 ist. (Andererseits, wenn selbst schon viele Amerikaner hungern müssen…)

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Inuit-Familien zahlen im Schnitt mehr als doppelt so viel für ihre Lebensmittel wie die Einwohner im übrigen Land.

Die alarmierenden Zahlen sorgten für ein großes Medienecho. Doch für die im Norden Kanadas lebenden Inuit ist das Problem Hunger gewiss keine Neuigkeit. Denn seit vielen Jahrzehnten schon wissen die Einwohner von Nunavut—eine riesige, abgeschiedene und dünn besiedelte Region im Osten Kanadas, die bis nach Grönland hochreicht—nur allzu gut um die alltäglichen Hindernisse, an (genügend) Essen zu kommen. Aufgrund der hohen Transportkosten—das Essen muss per Flugzeug in das abgeschiedene Territorium hoch im Norden geliefert werden—zahlen Inuit-Familien im Schnitt mehr als doppelt so viel für ihre Lebensmitte wie Kanadier weiter im Süden. So lag der Durchschnittspreis für 2,5 kg Mehl im letzten Jahr bei rund 11 Euro. Noch ein Beispiel gefällig? Gerne. Der Preis für Sellerie lag 2014 287 Prozent über dem im übrigen Kanada. Und sogar der Preis für Zucker war um 192 Prozent höher.

Papatsie Leesee ist die Gründerin von Feeding My Family, eine Facebook-Gruppe, die sie 2012 ins Leben gerufen hat, um auf die extrem hohen Preise—bei gleichzeitig geringer Qualität—der in den 28 Gemeinden von Nunavut erhältlichen Lebensmittel aufmerksam zu machen. Die Gruppe hat mittlerweile schon mehr als 21.000 Mitglieder, darunter auch viele Mütter. Und die, so Papatsie weiter, beklagen ihr Los regelmäßig auf Facebook. So seien Posts wie „Ich hungere, damit meine Kinder mehr zu essen haben" oder „Ich schicke meine Kinder zu meinem Cousin, weil sie dort was essen können" absolut keine Seltenheit.

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In Nunavut leben sieben von zehn Inuit-Vorschülern in Haushalten, die regelmäßig mit Hunger konfrontiert werden. Diese Statistik geht auf einen 2013 erschienenen Bericht zurück. Laut Kingston, einem der Autoren, lässt sich der zunehmende Hunger in den Inuit-Gemeinden mit dem massiven kulturellen Wandel erklären, der in den 1950er-Jahren einsetzte, als der Kalte Krieg die Aufmerksamkeit der kanadischen und amerikanischen Regierungen aus Gründen der Sicherheit sowie der Wahrung territorialer Ansprüche gen Norden verschieben ließ. Angelockt von neuen Arbeitsplätzen im Bausektor, beschlossen immer mehr Inuit—ursprünglich ein vom Jagen und Fischfang lebendes Nomadenvolk, das ihr Leben nach den Routen der Rentiere, Robben und Narwale ausgerichtet hatte—, sesshaft zu werden. Die meisten ließen sich in der Nähe von Frühwarnstationen nieder, mit deren Hilfe die Alliierten rechtzeitig über sich nähernde sowjetische Bomber informiert werden konnten.

„Innerhalb kürzester Zeit gaben die Inuit ihre Vergangenheit als Jäger und Sammler auf und begannen—fernab von ihren traditionellen Nomadenrouten—damit, in festen Siedlungen zu leben", so Kingston weiter. „Diese Entwicklung hatte auch Auswirkungen auf ihre Ernährung, da sie jetzt ihr Essen—oft vollgestopft mit Salz, Zucker oder ungesunden Fetten—aus Lebensmittelgeschäften beziehen mussten." Infolgedessen sind 75 Prozent der Haushalte in Nunavut, die nicht ein jagendes Familienmitglied haben, einer prekären Ernährungssituation ausgesetzt.

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Aufgrund der hohen Preise und der geringen Qualität der eingeflogenen Lebensmittel machen sich Kingston und sein Team stark dafür, dass Familien in Nunavuk endlich mehr lokale Erzeugnisse in ihre Ernährung aufnehmen. Laut Papatsie würden sich viele Familien interessiert zeigen, doch die Umgewöhnung wird ihre Zeit brauchen.

„Wir sind es einfach nicht gewohnt, Obst und Gemüse zu essen, da es nicht Teil unserer ursprünglichen Kultur ist und unser Volk vor gerade einmal 50 Jahren zum ersten Mal damit in Berührung gekommen ist", so Papatsie weiter. „Es gibt bei uns wieder mehr Leute, die davon träumen, jagen zu gehen." Doch laut Papatsie ist in diesen Breitengraden auch die Jagd ein teures Vergnügen: eine Ganzjahresausrüstung—samt Schneemobil, Quad, Booten und Waffen—kann schnell mehr als 45.000 Euro kosten.

Mittlerweile hat sich auch die kanadische Regierung bereit erklärt, den Menschen in Nunavut zu helfen. Aber laut Papatsie würde die Hilfe nicht ausreichen. Als Beispiel nennt sie das 2011 eingeführte—und von vielen Seiten kritisierte—Nutrition-North-Programm, bei dem teilnehmende Lebensmittelgeschäfte für den Einkauf staatliche Subventionen erhalten. Diese Preisvorteile sollen eigentlich an den Kunden—und zwar in Form von niedrigeren Preise—weitergegeben werden. Doch genau das, betont Papatsie, sei nie geschehen.

„Wenn uns die Regierung wirklich helfen wollte, würde sie auch einen Weg finden", sagt Papatsie. „Doch das einzige, was sie wirklich interessiert, ist unser Land und Boden."

Oberes Foto: Alan Sim | Flickr | CC BY 2.0