Ein Gefängnispsychologe hat uns erklärt, wie er Mörder, Vergewaltiger und Schläger therapiert

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Verbrechen

Ein Gefängnispsychologe hat uns erklärt, wie er Mörder, Vergewaltiger und Schläger therapiert

"Ich muss meine Patienten mögen, sonst funktioniert es nicht."

Mörder, Vergewaltiger und Gewaltverbrecher – das sind die Menschen, denen Uwe Kazenmaier jeden Tag begegnet. Denn sie haben eines gemeinsam: Der Staat hält sie für so gefährlich, dass sie nicht nur einfach weggesperrt werden, sondern hinter Gittern auch noch besondere Betreuung brauchen. Und als Psychologe in der Sozialtherapeutischen Anstalt des Tegeler Gefängnisses ist das Kazenmaiers Job.

Sozialtherapeutische Anstalten gibt es in Deutschland seit den frühen 70er Jahren. Die Idee: Durch intensive persönliche Therapie und soziale Hilfe soll verhindert werden, dass gewaltbereite Täter nach der Entlassung rückfällig werden. Und die Methode funktioniert. Die Wahrscheinlichkeit für einen Rückfall ist um ein Drittel geringer bei Tätern, die eine Sozialtherapie durchlaufen haben.

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Die Anstalt ist in einem separaten Gebäude der JVA untergebracht und sie hat ihre eigenen Regeln. Zum Beispiel können sich die Häftlinge frei auf dem Gang bewegen – auch nachts, denn die Zellen werden nicht verschlossen. Obwohl das offiziell verboten ist, können sie sich also auch gegenseitig besuchen. "Das ist auch interessant für uns zu sehen, wie sich einer verhält, wenn er eine klare rote Linie hat", erklärt Kazenmaier, während er über den Flur führt. "Übertritt er sie, oder übertritt er sie nicht?" Sein Büro befindet sich auf demselben Gang, zwischen den Zellen seiner Patienten. Sobald er aus der Tür tritt, ist er unter ihnen.

Uwe Kazenmaier in seinem Büro. Alle Fotos vom Autoren

VICE: Herr Kazenmaier, haben Sie eigentlich nie Angst vor Ihren Klienten?
Uwe Kazenmaier: Die meisten hier würden die Frage wahrscheinlich mit "Angst nicht, aber Respekt" beantworten. Aber ganz ehrlich: Natürlich haben wir Angst. Wir können denen ja gar nichts entgegensetzen. Wenn wir beide jetzt hier auf den Gang gehen würden, und da stünden fünf Männer und wollten uns totschlagen, dann würde uns niemand helfen können. Da kann ich noch so schnell den Alarm auslösen, die Wachen wären nicht schnell genug da. Aber: Diese Angst kann ich mir nicht dauernd eingestehen, weil ich sonst nicht hier arbeiten könnte.

Sind Sie denn je in Gefahr gekommen?
Ich habe mich nie bedroht gefühlt. Aber vor Jahren wurde meine ehemalige Chefin hier auf dem Gang mit einer Schere angegriffen. Auch die Beamten werden manchmal attackiert. Aber: Das ist wirklich die Ausnahme, denn es ist ziemlich sinnlos. Das sind ja keine Verrückten hier, das sind Kriminelle. Die wissen, dass sie am Schluss immer verlieren.

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Warum gibt es diese Anstalt eigentlich? Haben Gewaltverbrecher es verdient, auch noch auf Staatskosten therapiert zu werden? 
Wir tun das ja nicht für den Verbrecher, sondern für die Gesellschaft. Ich will, dass der Täter weniger gefährlich wird, nicht, dass er glücklicher ist. Das lässt sich nur meist nicht trennen – aber die schwierige Beziehung zur Mutter ist nur dann relevant, wenn sie einen Einfluss auf die Gefährlichkeit hat.

Wie lange brauchen Sie, um aus einem Verbrecher einen braven Bürger zu machen?
Im Durchschnitt dauert eine Therapie hier drei Jahre. Am Anfang sind die Leute oft negativ eingestellt – wer mag schon Psychologen? Ich würde sagen, dass man knapp das erste halbe Jahr mit dem Kennenlernen beschäftigt ist. Und irgendwann reden wir dann über das Delikt.

Fällt das den Tätern schwer?
Oft muss ich ihnen ihre eigene Verantwortung erst erklären, sie dafür sensibilisieren, wie gefährlich sie sind. Da stehen sie sich selbst im Weg. Sie rechtfertigen sich mit Sprüchen wie "Das Opfer hat mich provoziert", "Das war nur eine kleine Warnschelle", "Was hätten Sie denn gemacht?", "Das war so eng in der U-Bahn-Station, ich musste den aufs Gleisbett schubsen", oder, mein Favorit: "Ich bin ja nur hier, weil der eine Zeuge mich verraten hat".

Dann geht es darum, was mit den Leuten los war, als sie das Delikt begangen haben. Wir versuchen, Risiko-Faktoren zu finden: einmal Umwelteinflüsse wie Alkohol, schlechte Einflüsse, Arbeitslosigkeit, aber auch die Dinge, die in den Leuten selbst angelegt sind. Wir versuchen, deren Leben so zu konstruieren, dass diese Faktoren minimiert werden.

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Wie kommen Sie denn überhaupt an diese Leute ran?
Oft kann man sich deren eigene Systeme zunutze machen. Bei Muslimen zum Beispiel – viele werden nämlich religiös, sobald sie hier reinkommen – nehme ich den Koran, von dem sie meistens wenig Ahnung haben. Man stellt dann zusammen mit dem Inhaftierten fest, dass man mit geklautem Geld keinen Imbiss eröffnen oder seinem Kind ein Geschenk kaufen darf, weil dieses Geld haram ist, also verboten und fluchbeladen ist. Dann fangen diese Obergangster, die vielleicht draußen noch Geld gebunkert haben, damit an, ihren Familien nur noch das Geld zu schicken, das sie hier drin verdienen.

Ich habe das früher mit den Nazis – von denen wir nicht mehr so viele haben – genauso gemacht. Da haben wir über "deutsche Tugenden"geredet: Disziplin, Fleiß, Pünktlichkeit. Dann sind wir mit der Checkliste durch ihr Leben gegangen: nie gearbeitet, nie die Zelle aufgeräumt, immer zu spät gekommen. Dann entstehen Gesprächssituationen, wo die Leute einem zuhören.

Gibt es auch Leute, bei denen die Therapie sinnlos ist?
Es gibt Gruppen, mit denen kann ich nicht arbeiten. Vor allem die Ideologen – das können Islamisten sein, genauso wie Nazis. Der eine sagt, seine Tat sei ein Dschihad gewesen, der andere, er habe das gemacht, um Deutschland von Ausländern zu befreien. Das gibt es übrigens auch bei Pädophilen. Die argumentieren dann, dass das Verbot gegen Sex mit Kindern ein gesellschaftliches Konstrukt sei, das in anderen Gesellschaften ganz anders gehandhabt werde.

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Wie geht man damit um?
Man muss immer darauf beharren: Darum geht es hier nicht. Es geht hier um das Leid, das du verursacht hast, es geht hier um ein Kind, das du verletzt hast. Wenn einer behauptet, er habe jemandem "nur eine Schelle" gegeben, dann schaut man sich mit dem Fotos vom Opfer an, von dem Jochbeinbruch, den Hämatomen.

Was macht es mit Ihnen, wenn Sie einem Mörder gegenübersitzen?
Natürlich finde ich die Taten immer noch schrecklich, ich habe ja auch Familie und Kinder. Aber mit der Zeit habe ich gelernt, Menschen und ihre Taten, so gut es geht, voneinander zu trennen. Ich muss meine Patienten ja mögen, sonst kann ich mit denen nicht arbeiten.

Sie müssen sie mögen?
Ein Mensch kann unterscheiden, ob ich mich für ihn interessiere oder nur so tue. Das heißt nicht, dass ich den Klienten meine private Telefonnummer gebe, sondern dass ich ehrlich mit ihnen bin. Wenn ich von jemandem Respekt will, muss ich Respekt geben.

Aber wie kann man Mörder und Vergewaltiger mögen?
Wenn ich vor so einem Mann sitze und mit ihm seine Biografie durchgehe, komme ich meistens an einen Punkt, wo er ein kleiner Junge war, der bestimmte Dinge erlebt hat, und mir vielleicht sogar leid tun kann. Das hat nichts damit zu tun, die Taten zu entschuldigen. Es geht darum, die Zusammenhänge zu verstehen: Wie ist aus diesem Typen, der immer getreten wurde, jemand geworden, der andere getreten hat. Irgendwann kann ich sie gleichzeitig sehen: den Mann, der Schreckliches getan hat, und den Jungen, der mit leidtut. Aber in seltenen Fällen klappt das auch nicht. Dann arbeite ich mit den Leuten nicht.

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Ist das schon vorgekommen?
Vor Jahren sollte ich mal einen Klienten kriegen, der Babys missbraucht hat – unter anderem. Ich war gerade Vater geworden, kam quasi frisch aus dem Krankenhaus. Da habe ich gesagt, das geht im Moment nicht. Ein halbes Jahr später war das dann wieder OK.

Wie gehen Sie damit um, wenn von Ihnen entlassene Menschen rückfällig werden?
Statistisch gesehen werden von allen, die ich entlasse, mehr rückfällig als nicht. Und trotzdem bin ich sehr vom Sinn meiner Arbeit überzeugt. Einmal, weil jeder, der keine Opfer mehr produziert, ein guter Fall ist. Aber auch, weil es sich einfach rechnet. Ein Rückfalltäter kostet die Gesellschaft enorm viel Geld. Wenn ich nur zwei Leute pro Jahr davon abhalte, habe ich schon mehr als mein Gehalt eingespielt. Ich habe weit über hundert Leute entlassen, und davon rufen immer wieder welche an und sagen mir: "Ich freue mich, dass ich Sie getroffen habe."

Welche Fälle geben Ihnen Hoffnung?
Vor Jahren kam hier mal ein Skinhead rein, der war in der Szene ziemlich bekannt, ein Anführer. Der war am Anfang sehr widerborstig, hat sich aber schnell so gut entwickelt, dass er mir bald geholfen hat.

Irgendwann kam dann ein jüngerer Neonazi rein und hat vor dem Alten mit seinen Kämpfen geprahlt. Der Ältere hat ihn angeschaut und gesagt: "Weißt du, ich war früher genauso wie du. Ich hab zu Hause die Fresse vollgekriegt von meinem Alten. Dann hab ich meine Stiefel angezogen und bin auf die Straße und andere mussten meine Tränen für mich weinen." Da kriege ich immer noch Gänsehaut. Das war kein belesener Mann, der hat das einfach so rausgehauen.

Was ist das Wichtigste, das Sie in all den Jahren über Verbrecher gelernt haben?
Dass sie gar nicht so anders sind als man selbst. Viele Taten, die diese Menschen begangen haben, sind nicht so weit weg von dem, was wir auch begehen könnten, wenn wir in entsprechende Situationen kämen. Was mich all diese Jahre begleitet hat, ist die Frage: Was unterscheidet mich von denen?

Keiner von uns weiß, wie dünn das Eis ist, auf dem wir laufen. Wenn ich meinen Job verliere, auf dem Nachhauseweg einen Autounfall verursache und dann noch zu Hause einen Zettel meiner Frau finde, dass sie mit Kindern und Möbeln zu ihrer Mutter gezogen ist … Wie viel hält ein Mensch aus?

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