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house

Carl Cox hat eine Schildkröte im Meer ausgesetzt und ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken

Dank Cox kann Coxy (sic!) wieder nach Herzenslust Sandbänke entlanggleiten, durch Algen schnuppern und Krill knabbern.

Es gibt Bilder in der jüngeren Geschichte, die einzelne Menschen, Gemeinschaften und ganze Nationen zum Innehalten gebracht haben—Bilder, die sich in unser kollektives Unterbewusstsein eingebrannt und durch ihre bloße visuelle Kraft die komplette Aufmerksamkeit auf ein einziges Thema gerichtet haben; Bilder, die mehr sagen als tausend Worte; Bilder, die noch weit über die Grenzen ihrer Gegenwart hinaus existieren. All das trifft wahrscheinlich kaum mehr auf ein Bild zu als das Foto von Carl Cox, dessen magische DJ-Finger eine Schildkröte ins Meer entlassen.

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Schau dir die Szenerie nur mal an. Carl steht am Ufer, neben ihm glitzert das kristallklare Wasser, sein jeansblaues Hemd ist bis zur Brust aufgeknöpft, die drückende Schwüle der Aquariums-Bucht macht ihm sichtlich zu schaffen. Aber da ist diese unbedingte Entschlossenheit in seinem Blick—er ist sich wahrscheinlich irgendwie bewusst, dass er gerade fotografiert wird, aber seine Gedanken kreisen alle nur darum, dass die Schildkröte (die übrigens liebevoll Coxy getauft wurde) so schnell wie möglich in ihr natürliches Habitat entlassen wird. Schweiß perlt von seiner Stirn, aber nein, er kann jetzt nicht innehalten. Auf keinen Fall. Erst muss er seinem gepanzerten Freund die Freiheit schenken.

Carl Cox ist definitiv einer der Guten (er bringt schließlich auch eine Schildkröte zurück ins Meer). Er ist zum Aushängeschild von Ibiza geworden, ist immer mühelos mit der Zeit gegangen und hatte jahrelang eine vielgefeierte Residency im Space. Die Ankündigung, dass er sie ab 2017 diesen ehrenvollen Titel abstreifen wird, wurde erwartungsgemäß mit großer Trauer aufgenommen. Und jetzt ist er hier, in dieser überwachten Schildkrötenanlage, und seine Hände, die wenige Nächte zuvor noch Big Room House auf aufgetakelte Mittzwanziger in Blümchen-Hemden und Knöchelsocken geschleudert haben, fassen jetzt mit dem gleichen Feingefühl und der gleichen Selbstsicherheit das Leben selbst an. Carl Cox, der eine Schildkröte ins Meer entlässt, ist ein Sinnbild für so viele verschiedene Dinge: an die Verletzlichkeit unseres Planeten, die Überheblichkeit, mit der wir ihn behandeln, und daran, dass wir letztendlich nur darauf hoffen können, zu wahrer Größe aufzusteigen, wenn wir die Kreaturen, mit denen wir zusammen diesen sterblichen Felsen bewohnen, mit Respekt behandeln und uns um sie kümmern.

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Manchmal überlege ich, was wohl in dem Moment passiert ist, kurz nachdem Carl Cox der Schildkröte im Meer die Freiheit geschenkt hat? Was für Gedanken gingen ihm durch den Kopf? Was für Gedanken wären mir an seiner Stelle durch den Kopf gegangen? Das Foto von Carl Cox, der eine Schildkröte im Meer aussetzt hat mich an ein altes Haiku von Matsuo Bashō erinnrt, das ich an dieser Stelle gerne mit euch teilen möchte:

Uralter Teich.
Ein Frosch springt hinein.
Plop.

Nun, in dem Haiku geht es fraglos um einen Frosch nicht um eine Kröte, und anstelle des Sprunges rückt hier das Zuwasserlassen dur Carl Cox—die Essenz des Inhaltes bleibt jedoch die gleiche. Es ist total egal, dass wir es hier mit einer Schildkröte zu tun haben—ja, es ist sogar egal, dass wir es hier mit Carl Cox zu tun haben. Das Foto könnte genau so gut zeigen, wie Solomun einen verletzten Fischreiher in die Freiheit entlässt; Eats Everything, der einem Parkranger dabei hilft, einen verängstigten Fasan unter einem Jeep hervorzulocken; Ricardo Villalobos, der eine Möwe von Öl befreit; Jackmaster, der einen alten Windhund adoptiert, oder Ben Klock, der eine Spitzmaus aufpeppelt. Die Details sind unbedeutend, die wahre Kraft liegt in der Aktion selbst. Der Frosch springt in den Teich. Plop. Wieder Stille. Es benötigt nur eines kurzen Moments, die Dinge zurück ins Lot zu bringen. Es braucht nur einen kurzen Moment für einen Star-DJ, damit er merkt, dass, wenn sich die Plattenteller aufgehört haben zu drehen, … die Welt sich weiter dreht.

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Du denkst dir vielleicht, dass es keine große Sache ist, wenn Carl Cox eine Schildkröte ins offene Meer entlässt. Vielleicht sagst du dir sogar in einem sarkastischen Tonfall: „Oh ja, ganz tolle Sache!" Tja, dann lass dir bitte eins gesagt sein: Vielleicht ist es für dich keine große Sache, dass Carl Cox eine Schildkröte ins Meer entlässt, aber weißt du, für wen das sehr wohl eine verdammt große Sache ist? Für die verdammte Schildkröte! Die Schildkröte kann jetzt endlich wieder alle Vorzüge des freien Lebens eines Meeresbewohners genießen: Sandbänke entlanggleiten, durch Algen schnuppern und Krill knabbern. Und weißt du warum? Weil Carl Cox sie ins offene Meer entlassen hat.

Am Ende liegt es aber vielleicht gar nicht an der Umwelt oder der Umweltverschmutzung, wahrscheinlich noch nicht mal an House-Musik, dass ich einfach nicht aufhören kann, darüber nachzudenken, wie Carl Cox eine Schildkröte in die Freiheit entlassen hat. Vielleicht liegt in diesem einfachen aber wunderschönen Bild der Beweis, dass, egal ob ganz normale Durchschnittsmenschen oder Superstar-DJs wie Carl Cox, wir alle das Zeug haben, eine Schildkröte im Meer auszusetzen. Und das ist ein Traum, so will ich doch meinen, an dem wir alle teilhaben können.

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Der Autor möchte an dieser Stelle anmerken, dass er sich natürlich über niemanden lustig machen möchte, der Schildkröten rettet. Schildkrötenretten gehört schließlich zu den lobenswerteren Taten, die man in seinem Leben verbringen kann. Carl Cox sagte auch, dass er die Schildkröte in das Meer entlassen hat, um auf die Schäden aufmerksam zu machen, die die Umweltverschmutzung auf Ibiza unter den Meeresbewohnern anrichtet—ebenfalls eine gute Sache.