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Die gruseligen Tagebücher von Frankreichs berühmtestem Henker

299 exekutierte Verbrecher gehen auf Anatole Deiblers Konto. Von jedem Verurteilten hat er Fotos und Notizen aufbewahrt, die jetzt in einem Buch veröffentlicht wurden.
Pierre Longeray
Paris, FR
Hinrichtung: Einer der Verbrecher, die vom Pariser Henker Anatole Deibler hingerichtet wurden
Eugène Crampon überfiel einen Pariser Weinladen und schoss auf seine Verfolger. Er wurde 1892 von Anatole Deibler hingerichtet | Alle Foto: bereitgestellt von La Manufacture de Livres

WARNUNG: Manche der Fotos in diesem Artikel sind äußerst brutal und verstörend.

Wenn man durch Anatole Deiblers Tagebücher blättert, liest man nichts darüber, was der Franzose erlebt hat. Stattdessen finden sich auf den Seiten viele Porträts von verurteilten Mördern, Dieben und Kindesmissbrauchern, die auf ihre Strafe warteten. Zwangsarbeit in Guyana? Eine lebenslange Haftstrafe? Oder doch ein frühmorgendlicher Termin mit Deibler selbst, dem berühmtesten Henker in ganz Frankreich?

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Deiblers Karriere als Scharfrichter begann 1891. Er führte von Anfang an sorgfältig Buch über die Kriminellen, die er köpfte. Ein schwarz eingekreistes rotes Kreuz neben einem Namen zeigte dabei an, wer auf Deiblers Guillotine gelandet war.

Der Kriminalgeschichtsexperte Éric Guillion durchforstete die Pariser Polizeiarchive, als er auf eine Sammlung alter Verbrecherfotos stieß. Die gut erhaltenen Bilder komplettieren Deiblers Aufzeichnungen. Zusammen ergeben sie eine detaillierte Liste der 299 Enthauptungen, die Deibler in seinen 40 Jahren als Frankreichs Vorzeigehenker durchgeführt hat.

Jetzt hat Guillon die Notizen und Fotos von Deibler in seinem Buch Guillotinés aufbereitet. Die darin beschriebenen Verbrechen sind teilweise abscheulich – zum Beispiel das der zwei jungen Männer, die 1891 auf Deiblers Schafott landeten. Die beiden hatten eine alte Frau ermordet, dann fast ihre Zunge herausgeschnitten, einen Metallbohrer in ihre Schläfe gedrillt und auf ihrer Leiche getanzt. Danach hatten sie schnell etwas gegessen und waren für ihr Alibi ins Theater gegangen. Wir haben mit Guillon über Anatole Deiblers Tagebücher und über das Leben des Henkers gesprochen.


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VICE: Wann wurden Verbrecherfotos eingeführt?
Éric Guillon: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, kurz bevor Anatole Deibler als Henker anfing. Zuvor war es für die Verbrecher ganz leicht, mithilfe einer falschen Identität dem Justizsystem zu entkommen. Vor den Fotos gab es nur eine zuverlässige Methode, Kriminelle zu identifizieren, nämlich durch Brandings.

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Auch berühmte Kriminelle kamen unter Anatole Deiblers Klinge – zum Beispiel Henri Désiré Landru, der elf Menschen getötet haben soll

Was ist über die Kriminellen in Guillotinés bekannt?
Es handelt sich zum Großteil um mehrfache Mörder, die besonders schreckliche Verbrechen begangen haben – sie haben zum Beispiel Frauen und Kinder gefoltert. Damals war es kaum möglich, durch Paris zu gehen, ohne von einer Gang überfallen zu werden. Zwischen 1891 und 1939 hatte Deibler am meisten zu tun. In diesen Zeitraum fiel auch der Erste Weltkrieg, da standen in vielen Fällen junge Männer vor Gericht, die kaum älter als 20 waren. Während des Kriegs schoss die Jugendkriminalität durch die Decke, weil so viele Familien kaputtgingen.

Wie liefen die Hinrichtungen ab?
Man erzählte den verurteilten Verbrechern nicht, wann sie exekutiert werden, damit sie nicht ausrasteten. Manchmal vergingen vier oder fünf Monate, bis das Urteil vollstreckt wurde. Die Kriminellen mussten jede Nacht damit rechnen, dass es ihre letzte ist. Es war gesetzlich vorgeschrieben, dass alle Hinrichtungen früh morgens stattfinden. In der Nacht davor bauten Deibler und seine Helfer so unauffällig wie möglich die Guillotine auf, aber die Bevölkerung bekam trotzdem immer Wind davon.

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Anatole Deibler (rechts) bedient die Guillotine

Was bedeutete das?
Abgesehen von den Verteidigern, den Richtern und den Staatsanwälten sollte eigentlich niemand wissen, wann eine Hinrichtung durchgeführt wird. Trotzdem verbreitete sich die Nachricht immer so schnell, dass sich richtige Warteschlangen bildeten. Jeder wollte bei der Exekution dabei sein. Bis 1939 waren die ja auch noch öffentlich. Und in Paris stand die Guillotine immer an den gleichen Orten, nämlich zuerst vor dem Gefängnis La Santé und später vor den Gefängnissen von La Roquette.

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Künstler und Menschen aus den oberen Gesellschaftsschichten sahen sich Exekutionen gerne an. Wenn ein berühmter Verbrecher hingerichtet wurde, mieteten sich manche Leute auch in Wohnungen mit Blick auf die Guillotine ein. Andere kletterten für eine bessere Sicht auf Mauern und Bäume. Für die Bevölkerung war das eine Art Entertainment – so wie für uns heute Reality-TV-Sendungen. Die Hinrichtungen wurden dann auch immer in den Zeitungen besprochen. Nach Deiblers erster Exekution hieß es am nächsten Tag zum Beispiel: "Mit der Leichtigkeit eines erfahrenen Fachmanns demonstrierte der junge Herr Deibler eine selbstbewusste Handgelenkdrehung. Nach diesem guten Einstand steht ihm mit Sicherheit eine große Karriere bevor, wir wünschen ihm viele erfolgreiche Auftritte."

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Zwei Mitglieder der "Banditen von Hazebrouck", die im Norden Frankreichs für viele Verbrechen verantwortlich waren

War Deibler beliebt?
Er galt als vorbildlicher Scharfrichter und erledigte seine Aufträge immer sehr professionell. Außerdem war er kein Sadist, ihm bereitete es keine Freude, Menschen zu exekutieren. Er legte sehr viel Wert darauf, dass seine Guillotine perfekt funktionierte, damit niemand unnötig leiden musste.

Wie wurde man damals zum Henker?
Anatole Deibler stammte aus einer Henkersfamilie, seine Vorfahren arbeiteten zuerst in Deutschland und später in Frankreich. Scharfrichter waren damals eine Art Gesellschaftsklasse, Deibler heiratete beispielsweise auch die Tochter eines anderen Henkers. Aus dem Familiengeschäft kam man nicht so einfach raus.

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Étienne Bouvier wurde verurteilt, weil er versucht hatte, eine Fünfjährige zu vergewaltigen und zu ermorden

Wollte Deibler überhaupt als Henker arbeiten?
Nein, ursprünglich war er als Verkäufer bei einem Schneider in einem großen Pariser Kaufhaus angestellt. Aber seine Verwandten drängten ihn dazu, die Familientradition weiterzuführen. Deiblers Vater war tatsächlich der erste Henker, der von seinem Posten zurücktrat. Er zitterte jedes Mal, wenn er jemanden köpfen musste. Also machte er Platz für seinen Sohn. Anatole Deibler hat sich aber auf jeden Fall einen Namen gemacht. Manche Kriminelle ließen sich sogar "Mein Kopf für Deibler" auf den Nacken tätowieren.

Welchen Stand hatten Henker in der Gesellschaft?
Der Beruf war schon recht begehrt, weil er einem Ansehen und ein gutes Gehalt für relativ wenig Arbeit einbrachte. Im Mittelalter hatten Scharfrichter auch noch andere Vorteile, sie durften sich auf den Lebensmittelmärkten zum Beispiel alles aussuchen. Nachdem Deibler im Februar 1939 gestorben war, gab es rund 200 Bewerbungen für die frei gewordene Stelle.

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Albert Fournier wurde 1920 exekutiert, weil er seine Schwester ermordet und eine Hausangestellte vergewaltigt und ermordet hatte

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