Illustration mit einem jungen Mann, der mit Schlafmaske im Bett liegt, während vor dem Fenster Neonlichter für 24/7 Party werben, für viele Menschen ist das Leben nach 2 Jahren Lockdown ruhiger geworden.
Illustration: Djanlissa Pringels
Menschen

Ich habe keinen Bock mehr auszugehen: Bin ich depressiv oder einfach alt geworden?

"Bis vor zwei Jahren konnte ich nicht genug kriegen. Jetzt bin ich um 23 Uhr platt, egal wie gut die Party ist oder wie viel ich trinke."

"Frag VICE" ist eine Artikelreihe, bei der uns Leserinnen und Leser bitten, ihnen bei verschiedenen Problemen zu helfen – egal, ob es sich um Beziehungsprobleme oder den Umgang mit nervigen Mitbewohnern handelt. Dieses Mal versuchen wir einer Person zu helfen, die seit dem Lockdown keine Lust mehr hat auszugehen.

Liebe VICE,

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ich habe ein peinliches Problem. Seit Beginn der Pandemie schaffe ich es kaum noch, lange wach zu sein.

Was ist los mit mir? Seit ich 16 bin, bin ich mindestens einmal die Woche feiern gegangen. Bis vor zwei Jahren lief das so: Zuerst in die Bar, dann in den Club und nach ein paar Stunden tanzen hatte ich noch genug Energie für Afterhour-Gespräche.

Jetzt bin ich um 23 Uhr platt, egal wie gut die Party ist oder wie viel ich trinke. An manchen Wochenenden schaffe ich es gar nicht erst, das Haus zu verlassen. Dann scrolle ich durch mein Insta und sehe zu, wie meine Freunde Spaß haben, während ich auf der Couch einpenne. Endlich können wir wieder Spaß haben und ausgehen, aber ich bin ein langweiliger Stubenhocker geworden.

Manchmal habe ich Angst, dass meine innere Uhr total im Eimer ist. Oder habe ich vielleicht sogar eine Depression? Ich bin dieses Jahr 31 geworden, aber das kann es doch nicht sein, oder?

Alles Liebe,

W.


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Hi W.,

es ist nicht unüblich, nach zwei Jahren Pandemie ein paar Startprobleme zu haben. Das hat auch nicht unbedingt was mit deinem Alter zu tun. Ja, du bist jetzt über 30, aber das heißt nicht, dass du plötzlich nicht mehr länger wach bleiben kannst.

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Es gibt zahlreiche Dinge, die deine Müdigkeit erklären könnten oder warum du zum langweiligen Stubenhocker geworden bist, wie du es formulierst. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Pandemie unser psychisches Wohlbefinden stark beeinflusst hat. Außerdem haben wir uns in den vergangenen zwei Jahren im Durchschnitt viel weniger bewegt, was einen negativen Einfluss auf unsere körperliche Gesundheit hat.

"Viele Menschen fühlen sich gerade ausgelaugt", sagt der Amsterdamer Psychologe Jean-Pierre van de Ven. "Du hast in letzter Zeit einfach nicht so viel gemacht, also haben sich deine Verhaltensmuster verändert. Das alles kann sich auf deine Energiereserven auswirken." 

Laut van de Ven ist es als erstes wichtig herauszufinden, ob deine Müdigkeit körperliche oder psychische Ursachen hat. "Ich würde dir empfehlen, zum Arzt zu gehen, damit du körperliche Ursachen ausschließen kannst", sagte er. Long-COVID könnte zum Beispiel ein Grund für deine ständige Erschöpfung sein. Eine Studie der Universität Bergen in Norwegen hat gezeigt, dass 52 Prozent der Erkrankten in der Altersgruppe 16 bis 30 auch sechs Monate nach ihrer Coronainfektion noch Symptome wie chronische Müdigkeit haben. Andere Studien kamen mit anderen Methoden zu Ergebnissen von fünf bis fünfzig Prozent.

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Sobald du das ausgeschlossen hast, kannst du darüber nachdenken, wie es dir psychisch geht. "Viele Menschen haben während der Pandemie unter chronischem Stress gelitten, weil sie zum Beispiel Angst hatten, sich mit Corona anzustecken", sagt van de Ven. "Dein Leben hat sich in sehr kurzer Zeit komplett geändert: weniger soziale Interaktionen und möglicherweise weniger Geld, weil du weniger gearbeitet oder sogar deinen Job verloren hast."

Laut van de Ven kämpfen viele Menschen mit den Folgen eines sogenannten Boreouts, chronischer Unterforderung und Langeweile. Die Symptome eines Boreouts sind vergleichbar mit denen eines Burnouts. Man hat keine Energie und wird schnell müde, sogar Kopfschmerzen und Schlafprobleme können auftreten. "Wenn du unter einem Boreout gelitten hast, kann es manchmal schwer sein, wieder in die Gänge zu kommen und schöne Dinge zu tun", sagt der Psychologe. "Genau wie nach einem Burnout musst du dir die Zeit nehmen, um dich wieder an äußere Reize zu gewöhnen."

Es kann auch nicht schaden, mit einer Therapeutin darüber zu sprechen. "Du musst nicht unter schwerwiegenden psychischen Problemen leiden, um dir einen Therapieplatz suchen zu dürfen. Du kannst dort auch über Dinge sprechen, die dich verunsichern", sagt van de Ven.

Da du dich fragst, ob du vielleicht unter einer Depression leidest, ist dieser Rat hier auf jeden Fall angebracht. Van de Ven sagt, man leide möglicherweise unter einer Depression, wenn man sich länger als zwei Wochen niedergeschlagen fühlt und nicht länger die Energie aufbringen kann, Dinge zu tun, die einem Spaß machen. Auch Schlafstörungen, Gewichtsschwankungen, hoffnungslose Zukunftsaussichten oder Suizidgedanken können Symptome einer Depression sein.

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Dein Brief klinge allerdings nicht besorgniserregend, sagt van de Ven. Das bedeutet aber nicht, dass du nichts ändern solltest, falls du dich mit deinem jetzigen Zustand nicht gut fühlst.

Eine andere mögliche Erklärung wäre, dass die gute alte Zeit, die du beschreibst, gar nicht so gut war. Hast du damals regelmäßig Alkohol und Drogen konsumiert? Vielleicht war das "eine Reaktion auf etwas, wegen dem du dich niedergeschlagen gefühlt hast – wie eine unglückliche Beziehung oder Probleme bei der Arbeit", sagt van de Ven. Dass du heute nicht mehr so viel ausgehst, könnte also auch bedeuten, dass es dir jetzt besser geht als damals.

Vielleicht reagiert dein Körper aber inzwischen auch anders auf Stimulanzien. "Wenn du über einen langen Zeitraum wöchentlich Alkohol und Drogen zu dir nimmst, ist dein Körper irgendwann möglicherweise erschöpft", sagt van de Ven.

Letztendlich könnte deine neue Vorliebe für Couchwochenenden auch etwas mit deinem Alter zu tun haben – nur nicht so wie du denkst. Vielleicht hast du in den Pandemiejahren gemerkt, wie schön ein Samstagabend zu Hause sein kann. Vielleicht genießt du es jetzt einfach, ein richtig entspanntes Wochenende zu haben, anstatt den halben Sonntag damit verbringen zu müssen, den Kater der vergangenen Nacht zu bekämpfen.

Auf jeden Fall ist es eine große Veränderung und verglichen mit deinen früheren Partywochenenden fühlst du dich jetzt vielleicht ein bisschen alt und langweilig. Aber nur, weil du deine Wochenenden jetzt lieber anders verbringst, heißt das nicht, dass du deinen letzten Funken Jugend verloren hast. Viele junge Menschen haben gar keinen Bock auf Clubs und viele alte lassen sich regelmäßig aus ihrer Lieblingskneipe fegen. Du musst immer selbst schauen, was dich glücklich macht – ganz egal, wie alt du bist.

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Du leidest an Depressionen oder sorgst dich um einen nahestehenden Menschen? Die Nummer der Telefonseelsorge in Deutschland ist 0800 111 0 111. In dieser Liste sind bundesweite Anlaufstellen für Menschen mit Depressionen aufgeführt. Die Nummer der Telefonseelsorge in der Schweiz ist 143. Die Nummer der Telefonseelsorge in Österreich ist 142. Den Notfallpsychologischen Dienst erreichst du hier unter 0699 18 85 54 00.