Ein junges schwarzes Paar, das die Köpfe aneinanderlegt, Selena und Greg erzählen davon, wie sich PGAD auf ihre Beziehung und ihr Sexleben ausgewirkt hat.
Symbolfoto: Fabio Formaggio / EyeEm
Sex

Durch eine Krankheit bin ich dauererregt: So habe ich Sex

"Nichts half, das Gefühl ging einfach nicht weg. Es war ständig da, den ganzen Tag und die ganze Nacht."

Es gibt eine medizinische Störung, die Menschen dauerhaft in sexuelle Erregung versetzt. Überwiegend sind Frauen davon betroffen. Was auf den ersten Blick wie die Rahmenhandlung eines Pornos klingt, ist für die Betroffenen ein Albtraum. Die fortbestehende genitale Erregung, Persistent Genital Arousal Disorder, kurz PGAD ist eine der wohl am meisten missverstandenen Störungen der Welt.

In Wahrheit ist nämlich nichts daran sexy. Sexuelle Erregung ohne Lust ist in der Regel vor allem irritierend und kann, wenn sie länger anhält, schmerzhaft werden.

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Auch wenn manche Menschen mit PGAD masturbieren oder regelmäßig Sex haben, sind sie nicht hypersexuell, sondern versuchen, die Symptome zu lindern. Dabei verschaffen die Orgasmen Betroffenen selten mehr als ein paar Minuten Erleichterung. Bei manchen können sie das Gefühl sogar verschlimmern. Viele Menschen mit PGAD beginnen deswegen auch, sexuelle Erregung und Stimulation mit Angst und Schmerz zu assoziieren, manche hören sogar komplett auf, Sex zu haben.

In der Medizin ist PGAD erst seit etwa 20 Jahren als eigenständige Störung anerkannt. Bislang gibt es noch keinen Konsens darüber, wie weit sie verbreitet ist, was sie verursacht oder wie man sie behandelt. Obendrein beschreiben Betroffene die Störung extrem unterschiedlich: Manche haben ständig spürbare Symptome, andere erleben sie in Episoden, die Stunden, Tage oder Wochen andauern können. Einige haben spontane Orgasmen, andere können gar nicht mehr kommen. Bei manchen sind nicht nur die Genitalien betroffen, sondern auch die Brüste, der Anus oder der ganze Schambereich. Es gibt Betroffene, die trotz Symptomen ihren Alltag bewältigen können, andere hingegen sind dadurch extrem eingeschränkt, können nicht arbeiten oder sind sogar unfähig, sich Essen zu kochen.

Entsprechend schwer kann es sein, eine Ärztin zu finden, die mit der Störung vertraut ist – oder die Symptome überhaupt ernst nimmt. Die mentalen Auswirkungen der Störung sind potenziell immens und können schwere Folgen für die Beziehungen und das Sexleben der Betroffen haben. 

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Bei Selena, die in Wahrheit anders heißt, wurde vor mehreren Jahren PGAD diagnostiziert. Hier erzählt sie mit ihrem Mann Greg, wie sich die Krankheit auf ihre Beziehung und ihr Sexleben ausgewirkt hat. 


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Selena: Vor einigen Jahren bin ich ganz normal schlafen gegangen und dann mit einem extremen – also wirklich extremen – Erregtheitsgefühl aufgewacht. Ich spürte es vor allem in meiner Klitoris, genauer gesagt: der rechten Seite meiner Klitoris. Es war, als wäre ich ganz kurz vorm Orgasmus. Ich hatte keine Ahnung, was los war. 

Ich habe unter der Dusche versucht, die Erregung loszuwerden. Aber nachdem ich einen Orgasmus hatte, spürte ich überhaupt keine Erleichterung. Im Gegenteil, es wurde nur schlimmer. Ich habe 15-, vielleicht 20-mal probiert, die Erregung mit einem Orgasmus loszuwerden, aber es hat nie geholfen. Das Verlangen zu masturbieren ist unfassbar intensiv, aber es ist eine Falle.

Danach habe ich mir Eis auf die Genitalien gelegt, um das Gefühl loszuwerden. Ich schnitt mir Lidocain-Pflaster klein, die ich eigentlich gegen Rückenschmerzen benutze, und habe sie draufgelegt. Aber nichts half, das Gefühl ging einfach nicht weg. Es war ständig da, den ganzen Tag und die ganze Nacht. Es war so schlimm, dass ich nicht schlafen konnte. Irgendwann bin ich schluchzend zusammengebrochen.

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Greg: Ich wusste, dass Selena irgendetwas Unangenehmes durchmachte. Aber sie sagte mir anfangs nicht, was los war. Ich verstand also nicht wirklich, was in ihr vorging oder was sie fühlte.

"Nach dieser Erfahrung wollte ich sogar nie wieder zu einem männlichen Arzt."

Selena: Ich bin nicht religiös, aber ich bin in einem religiösen Haushalt aufgewachsen und habe eine Menge Scham zu allem eingetrichtert bekommen, was mit Genitalien zu tun hat. Das hat es mir schwer gemacht, darüber zu reden.

Greg: Ich habe versucht, sie zu fragen, wie ich helfen kann. Ich habe ihr alles besorgt, wonach sie gefragt hat, aber am Ende konnte ich nicht viel mehr tun, als einfach für sie da zu sein – und zu versuchen zu verstehen, was los ist.

Selena: Nachdem das mehrere Tage ohne Unterbrechung so weitergegangen war, entschied ich mich, einen Arzt aufzusuchen und ihm zu sagen, was los ist. Er lachte nur und sagte, dass mein Mann ein Glückspilz sei. Er wünschte, seine Frau würde auch kriegen, was auch immer ich da habe. Dann wurde er plötzlich sehr ernst und sagte, dass ich nicht mit Kindern arbeiten solle, ich sei eine Gefahr für sie. Natürlich bin ich nie wieder zu diesem Arzt gegangen. Nach dieser Erfahrung wollte ich sogar nie wieder zu einem männlichen Arzt. Das hat mich wirklich traumatisiert.

Nach ein paar weiteren Tagen mit anhaltenden Symptomen zog ich ernsthaft in Erwägung, mich selbst zu verstümmeln. Ich wollte mir eine Schere nehmen und meine externen Genitalien abschneiden. Ich begann, über Sterbehilfe zu recherchieren. Ich wollte nicht sterben, aber ich wollte nicht für immer in diesem Zustand leben.

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Seitdem habe ich erfahren, dass Menschen mit dieser Störung tatsächlich häufiger Suizid begehen.

Greg: Ich erinnere mich nicht mehr genau, wann Selena begann, mir zu erzählen, was in ihr vorging. Aber als sie dann von Sterbehilfe sprach, wurde mir klar, wie sehr sie litt. 

Selena: Zwei Wochen nach meiner schlechten Erfahrung mit dem Arzt nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und rief eine Ärztin aus der Gegend an. Um mit ihr sprechen zu können, musste ich natürlich erst ihrer Rezeptionistin sagen, was los ist. Ich konnte sie am anderen Ende kichern hören. Die Ärztin selbst hatte nie von einer derartigen Störung gehört, aber sie sagte zu mir: "Ich werde Ihnen jemanden suchen, der sich damit auskennt. Und Sie werden mit keinen Rezeptionistinnen mehr darüber sprechen. Sie werden deswegen keine weiteren Erniedrigungen mehr ertragen müssen."

Drei Tage später rief sie mich zurück und sagte, dass sie eine Ärztin gefunden habe, die mir vielleicht helfen könne. Da habe ich auch angefangen, offener mit Greg darüber zu sprechen, was bei mir vorging.

Greg: Ja, weil diese Ärztin im Detail erklären konnte, was los war.

Selena: Am Ende hatte ich ein dreiköpfiges Ärztinnen-Team. Es hat Monate gedauert und es war echt schwer, die Versicherung dazu zu bringen, die Kosten zu tragen. Aber sie konnten eine Ursache für meine PGAD feststellen: verlängerte Einnahme der Fluorchinolon-Antibiotika Cipro und Levaquin.

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Greg: Im Jahr davor hatte Selena eine schwere Divertikulitis, eine Dickdarmerkrankung, und musste mit Unterbrechungen zwei Wochen im Krankenhaus verbringen. Da hat sie intravenös diese Mittel bekommen. Und dann musste sie es noch einmal mehrere Tage nach einer Operation nehmen.

Selena: Der Doktor, der über meine PGAD-Symptome gelacht hat, hat Cipro verschrieben wie Bonbons. Entzündete Nebenhöhlen? Hier ist Cipro. Harnwegsinfekt? Cipro! Ich bin besonders anfällig für Blasenentzündungen, entsprechend oft hat er mir Cipro verschrieben. Ich habe über die Jahre auch andere Nebenwirkungen gehabt wie Sehnenrisse, Verschlechterung meines Sehvermögens, Probleme mit den Zähnen.

Meine Ärztinnen erklärten mir, dass die Medikamente die Markscheide um meinen Schamnerv zerstört hatten. Der Nerv war dadurch dauergereizt und sendete ständig Signale.

"Ich kann keine enge Kleidung tragen oder Rad fahren, weil das meinen Schambereich stimuliert und meine Symptome wieder aufflammen lässt."

Die Ärztinnen haben mir dann ein Implantat zur Rückenmarkstimulation eingebaut, einen Medikamentencocktail verschrieben und mir empfohlen, oberflächlich Lidocain anzuwenden, um die Symptome zu mildern. Ich habe dazu noch mit Beckenbodentraining angefangen, weil die Symptome dazu führen, dass sich mein Beckenboden verkrampfte und ich einen Art Muskelkater hatte. Ich kann keine enge Kleidung tragen oder Rad fahren, weil das meinen Schambereich stimuliert und meine Symptome wieder aufflammen lässt. 

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Acht Monate, nachdem meine Symptome begonnen hatten, fanden wir endlich die richtige Mischung aus Therapieansätzen, um mich auf der Schmerzskala von einer unerträglichen zehn auf eine aushaltbare zwei zu bringen. Meine Ärztinnen sagen zwar, dass ich wahrscheinlich den Rest meines Lebens mit diesen Symptomen leben werde, aber ich habe sie jetzt unter Kontrolle. 

In diesen acht Monaten war ich so fokussiert auf den Schmerz, dass ich nicht mal ansatzweise darüber nachdenken konnte, was dieser Zustand für meine Beziehung mit Greg und unser Sexleben bedeuten würde. Ich bin eine sehr leidenschaftliche Person und vor der Krankheit liebte ich es einfach, mit Greg Liebe zu machen. Sobald die Symptome besser wurden, begann ich, wieder über Intimität nachzudenken. Irgendwann entschieden wir uns dann, Sex miteinander zu versuchen. Ich hatte allerdings solche Angst davor, dass dadurch meine Symptome wieder aufflammen würden, dass ich einfach nur steif dalag. Greg ist das natürlich nicht entgangen. 

Greg: Ich hatte das Gefühl, unfassbar vorsichtig sein zu müssen und Selena nicht zu sehr zu stimulieren, um ihre Symptome nicht zu triggern. Aber es ist nicht leicht, auf diese Art Sex zu haben. Und ich merkte währenddessen, wie sie immer wieder zusammen zuckte und ihr Gesicht zu Grimassen verzog. Es war …

Selena: Grob gesagt, es fühlte sich für Greg wahrscheinlich an, als würde er mich vergewaltigen. Es war für keinen von uns toll.

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Greg: Ja, das beschreibt es ziemlich gut.

Selena: Ich habe solche Angst davor, dass durch Stimulation meine Symptome schlimmer werden, dass ich es nicht ertrage, in irgendeiner Art berührt zu werden, die mich erregen könnte. Wir können uns küssen und kuscheln, aber ich will nicht, dass meine Brüste berührt werden oder eine Hand zwischen meine Beine geht. Die Krankheit hat mir die Möglichkeit genommen, mit meinem Mann intim zu sein – einem Mann, den ich aus tiefstem Herzen liebe.

"Und ich finde die Vorstellung, dass Greg unter der Dusche alleine masturbiert, beinahe abstoßend."

Vor der ganzen Sache hatten wir ein großartiges Sexleben. Ich habe mich relativ schnell damit abgefunden, dass ich nie wieder einen Orgasmus haben werde. Als mir allerdings klar wurde, dass ich nicht mehr wie gewohnt Sex haben kann, war ich am Boden zerstört. Mir fehlte die Intimität des Sex. Und ich finde die Vorstellung, dass Greg unter der Dusche alleine masturbiert, beinahe abstoßend. Ich will doch noch irgendwie an seinem Sexleben teilhaben. 

Ich habe dann alles der großartigen Ärztin erzählt, die mir so sehr geholfen hatte. Ich sagte ihr gleich, dass Oralsex bei uns nicht infrage kommt, weil … OK, also Greg ist wirklich gut ausgestattet. Er könnte in Pornos mitspielen. Wir haben in der Vergangenheit Oralsex ausprobiert, aber für uns ist das körperlich einfach nicht wirklich praktikabel. Sie hat dann vorgeschlagen, dass ich eine künstliche Vagina und Gleitgel besorge. 

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Wenn wir jetzt miteinander intim werden, gehe ich nah an ihn heran, er legt seine Arme um mich und ich benutze die künstliche Vagina an ihm. Es ist nicht perfekt, aber es erlaubt uns, weiterhin miteinander intim zu sein, ohne Angst haben zu müssen, dass meine Symptome wieder aufflammen. Ich schätze mich da sehr glücklich, denn ich weiß, dass diese furchtbare Krankheit die Beziehungen und das Sexleben so vieler Menschen zerstört hat. Ich habe das Glück, einen einfühlsamen und hingebungsvollen Partner zu haben. Ich weiß, dass es ihm ernst mit mir ist und er den Willen hat, sich an alles anzupassen. Er ist ein echter Fels in der Brandung.

Greg: Ich schätze, ich bin gut darin, Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind. Die Welt ist halt so, wie sie ist. Wenn etwas passiert, können wir immer einen Weg finden. 

Selena: Ich wünscht nur, es gäbe nicht so viel Stigma um PGAD. Dann könnte ich offen mit anderen Menschen darüber sprechen, ohne dass sie Religion oder anderes Zeug in die Unterhaltung einfließen lassen. Wenn ich Krebs hätte, könnte ich ganz offen darüber sprechen. Aber weil diese Krankheit sich in meiner Klitoris manifestiert, habe ich das Gefühl, einen falschen Namen verwenden und meinen Wohnort geheim halten zu müssen, wenn ich darüber reden will.

Greg: Ja, es wäre gut, mit mehr Menschen darüber sprechen zu können, um zu erfahren, wie sie mit der Situation umgehen.

Selena: Ich habe vor einigen Jahren eine Facebook-Gruppe von Betroffenen gefunden, die mir gezeigt hat, dass ich nicht allein bin. Viele Menschen mit PGAD denken nämlich genau das. Trotzdem muss unsere Gruppe geheim sein und alle neuen Mitglieder erst interviewen, bevor wir sie zulassen. Manche Menschen denken nämlich immer noch, dass PGAD sexy ist. Die glauben, dass wir ständig Sex brauchen, um uns Erleichterung zu verschaffen. Die Erotisierung dieser Krankheit ist einfach grauenvoll.

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