Menschen

Die Lücke im Gesicht: Mein Leben mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte

"Aus meiner Kindheit blieb das dumpfe Gefühl, viel gemobbt worden zu sein."
Sabrina Winter
aufgeschrieben von Sabrina Winter
Eine junge Frau trägt eine graue jacke und streicht sich lächelnd die haare hinters ohr. Patricia Müller ist meiner Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte auf die Welt gekommen

Patricia Müller, 38 Jahre, wurde mit einer Spalte im Gesicht geboren, einer sogenannten Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte. Umgangssprachlich werden dafür manchmal die Begriffe "Hasenscharte" (gespaltene Lippe) oder "Wolfsrachen" (gespaltener Gaumen) verwendet. Sie gelten allerdings als diffamierend und werden kaum noch verwendet. Lange Zeit bedrückte Patricia ihre angeborene Fehlbildung. Inzwischen denkt sie ganz anders darüber – und will anderen Mut machen.

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"Als ich geboren wurde, war das ein Schock für meine Eltern. Meine Familie hatte mit ihrer Metallbauschlosserei eine hohe Stellung im Dorf. Mein älterer Bruder war ein gesundes Kind. Und dann kam ich zur Welt – mit einer Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte.


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Da war ein Spalt auf der linken Seite meiner Lippe, meines Kiefers und Gaumens. Es ist wie eine Lücke im Gesicht. Die Fehlbildung tritt recht oft auf: bei einem von 500 Menschen in Europa. 

Heute kann man so was gut operieren. Aber vor 38 Jahren, als ich geboren wurde, war das nicht so einfach. Als Neugeborenes legte man mich erstmal in einen Brutkasten. Dort lag ich eine Woche lang und meine Mutter durfte mich nicht sehen. Diese Art der Behinderung kannte meine Familie damals nicht. Die Überforderung war groß.

Doch meine Eltern lasen sich ein, engagierten sich und taten viel. Trotzdem war meine Kindheit schlimm. Wer liegt schon gern ständig im Krankenhaus? Ich habe das als Kind gar nicht so richtig verstanden. Ich musste manchmal mit einem Nasengips in die Schule gehen. Einmal hatte ich auch Tamponaden in der Nase, weil meine Knorpel nicht hielten und meine Nase in sich zusammenfiel. Andere Kinder beäugten mich und fragten, warum meine Nase so schief ist.

In der Schwangerschaft bilden sich Teile des Gesichts erst einmal getrennt. Später verwachsen sie miteinander. Wenn beim Verschmelzen von Nase, Oberlippe und Gaumen bestimmte Schritte unvollständig oder gar nicht geschehen, reißt das Gewebe ein. Eine Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte kann entstehen, wenn Frauen in der Schwangerschaft Stress haben, sich mangelhaft ernähren oder bestimmte Medikamente einnehmen. Genauso kann die Fehlbildung genetisch bedingt sein. 

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Bis ich sieben Jahre alt war, konnte ich nicht richtig sprechen. Logopädie habe ich oft als Qual empfunden. Aus meiner Kindheit blieb das dumpfe Gefühl, viel gemobbt worden zu sein. Da war dieses Stigma. Diese Scham. Erst als Teenager lernte ich, mich so zu akzeptieren, wie ich war. Auch mein Mann, den ich später kennenlernte, hat mich mit all meinen Zweifeln aufgefangen. 

Dank der Operationen kann ich heute normal essen und reden. Ich höre oft: "Ach, eine Spalte? Das sieht man aber kaum bei dir!" 

Trotzdem wollte ich lange Zeit keine Kinder haben. Ich hatte Angst, die Spalte weiterzugeben. In den vielen Gesprächen mit meinem Mann habe ich Mut gefasst. 

Vor acht Jahren kam mein Sohn zur Welt. Auch er hat eine Spalte. Doch er geht damit ganz anders um als ich. Als Kind hatte ich immer Angst vor dem Mitleid der anderen und meiner Scham. Doch als ich meinem Sohn erzählt habe, dass ich mit einer Journalistin über die Spalte spreche, kam er auf die Idee, im Kinderradio von seiner Spalte zu erzählen. 

Wir haben ihn als Baby operieren lassen. Seine Spalte fällt optisch kaum auf. Nur an seiner Sprache merkt man es ein bisschen. Die Laute "ch" und "sch" sind nicht so einfach für ihn. Wir waren mit unserem Sohn ein Jahr lang auf Reisen, bevor er in die Schule kam. Das war das beste Sprachtraining. Überall sprach er mit fremden Menschen und trainierte seine Aussprache.

Im Gegensatz zu mir kämpft mein Sohn gar nicht mit diesem Stigma. Auch ich habe vor einigen Jahren verstanden: Ich kann selbst entscheiden, wie ich auf mich schaue. Darum ist es nun ein großer Schritt für mich, öffentlich darüber zu sprechen.

Und das ist so wichtig. Es gibt noch viel Unsicherheit und Unwissen über diese Art der Fehlbildung. Dabei müsste das gar nicht sein. Wir reden so oft über Geschlechtsidentitäten oder über Sexualität. Neulich habe ich gelesen, dass EDEKA eine Stunde festgelegt hat, in der hochsensible Menschen ungestörter einkaufen können. Das finde ich alles schön! Ich finde es wunderbar, dass wir neu definieren, was normal ist. Aber ich finde, über Behinderungen wird zu wenig geschrieben und gesprochen – und wenn, dann nur aus einer Opferperspektive. Dabei kann man ja – bis zu einem gewissen Grad – selbst darüber bestimmen, wie andere einen wahrnehmen." 

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