“Ich kann ohne YouTube nicht leben!”, schreibt ein Nutzer in die Kommentarspalte unter ein YouTube-Video. “Ich heule gerade”, schreibt ein anderer, “ich will deine Videos nicht verlieren, HELFT!” Diese und Tausende weitere verzweifelte Hilferufe haben Zuschauer unter ein Videos namens “Warum es YouTube nächstes Jahr nicht mehr gibt” gepostet. Darin beschwört ein YouTuber das Ende der wichtigsten Videoplattform im Netz herauf.
“In einigen Monaten werden fast alle Kanäle, die wir kennen, lieben und immer wieder gucken, gelöscht werden”, erklärt der YouTuber hinter dem Kanal Wissenswert. “Egal, wie groß und beliebt, niemand wird übrig bleiben. Bis auf einige Kanäle von sehr großen Firmen.” YouTube, so heißt es weiter, plane “einfach alle europäischen Kanäle, die nicht zu einem großen Medienkonzern gehören, zu löschen”. Das Video steht seit dem 4. November auf Platz 1 der deutschen YouTube-Trends mit rund 2,5 Millionen Views und rund 43.000 Kommentaren.
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Doch die Panik basiert größtenteils auf einem Missverständnis. Der YouTuber bezieht sich auf einen offenen Brief der YouTube-Chefin Susan Wojcicki, in dem sie die geplante Urheberrechtsreform der EU kritisiert. Die EU will Online-Plattformen wie YouTube stärker in die Pflicht nehmen, wenn Nutzer urheberrechtlich geschütztes Material wie etwa Musik oder Kinofilm-Szenen hochladen. Das sollen Plattformen künftig durch zum Beispiel Uploadfilter verhindern und bei Verstößen selbst haftbar sein. Die Neuregelung steht in Artikel 13 der EU-Urheberrechtsreform. Weil Kritiker durch das Gesetz Zensur befürchten, ist das Gesetz auch politisch umstritten.
Das steht wirklich im Brief der YouTube-Chefin
YouTube scheint auf eine derart strenge Regulierung offenbar verzichten zu wollen und argumentiert dagegen. Konkret heißt es in Wojcickis englischsprachigem Brief: “Artikel 13 bedroht in der aktuellen Form die Möglichkeit von Millionen von Menschen Inhalte auf Plattformen wie YouTube zu veröffentlichen. Und es besteht das Risiko, dass Nutzer in der EU Inhalte von Kanälen anderer Künstler nicht mehr sehen können.”
In dem Brief ist keine Rede davon, dass YouTube untergehe oder massenweise Kanäle von europäischen Nutzern lösche. Tatsächlich ist derzeit fraglich, wie stark sich YouTube durch das geplante EU-Gesetz überhaupt verändern würde. Denn schon jetzt gibt es auf der Plattform einen Upload-Filter namens Content ID. Auf YouTube hochgeladene Inhalte werden automatisch überprüft und mit einer Datenbank verglichen, wie das Unternehmen auf einer Support-Seite erklärt. Wenn das System urheberrechtlich geschütztes Material erkennt, kann es demnach automatisch die Rechteinhaber informieren. Die können dann entscheiden, ob das beanstandete Video gesperrt werden soll oder ob YouTube die Einnahmen des Videos an sie weiterleiten soll.
Noch sind viele Details zu dem geplanten EU-Gesetz aber nicht geklärt. Es ist nicht klar, wie sehr YouTube seinen Uploadfilter ausbauen müsste, um mögliche Klagen effektiv abzuwehren. Auf einer deutschsprachigen Erklärseite von YouTube heißt es über das neue Gesetz: “In der Praxis könnten Plattformen dann gezwungen sein, nur Inhalte von einer kleinen Anzahl großer Unternehmen zuzulassen, die ihren Programmen zur Freigabe von Urheberrechten entsprechen.”
Dieses Szenario ist eine sehr pessimistische Auslegung. Es beschreibt, wie sich das Gesetz möglicherweise im schlimmsten Fall auswirken könnte. Schon jetzt spricht aber einiges dagegen, dass es so weit kommt. Bereits Anfang 2018 wurde das geplante Gesetz scharf kritisiert, weil es nach Auffassung vieler Beobachter Reviews, Memes, Remixe und Parodien nicht ausreichend schütze. Die Befürchtung: All diese Dinge könnten wegen angeblichen Urheberrechtsverletzungen blockiert werden; ein großer Verlust für die Netzkultur. Auch aktuell geht eine Petition gegen das Gesetz herum, das Motto: “Stop the censorship machinery – Save the Internet!”
In den von der EU veröffentlichten Dokumenten zum geplanten Gesetz finden sich inzwischen neue Passagen, die zumindest ein paar Probleme lösen wollen. In dem Dokument vom 12. September 2018 heißt es mit Blick auf Kritiken, Parodien und Persiflagen im Netz: “Daher ist es notwendig, eine neue spezifische Ausnahme einzuführen, wonach die rechtmäßige Nutzung von Auszügen aus bereits bestehenden geschützten Werken (…) in von Nutzern hochgeladenen oder bereitgestellten Inhalten zulässig ist.”
YouTuber nutzen die Panik für Klicks und Promo
Trotzdem ruft die YouTube-Chefin Influencer in ihrem Brief mit Nachdruck dazu auf, gegen das geplante EU-Gesetz mobil zu machen: “Erzählt der Welt auf sozialen Medien, wie diese Gesetzgebung euch betreffen wird.” Diesem Lobby-Aufruf ist nicht nur der YouTuber vom Kanal Wissenswert gefolgt.
Auf Platz 2 der deutschen YouTube-Trends steht am 4. November ein Video des Influencers Ray Fox mit dem Titel “Mein Kanal wird GELÖSCHT! Das Ende von YouTube”. Auf Platz 4 der Trends ist ein Video von Vik, auch bekannt als iBlali, Titel: “YOUTUBE GEHT 2019 UNTER!“. Zahlreiche andere Videos verbreiten ähnliche Standpunkte. Eine simple Suchanfrage nach “Kanal wird gelöscht” fördert mindestens 12 weitere Videos von großen und kleinen YouTubern zutage, die nahelegen, dass sie wegen des geplanten EU-Gesetzes ihre Karriere beenden müssten.
Die Flut der Endzeit-Videos hat wohl nicht nur politische Gründe. Denn YouTuber können mit Videos über das mögliche Ende der eigenen Karriere massenhaft Klicks sammeln. Das passiert auf der Plattform immer wieder: Wer auf YouTube nach der Wortfolge “mein Kanal wird gelöscht” sucht, findet zahlreiche teils Jahre alte Videos von YouTubern, die dramatisch das Ende ihres Kanals heraufbeschwören – und die offenkundig immer noch auf YouTube aktiv sind. Kurios ist auch der aktuelle Aufruf des YouTubers RayFox: Er bittet seine Fans, ihm jetzt auf Instagram zu folgen, weil er nicht wisse, wie es mit ihm auf YouTube weitergehe. Dabei wäre Instagram vom neuen EU-Recht ebenso betroffen wie jede andere große Online-Plattform.
YouTuber werfen Urheberrecht und Meinungsfreiheit durcheinander
Besonders eindrücklich warnt der YouTuber vom Kanal CreepyPastaPunch vor Artikel 13. Sein Video steht am 4. November auf Platz 11 der Trends. Mit einem Streifen Klebeband vor den Lippen zeigt er sich vor der Kamera und spricht davon, wie das Urheberrecht seine Meinungsfreiheit einschränke.
Auch in diesem Fall wird eine berechtigte Kritik am geplanten Gesetz in ein Horrorszenario verwandelt. Klar ist: Der geplante Artikel 13 soll Verstöße gegen das Urheberrecht verhindern. Wenn jemand zum Beispiel illegal einen Kinofilm auf YouTube stellt, der ihm nicht gehört, ist das keine Meinungsäußerung und hat auch nichts mit Meinungsfreiheit zu tun. Problematisch wird es, wenn jemand einen Kinofilm kritisch kommentieren will und dabei Filmausschnitte zeigt. Dieses Problem ist aber schon bekannt, wie aus den neuen Passagen des Gesetzes hervorgeht.
Trotzdem gibt es gute Argumente, im Rahmen von geplanten Uploadfiltern über Meinungsfreiheit zu sprechen. Denn die Technologie hinter Uploadfiltern könnte nicht nur dazu genutzt werden, um urheberrechtlich geschützte Musik und Filme zu erkennen, sondern auch um unliebsame politische Meinungen zu blockieren. Die Werkzeuge zum Schutz der Werke von Künstlerinnen und Künstlern lassen sich also theoretisch auch zur Zensur missbrauchen. Das allein ist aber kein Argument, um Maßnahmen gegen Urheberrechtsverletzungen im Netz als solche abzulehnen.
Natürlich ist es gut, kritisch zu diskutieren, ob die EU ihre Maßnahmen zum Schutz des Urheberrechts sinnvoll umsetzen wird. Aber Horror-Szenarien vom Ende YouTubes stehen einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Problem doch eher im Weg: der schwierigen Balance aus Copyright, Netzkultur und Meinungsfreiheit.
Fans schreiben ihren Idolen verzweifelte Nachrichten
Zumindest bringen die Videos über das Ende von YouTube massenhaft junge Zuschauerinnen und Zuschauer dazu, über EU-Politik zu sprechen. Zugleich lösen die Videos bei vielen Fans Verwirrung aus. “Mir schreiben gerade extrem viele Leute. Sie sind verunsichert und fragen, was sie davon halten sollen”, erklärt der deutsche YouTuber Mirko Drotschmann gegenüber Motherboard. Er hat mit seinem Kanal MrWissen2Go rund 800.000 Abonnenten.
Die Aufregung um Artikel 13 hält Drotschmann für eine “vom Konzern gewollte Hysterie”. Das Statement der YouTube-Chefin habe ihn geärgert, weil es nahelege, dass auf jedem YouTube-Kanal urheberrechtlich geschütztes Material hochgeladen würde, an denen der YouTuber keine Rechte habe. “Das stimmt überhaupt nicht”, so Drotschmann. Viele YouTuber wären von Artikel 13 wohl gar nicht betroffen.
Ebenfalls auf Motherboard: Zu Besuch bei dem Bastler, der die stärksten DIY-Laser auf YouTube baut
Auch das YouTuber-Duo Paul und Fynn vom Kanal Ultralativ hält die Endzeit-Videos in den Trends für Panikmache. Das Duo trifft nicht mit vollem Namen in der Öffentlichkeit auf; auf ihrem Kanal veröffentlichen die beiden kritische Video-Essays über Netzkultur. Den Untergang von YouTube sehen sie nicht kommen. Auch aus politischer Sicht seien die Videos gegen Artikel 13 wenig hilfreich. “Die beste Chance etwas an dem Gesetz zu ändern ist, Menschen vernünftig darüber zu informieren und dann direkt auf die Abgeordneten im Parlament zuzugehen”, sagt Paul im Gespräch mit Motherboard. “Wenn nun aber suggeriert wird, dass die Meinungsfreiheit mit Artikel 13 stirbt, was totaler Quatsch ist – dann führt das tendenziell zu Beleidigungen gegen Abgeordnete im EU-Parlament.”
YouTube-Produzent Christoph Krachten ist geteilter Meinung. “Die Konsequenzen könnten durchaus drastisch sein”, sagt Krachten im Gespräch mit Motherboard. Es sei politisch kurzsichtig, unausgereifte Regelungen anzuschieben. Auch die Filtersysteme arbeiteten nicht optimal: “Zuweilen dauert es Tage, ein fälschlicherweise gesperrtes Video freizubekommen oder einen gelöschten Kanal wieder freizubekommen”, so Krachten. Andererseits werde nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.
Tatsächlich teilte ein YouTube-Sprecher auf Anfrage von Motherboard mit, dass der Konzern mit Anwälten an einer Lösung arbeite, um sowohl Rechteinhaber als auch Kanalbetreiber zu schützen. Inzwischen melden sich zudem YouTuber mit einordnenden Videos zu Wort. “Warum Youtube 2019 NICHT tot ist“, heißt etwa der neueste Beitrag von Mirko Drotschmann. In den Trends, wo Millionen von Menschen es sehen können, ist das Video aber aktuell nicht gelandet: Dort ist immer noch vom nahenden Untergang die Rede.
Update, 7. November 2018, 9.30 Uhr: Am 6. November landet das Video von Mirko Drotschmann, “Warum YouTube 2019 NICHT tot ist”, doch noch auf Platz 1 der deutschen YouTube-Trends und hat rund 622.000 Aufrufe. Trotzdem verzeichnet zu diesem Zeitpunkt das vorige Platz-1-Video, “Warum es YouTube nächstes Jahr nicht mehr gibt”, immer noch etwa fünf Mal so viele Aufrufe: Es wurde rund 3,3 Millionen Mal angeklickt.
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