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Ist Obdachlosigkeit in SimCity ein Bug oder ein Feature?

Tornados, Bulldozer oder Polizei: SimCitys Hobbybürgermeister werden besonders kreativ, wenn es um Maßnahmen gegen das drängendste Problem ihrer simulierten Metropolen geht.
In Sim-City sind Obdachlose gelbe, geschlechtslose Wesen mit Tüten. Screenshot SimCity5

Seit der Veröffentlichung der fünften SimCity-Version im Jahr 2013 diskutieren zahllose Freizeit-Bürgermeister leidenschaftlich über Strategien zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit in ihren simulierten Superstädten. Dabei sind schon unterschiedlichste digital-herzlose Maßnahmen zusammengekommen: Mit dem Bulldozer die Grünanlagen plattmachen, in denen sich die Obdachlosen versammeln, auf Tornados warten, die die ungebetenen Gäste ohne Dach über dem Kopf auf natürliche Weise aus der Stadt pusten oder eine so ineffiziente Infrastruktur bauen, dass selbst die Wohnungslosen von alleine verschwinden.

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Matteo Bittanti, der momentan als Dozent an der IULM-Universität in Mailand lehrt, hat nun all die Strategien für eine sauberere Metropole in einem epischen 600-Seiten-Werk nutzergenerierter „humanitärer" Stadtplanung versammelt. Sein in zwei Bänden erschienenes „How to Get Rid of the Homeless" dokumentiert verschiedenste Aspekte des sogenannten „Homeless Scandal" der SimCity besonders im Jahr 2013 erschütterte. Bittanti interessiert sich für die sozialpolitischen Gaming-Debatten, da er das reale Ausmaß, welches Obdachlosigkeit annehmen kann, bei seiner mehrjährigen Gastdozententätigkeit in der Bay Area mit eigenen Augen beobachtete:

„Die Diskussionen über Wohnungslosigkeit in SimCity haben mich irgendwann viel mehr fasziniert als das Spiel selbst. Die Diskurse der Nutzer waren zwar nicht unbedingt direkt von Rassismus oder Klassismus motiviert, aber das Thema wurde doch auf eine äußerst befremdliche Weise angegangen."

Brittiani hat tausende von Posts gesammelt und transkribiert, die zu dem Thema auf Reddit, im Forum des Spieleentwicklers Electronic Arts oder der größten SimCity-Online-Community Simtropolis veröffentlicht wurden. Die Texte stammen allesamt von Hobby-Bürgermeistern, die mit Obdachlosigkeit in ihrer Stadt konfrontiert waren, und die die „Plage" bürokratisch „auszulöschen" versuchten.

Ist Obdachlosigkeit in SimCity ein Bug oder ein Feature?

Ein Ausschnitt aus dem Buch, zeigt wie satt der User 1ButtonDash die Obdachlosigkeit hat.

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Wohnungslose Einwohner werden in der SimCity-Version von 2013 als gelbe, zweidimensionale, geschlechtslose Figuren dargestellt, die Tüten mit sich herumschleppen. Ihre Anwesenheit senkt gleichermaßen die Zufriedenheit der anderen Stadtbewohner, wie auch die umliegenden Grundstückspreise. Als Bittanti online nach Möglichkeiten suchte, wie er auf die Obdachlosigkeit in seiner eigenen SimCity-Metropole reagieren könnte, stieß er erstmals auf die ausgiebigen Online-Diskussionen zu dem Thema.

Zunächst fragten sich tatsächlich viele Nutzer, ob die Schwierigkeiten in ihren Städten vielleicht in einem Bug des Spiels begründet liegen könnten. Ursprünglich funktionierte die 2013-Version von SimCity überhaupt nur, wenn die Spieler eine Verbindung zum Server von EA hergestellt hatten, der aber dummerweise aufgrund der schieren Menge von Spielern andauernd abstürzte. Die These, dass grassierende Obdachlosigkeit einfach nur auf einen Programmierfehler zurückgeführt werden könnte, schien also gar nicht so weit hergeholt.

„Hat schon jemand herausgefunden, wie man praktisch mit den Obdachlosen umgehen kann, die all die schönen Parks ruinieren, für die wir soviel Geld ausgeben?" Auf diese Frage eines Spielers ​auf der offiziellen EA-Seite antwortete ein anderer Nutzer: „Du musst Arbeitsplätze schaffen. Entweder strukturierst du das Gebiet besser oder kümmerst dich um eine Verbesserung der Verkehrsanbindung in der Nähe von Industrieanlagen. Das hat bei mir sehr geholfen."

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Ein anderer Gamer macht in ​einem kurzen YouTube-Guide zwei entscheidende Faktoren aus, die dafür sorgen, dass sich Obdachlose in der Stadt ausbreiten: Leerstehender Wohnraum und der Müll, „von dem sie leben."

In seinem Buch hat Bittanti die typische Ästhetik der Online-Foren von den Texten getrennt—also Signaturen von Autoren, Seitenbanner, Avatar-Bildchen und so weiter gelöscht. So rekontextualisiert er die Netz-Diskussion, um zeigen zu können, was die Spieler und das Spiel selbst über den gesellschaftlichen Umgang mit Obdachlosigkeit aussagen. Die Ahnungslosgkeit unserer Gesellschaft zeigt sich zum Beispiel anhand eines Nutzerkommentars auf Simtroplis:

„Ich hab Volkshochschulen und eine Uni, außerdem mehr als genügend Polizisten und trotzdem hab ich eine Stadt VOLLER Obdachlose….. also, was ist die Lösung, oder soll ich mich einfach nicht drum scheren?"

Laut Bittanti sind die Parallelen zwischen dem grassierenden Problem der Obdachlosigkeit in modernen urbanen Gebieten wie der Bay Area und ihrer virtuellen Aufarbeitung in SimCity eklatant.

„Können wir das Problem der Obdachlosigkeit in SimCity lösen? Und wenn wir das nicht können, sind wir im Umkehrschluss auch im echten Leben zum Scheitern verurteilt?", fragt Bittanti. „Ist SimCity ein Spiegel dessen, was wirklich passiert, und daher enorm realistisch oder ist alles nur eine Frage der Programmierung?"

In San Francisco besitzt du entweder einen Tesla oder hängst obdachlos auf der Straße rum.

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Bittanti glaubt nicht an eine trennscharfe Unterscheidbarkeit zwischen Videospielen und der Realität auf den Straßen der westlichen Welt. Damit schließt er unmittelbar an die Philosophie der Hyperrealität von Jean Baudrillard an, der es für unmöglich hielt, eine eindeutige sozialpolitische Differenzierung zwischen dem Disneyland und der Verfasstheit der USA vorzunehmen.

Bittanti erklärte mir, dass sein Buch auf solchen Thesen von einer Gesellschaft der Simulationen aufsetzt und das damit verbundene Unbehagen (im Sinne vom freudschen Unbehagen der Kultur) diskutiert. Für Bittanti sind Gaming-Diskurse ein perfektes Beispiel für die Konvergenz digitaler und urbaner Realität und das Zusammenfallen von Realität und Simulation.

„Für mich sind Games gleichermaßen das echte Amerika", sagte er mir. „Das echte Amerika funktioniert nach einer Videospiellogik. Die herrschende Logik von SimCity ist der Neoliberalismus—und der manifestiert sich in San Francisco. Für mich ist diese Stadt das Epizentrum einer modernen sozialen Ungleichheit. In San Francisco besitzt du entweder einen Tesla und schlürfst Sieben-Dollar-Cappuccino oder hängst obdachlos auf der Straße rum."

In A New American Dream dokumentiert Bittanti das Ausmaß von Obdachlosikgkeit in SimCity mit Google Street View.

In A New American Dream dokumentiert Bittanti das Ausmaß von Obdachlosikgkeit in SimCity mit Google Street View.

SimCity4 ist dabei übrigens Bitattantis Lieblingsspiel aus der Reihe, weshalb er auch eine Text-Sa​mmlung mitherausgebracht hat.

Wenn man dem Schöpfungsmythos des Games Glauben schenken möchte, hatte der Maxis-Mitbegründer Will Wright die Idee zu dem Spiel im Jahr 1989, während er gerade an einem anderen Spiel namens Raid on Bungeling Bay arbeitete. Als er bemerkte, dass die Werkzeuge, mit denen er die Level baute, viel mehr Spaß machten als die Level an sich, entstand die Idee für SimCity. Seitdem hat das unglaublich ehrgeizige Projekt, seine eigene Form davon, urbane Realität in einer Simulation zu reproduziern, eine bis heute äußerst beliebte Gaming-Reihe hervorgebracht.

Als Maxis das Franchise irgendwann hübscher und bunter machen wollte und in die Online-Welt umziehen ließ, machten sich Hardcore-Fans wie Bittanti Sorgen. „Sie haben das Spiel für die Facebook-Generation trivialisiert—für Menschen, die nicht die Geduld haben, stundenlang eine Stadt zu bauen. Die Entwickler hatten eine Vision und ein paar wirklich gute Ideen, trotzdem ging alles den Bach herunter."

Bittanti findet jedoch auch an den zahlreichen Fails der jüngeren SimCity-Versionen interessante Aspekte. Er meint, dass uns gerade diese Schwierigkeiten lehren könnten, moderne Lebensrealitäten in Simulationen einzubinden. Gleichzeitig sind die darauf folgenden Diskurse ein Spiegel der allgemeinen Defizite, die unsere hochtechnisierten Gesellschaften auszeichenen, wenn es um soziale Probleme geht.

„Probleme wie Obdachlosigkeit fordern einen Ansatz, der über Algorithmen hinausgeht. Die Gründe sind nicht technischer Natur. Dazu braucht es Psychologie, Anthropologie, Philosophie. Die Grenzen simulierter Realitäten werden mit diesem Videospiel überdeutlich."

Eine Limited Edition (99 Exemplare) von How to get rid of the Homeless ist über Concrete Press bei Amazon erhältlich.