Frauenverbot, Trinkpflicht, Tradition: Wieso will man als junger Mann unbedingt Zünfter werden?
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Zürich

Frauenverbot, Trinkpflicht, Tradition: Wieso will man als junger Mann unbedingt Zünfter werden?

Wir haben den 29-jährigen Silvan Rosser an seinem ersten Sechseläuten als Zünfter begleitet.

Männer mit Langhaarperücken und farbigen Leggings, Reiter in Uniformen und dekorierte Pferdewagen schieben sich Richtung Zürcher Bellevue. Der Soundtrack zur Szenerie: laute Marschmusik. Vor dem Opernhaus wartet das Ziel des Umzugs in Gestalt eines Schneemannes. Der Schneemann, "Böögg" genannt, gefüllt mit Holzwolle und Knallkörpern, wird auf einen Scheiterhaufen gestellt und angezündet. Er symbolisiert den Winter: Je schneller sein Kopf explodiert, desto schöner werde der Sommer. Das ist keine historische Reportage. Wir sind im Jahr 2017 und Zürich feiert das "Sechseläuten".

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"Es ist halt Tradition"

Heute ist ein spezieller Tag für Silvan Rosser: Er ist dieses Jahr zum ersten Mal als richtiger Zünfter am Umzug dabei. 26 Zünfte gibt es in der Stadt Zürich, die meisten waren früher Handwerksvereinigungen von Schneidern, Schiffleuten oder Schuhmachern. Accessoires wie überdimensionierte Scheren erinnern an den Ursprung der jeweiligen Zunft. Die Zunft der Schiffleute zieht ein Boot mit und wirft Schokoladenfische in die Menge. Silvan gehört – wie auch sein Vater – zur Zunft Witikon, eine Quartierzunft und die jüngste der Zürcher Zünfte. Sie wurde erst 1980 gegründet. Auf ihrem Wagen steht eine lebensgrosse Elefantenfigur, eine Anlehnung an den Elefantenbach, der durch Witikon fliesst. Dort haben sich während der ersten und zweiten Schlacht von Zürich im Jahr 1799 die Franzosen und ihre Gegner die Österreicher und Russen bekriegt. Die Zunft Witikon wirft sich deshalb in Kostüme im Stil dieser Zeit.

Silvan trägt die Haare auf der Seite kurz und oben lang. Seine Frisur ist das einzige Merkmal aus dem Jahr 2017, sonst sieht er aus, als wäre er aus einem historischen Film abgehauen: Unter dem Arm hat er seinen Zylinder geklemmt. Er trägt einen grünen Frack mit doppelter goldener Knopfleiste, ein Seidenhalstuch und Stiefel, als würde er reiten gehen. Momentan aber steht er vor dem Hotel Schweizerhof, gleich vis-à-vis des Hauptbahnhof Zürich. In diesem Hotel hat die Zunft Witikon ihre "Stube", ihr Zuhause während dem Sechseläuten. Hier essen die Zünfter, hören den Reden der Ehrengäste zu und empfangen andere Zünfte. Für Externe ist der Zutritt verboten: "Wegen der Narrenfreiheit", sagt Silvan. Jeder solle in der geschützten Stube sagen können, was er wolle, nichts kommt nach draussen. Sie besprächen zwar nichts Unbedenkliches, aber es sei halt Tradition und es lasse sich unbeschwerter reden, wenn man wisse, dass danach nicht jedes Wort auf die Waagschale gelegt wird. Das bedeutet, dass auch Politiker oder prominente Persönlichkeiten in der Stube kein Blatt vor den Mund nehmen müssen.

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Das erste Bier um 09:00 Uhr

Am Sechseläuten-Montag trifft sich die Zunft bereits um 09:00 Uhr früh auf ein erstes Bier, es folgt ein Mittagessen und jetzt, um 15:00 Uhr, stellen sich die "Zöifter" für den Umzug auf. "Ich fand es schon als Kind cool, am Umzug mitzulaufen", sagt Silvan, der heute 29 Jahre alt ist. Mit 14 Jahren entschied er sich dafür, dass er in der Zunft sein möchte. Aber der Weg zum richtigen Zünfter ist lang: Erst war Silvan Schankbursche. Er musste am Umzug mit einer Weinkanne in der Hand herumrennen und die älteren Zünfter mit Wein versorgen. Im Alter von 20 Jahren wurde er Gesell und vor seinem 30. Geburtstag stellte er ein schriftliches Gesuch, um in die Zunft aufgenommen zu werden: "Ich möchte diese Tradition aufrecht erhalten", sagt er. Die Zunft hat sein Gesuch angenommen und heute ist er zum ersten Mal im Kostüm dabei. "Was bedeutet das genau?", frage ich ihn. "Dass ich mir letztes Jahr ein teures Kostüm schneidern lassen musste", sagt er und lacht. Aber auch, dass er in der zweiten Gruppe des Umzugs gleich vor dem Elefanten mitlaufen darf: "Abgesehen davon fühlt es sich nicht anders an als früher", sagt er. Obwohl er mehr schwitze, den Frack ziehe ein wahrer Zünfter nämlich nie ab. Erst in der "Stube" nach dem Hauptgang entledigt sich ihm die Zünfter.

Party im Kostüm

"Einreihen!", schreit der Zugführer. Silvan setzt seinen Zylinder auf und stellt sich in die Reihe. Wenn er nicht gerade im Napoleon-Kostüm an einem Umzug mitläuft, arbeitet er als Berater in einem Ingenieurbüro. Er studierte Umweltnaturwissenschaften an der ETH in Zürich. Müde sieht er nicht aus, obwohl dem Sechseläuten-Montag ein Festmarathon vorausgeht. Bereits in der Vorwoche traf Silvan andere Zünfte zum Vor-Sechseläuten, jeder bringt seinen eigenen Zunftwein mit, die Zünfter degustieren und bewerten ihn. Am Freitag ist der "Platz der Kanone" auf dem Lindenhof. "Da zeigt man sich, begrüsst alle, wünscht sich ein gutes Sechseläuten und trinkt", sagt er.

Am Samstag finden in der ganzen Stadt Bälle statt, nach Alterskategorien unterteilt. Silvan besuchte den "Ball mit Knall" im Hotel Storchen. Der Ball ist eine ausgelassene Party – einziger Unterschied: Die Frauen tragen Reifröcke und die Männer ihr Kostüm. Nach dem Abendessen tanzen sie, begleitet von einer funkigen Band Jive, Chachacha oder Discofox und zum Abschluss legt ein DJ bis in die frühen Morgenstunden auf. An den Bällen ist Damenbegleitung erlaubt. Am Umzug darf die Zürcher Frauenzunft erst seit 2014 mitlaufen. Allerdings auch nur als Dauergast der "Gesellschaft zur Constaffel". An den anderen Aktivitäten am Sechseläuten-Montag macht die Frauenzunft nicht mit – "Wobei das auch nie deren Wunsch war", sagt Silvan. Die aktuelle Einbindung der Frauenzunft findet Silvan eine gute Lösung.

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Der Bodyguard im Zunftrock

Jetzt ist Abmarsch, die Pferde, der Elefant und die Zünfter setzen sich in Bewegung. Der Umzug führt durch die Bahnhofstrasse und dem Limmatquai entlang an den Sechseläuten-Platz am Bellevue. Die Strassen sind gesäumt von Schaulustigen, viele Frauen haben Blumen in den Händen, die sie den Zünftern übergeben. Sie springen auf und suchen sich den Weg durch die Zunft zu ihrem Crush.

Das Publikum klatscht zur Marschmusik und applaudiert wenn ein besonderer Ehrengast, wie zum Beispiel Bundesrat Alain Berset, in Sichtweite kommt. Dessen Bodyguard hat sich auch einen Zunftrock übergeworfen, nur sein Mikrofon im Ohr verrät ihn. Punkt 18:00 Uhr wird am Sechseläuten der Böögg angezündet, dieses Jahr explodierte er nach knapp zehn Minuten. Der Sommer soll gut werden. Als der "Böögg" verkohlt ist, ziehen sich die Zünfte wieder in ihr Zunfthaus zurück fürs Abendessen. Doch vorher noch schnell ein Vorurteil klären: Zünfter sind konservativ. Ist ein weltoffener Zünfter ein Widerspruch? "Nein, überhaupt nicht. Wir wollen die Traditionen aufrecht erhalten und historische Werte weiterleben, diese neu interpretieren", sagt Silvan. Auch sei seine Zunft nicht politisch einheitlich gefärbt. Das liberale Gedankengut verbinde zwar die meisten, könne aber grosszügig interpretiert werden.

Ein ganzer Arm voll Rosen

21:00 Uhr vor dem Schweizerhof: Ein paar Zünfter rauchen Stumpen, reissen Witze und lachen lauthals. "Silvan, hast du Game gehabt? Wie viele Rosen hast du bekommen?", möchte ich wissen. "Einen ganzen Arm voll", sagt er, von alten Schulkameradinnen, Kolleginnen, Gotte, Mutter und natürlich von seiner Freundin.

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Um seinen Hals hängt ein Fläschlein Jägermeister, wieviel Wein er heute getrunken habe, wisse er nicht mehr. Jedenfalls viel, es werde immer nachgeschenkt und er habe die Übersicht verloren. Gleich geht es weiter für Silvan: Der "Auszug" steht an. Die Zünfte besuchen sich gegenseitig in ihrem Zunfthaus. Die Zunft Witikon quetscht sich in zwei Extrabusse, musikalisch umrahmt von der Marschmusik und fährt nach Wollishofen. Nach dem Besuch bei zwei weiteren Zünften in der Innenstadt, trifft sich die Zunft wieder in der "Stube" für den Mitternachtssnack.

Die Sechseläuten-Nacht ist aber noch lange nicht fertig: Um 01:00 Uhr ziehen die Zünfte durch die Gassen und besuchen abermals andere Zünfte, aber nicht mehr als Zunfteinheit, sondern gemischt mit anderen Zunftmitgliedern. "Saubanner" heisst diese Aktion. Silvan ist seit zwölf Stunden auf den Beinen und hat viel Wein intus. Ich möchte wissen, ob er nicht langsam müde sei. "Jetzt habe ich das Tief überwunden und es geht steil bergauf", antwortet Silvan. Beeindruckend sind auch die älteren Herren. Sie sind immer noch auf den Beinen und diskutieren lautstark. "Sie sammeln das ganze Jahr Energie für das Sechseläuten", sagt Silvan. Er selbst gönnt sich den Morgen nach dem Sechseläuten frei, am Nachmittag bringt er das Kostüm in die Reinigung und macht Homeoffice.

Seltsame Kostüme, platt gestampfte Pferdeäpfel auf den Zürcher Strassen und ganz viele betrunkene Männer mit Blumen in den Armen, der Sinn des "Sechseläuten" erschliesst sich mir auch aus unmittelbarer Nähe nicht ganz. Aber ein lustiges Bild gibt diese Chose allemal ab.

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