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Wie eingefrorene Leichen mich Optimismus lehrten

Mitten in der Wüste von Arizona steht eine riesige Anlage, in der hunderte tiefgekühlte sterbliche Überreste darauf warten, wieder zum Leben erweckt zu werden. Doch wie realistisch sind die Versprechen der Kryonik?
Fotos von Mark Peterman

Von außen sieht die Einrichtung schmucklos aus, doch im Inneren steckt einer der futuristischsten Orte der USA: Die größte Anlage zur Kryokonservierung von Menschen, die Alcor Life Extension Foundation liegt versteckt in einem blaugrauen Bürokomplex in einer Kleinstadt in Arizona. Wer eine Audienz in einer der wichtigsten Kathedralen der Transhumanisten, bei gefrorenen menschlichen und tierischen Überresten, haben möchte, muss offenbar raus in die Wüste vorbei an Ranches, Schützenvereine und Kakteen-gesäumten Highways in den Ort Scottsdale.

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Die Kryonik verspricht eine Art Wiederauferstehung für Atheisten. Es ist die hohe Kunst Menschen nach wissenschaftlichen Methoden einzufrieren – in der Hoffnung, dass sie irgendwann in der Zukunft wieder zum Leben erweckt werden können.

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Ich komme als Skeptikerin. Die neun Mitarbeiter, die mich im Büro der Nonprofit-Organisation empfangen, lächeln freundlich. Rund herum hängen Fotos von all jenen Kunden, die schon eingefroren wurden und im Stand-by-Modus auf ihre Wiederauferstehung warten, sobald die Wissenschaft es zulässt. In der Alcor-Anlage lagern 149 menschliche Körper und Köpfe bei –196 Grad Celsius, darunter eine chinesische Science-Fiction-Autorin, ein kleines Mädchen aus Thailand und die Baseball-Ikone Ted Williams. (Allerdings nicht Walt Disney, entgegen verbreiteter Gerüchte.) Alcor will expandieren, denn mehr als 1.100 weitere sogenannte "Kryonauten" haben sich der Tiefkühlung nach dem Ableben verschrieben. Laut Alcor ist etwa ein Viertel dieser Menschen in der Tech-Branche tätig, und die meisten haben die Entscheidung in ihren 40ern gefällt. Diese Generation kann sich ihren Körper bereits als Maschine vorstellen, die es zu hacken gilt.

Doch wie realistisch sind die Versprechen der Kryonik?

Lautstarke Kritik gibt es genügend. Die Kryokonservierung ist in vielen Ländern, darunter Frankreich und Deutschland, aktuell verboten. Viele behaupten, dass Organisationen wie Alcor Trauernde mit falschen Hoffnungen locken. Andere Kritiker sehen schlicht ein cleveres Abzocksystem, das immer mehr Geld von neuen Mitgliedern eintreiben muss, um die früheren Generationen gekühlt zu halten. Doch es gibt auch Anhänger der Kryokonservierung: Erst kürzlich hat die Mutter einer verstorbenen 14-jährigen Britin den Rechtsstreit um den letzten Wunsch des Mädchens gewonnen: Es darf eingefroren werden. Der Neurowissenschaftler Michael Hendricks schreibt derweil in MIT Technology Review, Kryonik sei eine „falsche Wissenschaft" und „jene, die aus dieser Hoffnung Profit schlagen, haben unsere Wut und Geringschätzung verdient". 2006 erlitt die Kryonik-Bewegung einen Rückschlag, als der Sohn zweier Kryonauten entdeckte, dass es eine Fehlfunktion gegeben hatte und seine Eltern aufgetaut waren. Ähnlich makabre Fehler gibt es schon mindestens seit den 1960ern.

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Doch Linda Chamberlain, die Alcor 1972 mitgegründet hat, findet die Kryonik „befreiend". Wie sie mir erzählt, hat auch sie vor, sich einfrieren zu lassen, und ihr Mann Fred, der 2012 an Krebs gestorben ist, befindet sich bereits bei Alcor.

Fred Chamberlain, der 1972 mit seiner Frau Linda Alcor gründete, ist hier eingefroren. Seine Hirnscans deuten laut dem Team darauf hin, dass seine Erinnerungen potenziell intakt sind.

Chamberlain und ihr Mann haben sich bei einer der ersten Kryonik-Konferenzen im Kalifornien der späten 1960er kennengelernt. Viele ihrer 46 Ehejahre gehörten sie zum "Rettungsteam" von Alcor, das Verstorbene abholt und den Gefrierprozess einleitet. Heute managt sie in Teilzeit Sonderprojekte in der Organisation. „So bin ich näher bei ihm und kann auf ihn aufpassen", sagt sie.

Die zierliche Frau sitzt vor dem langen Zeitstrahl der Geschichte der Kryonik im Alcor-Büro und klingt fest entschlossen, als sie fortfährt: „Fred und ich hatten immer vor, zusammenzubleiben. Ich habe keine Absicht, noch einmal zu heiraten oder so. Ich werde wieder mit ihm zusammen sein."

Die Geschichte der Kryonik könnte bis zu einem Brief von Benjamin Franklin zurückverfolgt werden. 1773 schrieb er an einen Freund, Menschen so einzubalsamieren, „dass sie wieder zum Leben erweckt werden können". Als wissenschaftliches Unterfangen nahm die Kryonik mit dem Akademiker Robert Ettinger 1964 mit seinem Buch The Prospect of Immortality Fahrt auf. Ettingers Werk gilt als Anstoß für die heutige Bewegung.

Max More, der britische CEO von Alcor, erklärte mir, dass seine Organisation keineswegs "Unsterblichkeit" verspreche. Anhänger der Kryonik meinen, dass wir zwar nicht wissen, wie die Zukunft aussieht, aber dass wir darauf vertrauen können, dass unsere Nachfahren (unsere "Freunde in der Zukunft", wie Ettinger sie nannte) sehr viel mehr wissen werden als wir. Und dass sie neugierig genug oder vielleicht sentimental genug sein werden, um uns zurück ins Leben zu holen. Für More sind Kryonauten keine Sektenmitglieder oder Wunderlinge, sondern lediglich missverstandene Menschen, die von der Möglichkeit einer Erweiterung des menschlichen Potenzials fasziniert sind. "Wir bieten eine Chance auf ein zweites Leben", sagt More.

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Leichen im Stand-by-Modus: Die Kunst, nicht zu sterben

Vom Sterben sagt er: „Niemand möchte das hier machen. In einem Tank mit flüssigem Stickstoff zu schweben und unser Schicksal nicht mehr in der Hand zu haben, ist eine sehr unangenehme Sache. Aber es ist sehr viel angenehmer, als von Würmern und Bakterien zersetzt zu werden. Oder in einem riesigen Ofen verbrannt." Die Kroynik biete hingegen „eine Chance, und zwar eine ungewisse. Wir können nicht garantieren, dass die Technik jemals entwickelt wird. Aber es ist wahrscheinlich. Es verstößt nicht gegen die Gesetze der Physik. Es geht nur um technische Weiterentwicklung."

Alcors Dienstleistungen sind kostspielig. Der Grundpreis für Ganzkörper­konservierung liegt bei 200.000 Dollar. Wer nur seinen Kopf einfrieren lassen will, muss 80.000 Dollar zahlen. Auch Haustiere können verwahrt werden. Oft finanzieren sich Kryonauten durch Lebensversicherungen. Alcor bietet selbst keine Lebensversicherung an und More versichert mir, die Organisation erhalte auch keine Provision von Versicherungen. Etwa die Hälfte der Kosten für die Verwahrung gehen in einen Patientenversorgungsfonds, der die aktuelle Alcor-Belegschaft überdauern und die Eingefrorenen vor einer ungewissen Zukunft bewahren soll. Es gibt „den Irrglauben, das sei nur etwas für Reiche, aber dem ist nicht so", sagt More. "Wenn man mit einer Lebensversicherung zahlt, kostet es auch nicht mehr, als jeden Tag zu Starbucks zu gehen."

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More führt mich in eine Art OP-Saal, wo er mir im grellen Licht demons­triert, was Alcor-Mitarbeiter mit einem Menschen nach seinem Tod tun. Alcor habe eine „Watchlist" der Todkranken und versuche so, die Zeitspanne zwischen Tod und Einfrieren zu verkürzen und Schäden zu minimieren. Das Rettungsteam besteht aus Chirurgen, die auf Auftragsbasis arbeiten, Angestellten und Freiwilligen. Viele von ihnen leben in Scottsdale, doch sie können auch andernorts eingesetzt werden. „Wir haben noch keinen Kälteschlaf wie in den Filmen", sagt More. Während er mir das erzählt, steht er über einer Trage, auf der eine in Eis gepackte Menschenpuppe liegt. „Noch nicht."

Läge hier ein echter menschlicher Körper, würden nun 16 oder 17 verschiedene Substanzen injiziert, darunter Gerinnungshemmer und Antazida. Als Erstes käme das Anästhetikum Propofol zum Einsatz. GoPro-Kameras zeichnen den gesamten Vorgang auf, sowohl für Angehörige als auch für Forscher. Teilweise werden Fallstudien veröffentlicht.

Max More, der CEO der Stiftung, schätzt, dass der kryonische Auftauprozess in 50 bis 150 Jahren „machbar sein müsste". Er bezeichnet Kryonauten als missverstanden und keineswegs seltsam.

Zwar ist alles hier klinisch, doch gleichzeitig kommt mir das Ganze noch immer unheimlich seltsam vor. Ich frage More, ob sich die allgemeine Wahrnehmung der Kryonik seiner Meinung nach normalisieren werde. Er verweist auf die Verbreitung neuer Techniken wie In-vitro-Befruchtung und Organspende. Dies seien Beispiele, die bereits viele der Kryonik gegenüber offener gemacht hätten.

„Ich denke, wir sind ein wenig wie Leonardo da Vinci, als er Hubschrauberrotoren und andere Fluggeräte entwarf. Die Menschen hielten ihn wahrscheinlich für ein bisschen verrückt, aber er hatte Recht. Er hatte nur noch nicht das richtige Werkzeug und die richtige Technik. Die Prinzipien haben gestimmt", sagt More. „Oder denken sie an die 1960er Jahre zurück. Sie wollten jemanden auf den Mond schicken, aber sie hatten nicht die richtigen Raketen und lebenserhaltenden Systeme, aber innerhalb von zehn Jahren hatten sie es geschafft."

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Ich frage mich, wann die Eingefrorenen wohl jemals aufgetaut werden sollen. Und gesetzt den Fall, sie würden wieder erwachen, wie viel von ihrer Persönlichkeit wäre dann noch da? Wenn man mich einfrieren und auftauen würde, wüsste ich dann noch meine PIN oder könnte ich mich noch an gute Zeiten mit meinen Freunden erinnern?

More lädt einen von Fred Chamberlains Gehirnscans auf einen Flachbildschirm und deutet auf verschiedene Areale, die neonhell in Rosa, Lila und Blau leuchten. „Man kann hier gut davon ausgehen, dass seine Erinnerungen intakt sind. Alles ist noch da."

Mores Vision nach „sollte es machbar sein" kryonisch einzufrieren und aufzutauen, auch wenn er kein Datum vorhersagen kann. Er schätzt 50 bis 150 Jahre, wie er mir erzählt. Dann betreten wir einen weiteren Raum, wo ich durch kugelsicheres Glas eine Reihe deckenhoher Behälter sehe. Wir betreten den Kühlraum und sind von Dutzenden solcher Behälter umgeben, glatt, glänzend und kalt – genug Platz um 1.100 Menschen zu verwahren.

Jeder Körper ist in eine Art Schlafsack gepackt und befindet sich in einer Aluminiumkapsel, die aufrecht mit drei anderen Kapseln in den Tank kommt. In der Mittelsäule befinden sich noch einmal fünf Köpfe. Die Behälter seien „im Grunde gigantische, sehr teure Thermosflaschen", erklärt More, als er das Licht anschaltet. Die Wände sind mehrfach isoliert, und obwohl es ein Notstromaggregat gibt, versichert mir More, dass es auch ohne Strom mehrere Wochen dauert, bis hier etwas auftaut.

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Der Rundgang durch die futuristisch anmutenden Hallen von Alcor mag mich noch immer an Science-Fiction-Groschenromane erinnern, doch gleichzeitig ergreift mich überraschenderweise eine Art Optimismus. Ob wissenschaftlich plausibel oder nicht, Kryonik-Anhänger glauben seit Ettinger an eine Welt, die einmal besser sein wird als unsere heutige. Ein Glaube an Möglichkeiten in einer Zeit des Zynismus und der Unsicherheit. Trotz meiner anderslautenden Ansichten zur Logik und Wissenschaft des Todes hat das für mich etwas Anziehendes.

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Ich lasse den Blick durch den Kühlraum mit all den gefrorenen Köpfen und Körpern schweifen und frage More, welcher grundlegender Optimismus nötig ist, um Kryonaut zu werden. „Ich würde nicht sagen, dass all unsere Mitglieder Optimisten sind", antwortet More. „Ich kenne einige sehr unglückliche Leute, die sich immer das Schlimmste ausmalen. Man braucht zumindest technologischen Optimismus, ansonsten wird man nicht zurückgeholt. Ich denke, viele von uns sind optimistischer als der Durchschnitt, weil der Großteil der Menschen in unserer Kultur wenig Weitsicht besitzt."

„Die Leute beschweren sich ständig, wie schlecht heute alles ist. ‚So schlimm war es noch nie.' Blödsinn. Man braucht nur 100, 1.000 oder 10.000 Jahre zurückgehen und sich anschauen, wie es damals wohl war. Willst du als Frau zurück in eine Zeit, wo du der Besitz deines Ehemanns warst? Oder als es Sklaven gab? Und noch keine Schmerzmittel und Desinfektionsmittel? Nein, danke."

Er verabschiedet mich mit mehreren Ausgaben der Alcor-Veröffentlichung Cryonics, einem Anmeldepaket und einem Händedruck. Als ich auf dem Heimweg die Literatur durchsehe, frage ich mich, ob ein bisschen weitsichtigeres Denken in einer Zeit voll Hoffnungslosigkeit nicht wirklich eine gute Idee ist – ob wir uns dazu nun einfrieren lassen oder nicht.

Dieser Artikel stammt aus der VICE-Issue „The Future of Technology". Alle Artikel der Ausgabe findet ihr hier.