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Die Nacht des Anschlags aus Sicht eines Arztes in der Notaufnahme

Mein Freund N. ist Arzt. Was in einem Berliner Krankenhaus passiert, wenn in der Stadt ein Anschlag verübt wird, hat er hier erzählt.
Der Abgebildete ist nicht der Interviewte. Bild: imago

Mein Freund N.* war in der Nacht vom 19. Dezember nicht am Breitscheidplatz und doch viel näher dran als wir alle: Er war als Arzt in einem großen Berliner Krankenhaus—einem Charité-Standort—vor Ort, und musste Schwerverletzte in der Notaufnahme versorgen. Er darf eigentlich nicht ohne Absprache mit der Krankenhausleitung mit der Presse reden, daher musste ich ihn und die exakte Fachabteilung, in der er arbeitet, anonymisieren. „Sonst könnte ich meinen Job verlieren, wäre richtig, richtig scheiße." Hier erzählt er, wie die Nacht im Ausnahmezustand für ihn aus der Sicht eines Mediziners abgelaufen ist und was in einem Berliner Krankenhaus im Falle eines Anschlags in der Stadt geschieht.

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Motherboard: Du musstest also am Montagabend arbeiten. Konntest du dich in irgendeiner Weise auf die Situation einstellen?

Na ja, es gibt Trainings, die regelmäßig in verschiedenen Krankenhäusern stattfinden. Wir proben die Abläufe für den Testalarm auch, da hab ich natürlich auch schon mitgemacht. Und ab und zu müssen wir an extrem aufwändigen Katastrophen-Simulationen teilnehmen, um sowas zu trainieren. Da liegen dann lauter Statisten mit Kunstblut herum und wir proben den Umgang mit vielen Schwerverletzten auf einmal. Mal haben die künstliche Verbrennungen, mal einen Knochenbruch. Trotzdem hab ich sowas noch nie tatsächlich erlebt.

Bild: imago

Kannst du mir erzählen, was in der Nacht passiert ist?

Ich war vor Ort, zunächst war alles ganz normal, ich habe ein paar Anrufe entgegengenommen; nichts besonderes. Dann habe ich den Alarm gehört: Es gibt verschiedene Signaltöne für verschiedene Fälle—ich kannte sie alle bisher nur von den Übungen. Du meldest dich dann sofort bei einer Stelle im Krankenhaus und fragst, wo etwas zu tun ist. Dann hab' ich meinen „Hintergrund" informiert, das ist eine Art eingeteilter Bereitschaftsdienst, der zu Hause ist. Später habe ich kurz im Internet geschaut, was wohl los war, hab das mit dem Laster gelesen und wusste dann Bescheid.

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Läuft bei einem Alarm immer dasselbe im Krankenhaus ab oder war dieser Montagabend anders?

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Die Sanitäter vor Ort verfolgen in solchen Fällen ein Rettungskonzept, das heißt „Load and Go": Man versucht, den Patienten schnellstmöglich einzusammeln und ins Krankenhaus zu bringen, statt sich länger mit der Versorgung vor Ort aufzuhalten.

Je nachdem, wie schwerwiegend der Vorfall ist, richtet der Senat hier in Berlin einen Krisenstab ein, der alles koordiniert. Dann wird automatisch zusätzliches Personal zu Hause angerufen, die müssen dann sofort in den Dienst und erfahren vor Ort an einer Sammelstelle genau, was es wo zu tun gibt. Das ist aber immer nur ein Teil des Personals, wenn es allerdings eine gigantische Katastrophe gäbe, würden alle einberufen.

Es gibt auch unterschiedliche Eskalationsstufen für den Alarm, je nachdem wie groß die „Lage" wird—aber das ist eigentlich für mich gar nicht mehr interessant. Niemand in der Notaufnahme weiß vorher, wie viele Patienten reinkommen. Aber: Wie viele Menschen mit welchem Verletzungsmuster in welches Haus kommen, das koordiniert eine Leitstelle, damit kein Krankenhaus besonders überlastet ist.

Und wenn mehrere Patienten auf einmal reingebracht werden, wie entscheidest du, wer als Erstes behandelt wird?

Zuallererst macht der Unfallchirurg dann eine sogenannte Triage. Das bedeutet, wir checken Atmung, Bewusstsein, Kreislauf und teilen die Patienten je nach Schwere der Verletzung ein. Sie bekommen dann ein farblich abgestuftes Label. Rot bedeutet, dass wir sofort alles stehen und liegen lassen müssen, sonst schafft es der Patient nicht; bei orange kann die Behandlung zehn Minuten warten, bei gelb eine halbe Stunde und wer ein grünes Label bekommt, rückt in der Prioritätenliste weiter nach hinten und muss länger warten.

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Welche Art von Verletzungen musstest du am Montag behandeln?

Also, am Abend des Anschlags hatten wir echt die komplette Bandbreite da—von leichten Verletzungen bis hin zu allerschwersten, lebensgefährlich Verletzten.

Um die alle schnellstmöglich zu behandeln, hat jedes Krankenhaus ein sogenanntes Schockraumprotokoll. Darin wird festgelegt, was man mit jedem Schwerverletzten macht und welche Ärzte an den Checks beteiligt sind. In einem Schockraum sind bei uns Neurochirurgen, Anästhesisten, Radiologen und Unfallchirurgen. Das ist die Basis für das sogenannte Trauma-Management. Die Abläufe sind extrem koordiniert. Der Allgemeinchirurg untersucht den Bauch. Wir checken, ob der Patient stabil ist, und wenn ja, macht der Radiologe einen ganz schnellen Ultraschall. Dann überprüfen wir, ob der Patient neurologische Ausfälle hat, also ob er noch weiß, wer er ist, welcher Tag ist, ob er orientiert ist.

Wie hast du dich dabei gefühlt, die Opfer eines Anschlags zu behandeln—hat sich das für dich von anderen Einsätzen besonders unterschieden?

Naja, der Rahmen macht es aus. Durchgespielt hatte ich das alles ja schon mal. Besonders war natürlich, dass ich mehrere Schwerverletzte parallel versorgen musste. Das haben wir nicht oft, kann aber trotzdem immer mal passieren—beispielsweise, wenn es eine Karambolage auf der Autobahn gibt.

Hast du dich mit Menschen, die vor Ort waren, unterhalten, über das, was sie auf dem Breitscheidplatz erlebt haben?

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Ja, die Menschen haben natürlich schwere Traumata. Stell dir vor, du trinkst gerade völlig entspannt Glühwein und plötzlich rast ein Lastwagen direkt auf dich zu. Ich habe einige Geschichten gehört, aber ich kann sie nicht weitergeben, weil ich sonst befürchten würde, dass man sie einzelnen Patienten zuordnen könnte—und das will ich nicht und darf ich angesichts der ärztlichen Schweigepflicht auch nicht.

Allgemein bekommt man in der Notaufnahme aber natürlich ständig tragische Schicksale mit. Ich war aber auch so auf meine Arbeit konzentriert, dass ich nicht viel anderes mitbekommen habe. Ich weiß zum Beispiel nicht mal genau, ob es alle Eingelieferten tatsächlich geschafft haben. Du musst dir vorstellen, wir verlassen uns eben darauf, dass alles genau organisiert ist und arbeiten das ab, damit niemand kopflos durch die Gegend rennt.

Konntest du den Abend denn eigentlich mit deinen Kollegen nochmal besprechen?

Nee, eigentlich nicht. Es ist nicht so, dass wir im Aufenthaltsraum nach der Schicht zusammengesessen sind und darüber reflektiert haben, was für ein krasser Abend das war. Mein Pieper sagt mir irgendwann, wenn der Katastrophenalarm zu Ende ist, und dann mach ich mich nach der Schicht auf dem Heimweg. Manche der Patienten vom Weihnachtsmarkt hab' ich bei der nächsten Visite auch direkt wiedergesehen.

Das klingt tatsächlich alles enorm durchstrukturiert.

Ja, schon. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn eine Bombe in der Innenstadt hochgegangen wäre und es 500 Verletzte auf einmal gegeben hätte. Aber ich muss echt sagen, Chaos war da zu keinem Zeitpunkt. Ich fand es beeindruckend, wie schnell alle nach dem Alarm am Start waren, auch die, die von zu Hause kamen und alle genau das machten, was zu tun ist. Und irgendwie ist das ja auch gut zu wissen.

*Name der Redaktion bekannt