Diese Cocktailkarten sind so schön und werden ständig geklaut
Photo courtesy Dandelyan. 

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Diese Cocktailkarten sind so schön und werden ständig geklaut

Liebe zum Detail wird in Restaurants und Bars immer wichtiger. Das geht weit über Essen und Getränke hinaus: Manchmal sind die Karten so wundervoll gestaltet, dass die Versuchung groß ist, sie einfach zu mopsen. Wir zeigen euch einige der schönsten.

Jede Nacht gibt es in London Mini-Kunstraube. Kleine Meisterwerke werden klammheimlich in Handtaschen und Rucksäcke gestecktund in vollem Schuldbewusstsein zu Hause präsentiert.

Aber es handelt sich bei dem Diebesgut nicht um Da Vincis Gemälde aus der National Gallery oder Turners Landschaftsmalereien aus der Tate Britain, sondern um Speise- und Getränkekarten aus Restaurants und Bars.

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Vorbei die Zeiten, als die Karte nicht mehr war als ein labberiges Stück Papier, auf dem einfach Essen und Getränke stehen. Man liest es sich kurz durch und gibt es dann wieder zurück. Heute bekommt man eigene Kunstwerkebegehrte und ausgefeilt gestaltete Erinnerungsstücke.

Vielleicht liegt es daran, dass sie wunderschön illustriert oder einfach lustig sind oder dass sie sich einfach gut einstecken lassen—in der britischen Hauptstadt verschwinden mehr und mehr Speise- und Getränkekarten.

Diese Cocktailkarte vom Callooh Callay sieht aus wie die berühmte Oyster-Card für den Londoner Nahverkehr. Foto mit freundlicher Genehmigung von Callooh Callay

„Das Design der Karte ist der wichtigste ästhetische Aspekt einer jeden Bar", meint Richard Wynne, dem die Cocktailbar Callooh Callay in Shoreditch gehört. „Damit hebt man sich ab."

Das Callooh Callay ist für seine ausgefallenen, „klaubaren" Karten. Es gab schon den Pantone-Farbfächer, ein Oyster-Card-Etui und eine Kassettenhülle. Richard Wynne hat irgendwann akzeptiert, dass seine Gäste versuchen, die Karten mit nach Hause zu nehmen, und das zu seinem Vorteil ausgenutzt: Die aktuelle Karte der Bar ist ein Stickeralbum, dass sich die Kunden gern mitnehmen können und bei ihren nächsten Besuchen vervollständigen können, wie bei Panini-Stickern, nur mit Cocktail-Stickern.

„Unsere Kunden sollen sich als Teil vom Ganzen fühlen und nicht nur nur aus einer Liste von Drinks ihr Lieblingsgetränk aussuchen", erklärt der Besitzer. „Mit dem Sticker-Album zwingen wir die Leute geradezu, neue Sachen zu probieren, damit sie irgendwann das Album voll haben."

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Eine Karte aus dem „Cocktail-Blatt" des Nightjar. Foto mit freundlicher Genehmigung von Nightjar

Im Nightjar, einer weiteren Londoner Cocktailbar, werden die Drinks auf Spielkarten präsentiert. Seit 2010 gibt es jedes Jahr eine neue Auflage mit neuem Design.

„Für uns war unsere Karte schon immer etwas, das die Leute mit nach Hause nehmen wollen, um es anderen zu zeigen, die dann hoffentlich zu uns die Bar kommen wollen", meint Mitinhaber Edmund Weil.

Das Nightjar verkauft seine Cocktail-Spielkarten und versucht so, dem unvermeidbaren Diebstahl ein bisschen entgegenzuwirken.

„Man kann sie als Souvenir kaufen", erklärt Edmund Weil. „Zum Glück kommt auf jeden Gast, der eine klaut, immer einer, der so viel Respekt und Integrität hat, dafür zu bezahlen."

Die Cocktailkarte des Dandelyan. Design: Magpie Studio. Foto mit freundlicher Genehmigung von Dandelyan

Nicht nur ausgefallene Getränkekarten werden gemopst. Das Dandelyan bietet seinen Gästen spezielle Versionen seiner Karte, die sie mit nach Hause nehmen können, weil zu viele weggekommen sind. Entworfen wurde sie von Magpie Studio: Die botanischen Zeichnungen in Neonfarben passen zu den speziellen Cocktails der Bar, bei denen sich alles rund um Pflanzen und Botanik dreht. Und ganz zufällig sehen diese Illustrationenauch wunderbar in einem Bilderrahmen in den eigenen vier Wänden aus.

Die Diebe scheinen einen guten Geschmack zu haben. Die dritte Auflage der Karte des Dandelyan wurde bei den Tales of the Cocktail Spirited Awards, einem der härtesten internationalen Cocktailwettbewerbe, als beste Cocktailkarte ausgezeichnet. Natürlich geht es bei dem Titel mehr um den Inhalt, aber auch Aufmachung und Design spielen eine große Rolle.

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„Das ist sehr wichtig, wenn man bedenkt, wie lange die Gäste die Karte in der Hand halten", meint Zia Zareem-Slade, Leiterin des Restaurants 45 Jermyn St. „Es gehört einfach zur Gesamterfahrung dazu."

Eine Illustration aus der Cocktailkarte des 45 Jermyn St., inspiriert von Beau Brummel.

Ihre Karte ist inspiriert von Beau Brummel—ein Dandy aus dem 19. Jahrhundert und „ein echter Pionier und wirklich eleganter Mann". Entworfen hat sie der preisgekrönte Illustrator Jonathan Burton. Ungefähr alle zehn Tage müssen neue Karten für das 45 Jermyn St. gedruckt werden—manchmal natürlich, weil sich Gerichte ändern oder die Karten abgenutzt sind, manche verschwinden aber einfach, weil sie so hübsch aussehen.

„Liebe zum Detail ist uns extrem wichtig", erklärt Zia Zareem-Slade. „Wir wollten, dass alles schön aussieht,dass es sich gut anfasst und es den Leuten gefällt. Das heißt auch, dass langfingrige Gäste manchmal das Bedürfnis haben, die Karte zu stibitzen.

Und nicht nur in London wird munter geklaut. Das Xiringuito in Margate, einer ostenglischen Küstenstadt, hat extra Illustrator John Booth beauftragt.

Die Karte des Xiringuito, illustriert von John Booth

„Eine beeindruckende Karte macht den ganzen Besuch noch besonderer", meint Mitgründer des Restaurants Conor Sheehan. „Uns war klar, dass die Karten ,verschwinden' würden, aber das gehört ja dazu. Und irgendwie ist es auch schön, dass sich jemand die Karte mit nach Hause nimmt, sie jeden Tag anguckt und sich an das Xiringuito erinnert."

Bars und Restaurants achten immer mehr auf einzelne Details. Der Kartenklau ist wohl vielleicht ein unerwarteter Nebeneffekt davon. Einige sind von der Nachfrage—egal ob die Karten geklaut oder gekauft werden—jedoch ziemlich überrascht.

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„Jedes Jahr drucken wir mehr und jedes Jahr gehen uns nur ein paar Wochen vor der Lieferung der neu gedruckten die Karten aus", meint Edmund Weil vom Nightjar.

Davon kann auch Richard Wynne ein Lied singen: „Für ist es schwierig, abzuschätzen, wie viele mit nach Hause genommen werden. In nur zwei Monaten sind uns 9.000 der Oyster-Card-Karten ausgegangen. Wir dachten, das reicht locker für fünf Monate."

In der Mitte der Karte des Dandelyan erfährt man, welcher Cocktail zu welcher Tageszeit passt

Auch wenn sie noch so hübsch, kreativ und witzig sind: Am Ende sind und bleiben es einfach nur Karten—eine klare Darstellung der angebotenen Speisen und Getränke.

„Um auf dem Niveau Cocktails zu kreieren, wie wir das wollen, braucht es monatelange Entwicklungsarbeit: Man muss die Zutaten aussuchen, die Kosten ermitteln und alle Feinheiten abstimmen", meint Edmund Weil. „Von der Liebe und der Arbeit, die wir jeden Abend in unsere Drinks stecken, ganz zu schweigen."

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„Wir wissen, dass das Essen für sich sprechen muss", sagt Zia Zareen-Slade. „Und dass die tollen Zutaten und die Kreativität der Köche voll zur Geltung kommen. Eine Karte muss natürlich vor allem informieren und anregen, gleichzeitig spiegelt sie aber auch den Charakter eines Lokals wider. Wir haben kein Problem damit, wenn jemand unsere Karte mit nach Hause nimmt. Das heißt nur, dass wir alles richtig gemacht haben."

Du musst dich also nicht allzu schlecht fühlen, wenn du eine hübsche Karte in deiner Tasche verschwinden lässt und dich mit deinem dreisten Souvenir aus dem Staub machst. Wenn du einen tollen Abend hattest, ist das nur das i-Tüpfelchen.