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Twitter

Ai Weiwei erklärt Twitter zur Kunst

Der chinesische Künstler hat Tweets und Blogposts aus acht Jahren in ein wunderschönes 9000 Seiten starkes gedrucktes Kunstwerk gebracht.
Porträt von Gao Yuan

Ai Weiwei protestiert mit seiner Kunst schon seit Langem gegen die Unterdrückung seiner Landsleute durch die chinesische Regierung. Seine Tweets machen da keine Ausnahme. Ai wurde aus dem chinesischen Twitter (Sina Weibo) verbannt und sein Blog wurde von den Behörden vom Netz genommen. Da Ai aber nicht zu den Menschen gehört, die einfach ruhig zu stellen sind oder sich gar entschuldigen würden, hat er jetzt seine gehaltvollen Social Media Beiträge zu einem wunderschönen Reispapier-Werk mit dem Namen An Archive verarbeitet.

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Als Teil der momentan laufenden Ausstellung Go East: The Gene and Brian Sherman Contemporary Asian Art Collection in Sydneys Art Gallery of NSW—mit weiteren Arbeiten japanischer, tibetanischer, indonesischer und philippinischer Künstler, die sich der Schnittstelle zwischen Kunst und Protest widmen—war An Archive eine Auftragsarbeit, für die er mit traditionell chinesischen Kunsthandwerkern zusammengearbeitet hat, um seine Konversation von Pixeln auf Papier zu übertragen. Jeder Post bekam seine eigene Seite.

Die Arbeit ist komplett in Mandarin verfasst, aber Ais Motiv ist universal und er hat, wenig verwunderlich, eine Menge zu diesem Thema zu sagen. Wir haben mit ihm über An Archive, Go East und die künstlerischen Aspekte von Social Media gesprochen.

Foto mit freundlicher Genehmigung des Künstlers

The Creators Project: Würden Sie ihre Präsenz in den sozialen Medien, Ihre Tweets und Ihre Blogposts als Teil ihrer Kunst bezeichnen?

Ai Weiwei: Alle Arten meines Ausdrucks gehören zu meiner Kunst. Manchmal nehmen sie die traditionelle Form der Sprache an, manchmal erfordern sie die Erschaffung einer neuen Sprache. Wie auch immer, sie sind alle gleich. Kunst heißt, sich selbst durch ein Medium auszudrücken, um erfolgreich miteinander zu kommunizieren.

Warum haben Sie sich dazu entschieden, An Archive zu machen?

Archivieren ist eine unglaublich wichtige Aufgabe. Wir schauen regelmäßig in den Spiegel, um nicht zu vergessen, wer wir sind. Archivieren ist da eine ganz ähnlich eine Methode, um herauszufinden, was uns und um uns herum geschehen ist. Es ist auch eine Möglichkeit, unser Verhalten zu reflektieren, um uns am Ende besser zu verstehen.

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Können Sie uns ein wenig über Ihre Arbeit sagen?

An Archive bezieht sich auf das, was ich im Internet geschrieben habe—vor allem auf das, was ich zwischen 2009 und 2013 auf Twitter geschrieben habe. Twitter ist ein sehr interessantes Medium. Es ist keins, das die Vergangenheit aufzeichnet, sondern eins, das den Istzustand formt und Verbindungen in die Zukunft hat. Einerseits ist Twitter unglaublich intim, andererseits verbindet es uns aber gleichzeitig weitläufig mit allen anderen. Noch nie zuvor in unserer Geschichte hatten Menschen ein derartiges Medium zur Verfügung. Indem wir unsere Art verändern, miteinander zu kommunizieren, verändern wir auch die Art, wie wir uns selbst und andere sehen. Das führt zu einer neuen Definition unserer Gesellschaft, unseres Demokratieverständnisses, unserer Grundrechte und auch der Menschheit an sich. Obwohl es sich dabei nur um meine Posts auf Twitter handelt, beziehen diese sich doch auf bestimmte Ereignisse und auf Diskussionen zwischen meinen Lesern und mir. Es ist wie Wasser, das vor uns fliest. Es besteht einfach die Notwendigkeit, das wie einen Roman oder ein Stück Geschichte aufzuzeichnen.

Was waren das für Themen, die Sie zwischen 2009 und 2013 besonders beschäftigt haben?

Vor meinem Computer zu sitzen und bei Twitter zu schreiben war wie Wildwasser-Rafting. Man wusste nie, was auf einen zukam und was man als nächstes sehen würde. Man versuchte immer nur auf den Moment zu reagieren. Zu meinen Aktivitäten gehörten Diskussionen und Erinnerungen an die Vergangenheit—und auch Voraussagen über die Zukunft. Twitter war eine Übung für die eigene Denkweise und eine, bei der man gleichzeitig vollkommen der Öffentlichkeit ausgeliefert ist.

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Hat sich Ihr Fokus inzwischen geändert?

Mein Fokus lag immer schon auf der Redefreiheit. Das ist ein essentielles Qualitätsmerkmal einer freien und zivilisierten Gesellschaft. Während sich mein Fokus auch nicht geändert hat, kann sich die Form, in der er sich manifestiert, durchaus ändern. Manchmal erfordert er eine Form, die in einen fixen Raum mit einem fixen Publikum passt—wie eine Galerie oder ein Museum. Andere Male geht es darum, ein ganz anderes Publikum mit einzubinden, wie das in meiner letzten Ausstellung auf der Insel Alcatraz in San Francisco geschehen ist. Ich bin immer daran interessiert, neue Mittel und Wege zu finden, um neues Publikum zu erreichen. In solchen Fällen muss ich mich der Herausforderung stellen, die richtige Sprache und die beste Kommunikationsform zu finden.

Warum haben Sie für diese Arbeit die Form eines traditionellen, chinesischen Buches gewählt?

Die einzigen Dinge, die in der Form des traditionellen, chinesischen Buches aufgezeichnet wurden, waren sehr anspruchsvolle Literatur oder Geschichte. Der Druck war teuer und kompliziert. Dementsprechend wurde in dieser frühen Zivilisation nur die Kultur der Elite festgehalten. Twitter ist digital und hat nur sehr wenige Grenzen, was die Veröffentlichung angeht. Es ist ein bisschen ironisch, diese beiden Formen miteinander zu verbinden. Sie werden dadurch beide gleichermaßen gerechtfertigt und unterlaufen.

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Ai Weiwei, An Archive, 2015. Huali Wood, Xuan Paper. Edition of 2 + 1 AP. 100 x 100 x 114 cm. Courtesy of Collection: Gene & Brian Sherman, Sydney. Foto: Jenni Carter, AGNSW

Stimmt es, dass Sie bis 2005 überhaupt keinen Computer hatten?

Bis 2005 hatte ich keinen einzigen Computer angefasst. Ich hatte nicht mal ein einziges Wort auf einer Tastatur getippt. Wir hatten nicht wirklich die Gelegenheit, zu üben. Wir hatten auch keine Möglichkeit, uns in der Öffentlichkeit auszudrücken, da diese hier vollständig durch den Staat kontrolliert wird. Als hier dann immer mehr Menschen Zugang zum Internet bekamen, war das für uns die erste Möglichkeit, eben genau das zu tun. Das Internet begeisterte mich und ich gab mich voll und ganz diesem Wunder hin. Meine Fähigkeiten waren sehr eingeschränkt, also lernte ich als erstes, wie man tippt. Der erste Satz, den ich mit der Tastatur schrieb, lautete: „To express yourself needs a reason but expressing yourself is the reason.” Dafür habe ich zwei Stunden gebraucht. Nach diesem Tag begann ich aber, täglich mehrere Stunden im Internet zu verbringen. Um meine eigenen Kommunikationsfähigkeiten zu verbessern, verschrieb ich mich dieser täglichen Aufgabe voll und ganz.

Viele Menschen finden Social Media nervig, verwirrend oder fordernd, weil es ein weiteres Ding ist, das man machen „muss“. Die Art, wie Sie sich mit Social Media auseinandersetzen, ist da sehr anders. Was repräsentiert Social Media für Sie?

Social Media nervt uns und lenkt uns auf gewisse Art und Weise ab, weil wir einen älteren Lebensstil gewohnt sind. Die Welt von heute ist eine andere. Man braucht nur vor seinem Computer zu sitzen und innerhalb weniger Minuten stößt man auf die großartigsten Ideen oder die beste Forschung zu jedem Themengebiet. Das widerspricht unseren alten Gewohnheiten, aber es gibt einfach nichts Besseres als das. Die Menschen sind nicht alle mit den gleichen Möglichkeiten auf die Welt gekommen und eine derartige Gelegenheit hatten wir noch nie zuvor. Die Technologie, vor allem, was Computer und das Internet angeht, hat mehr dazu beigetragen, faire Bedingungen für alle zu schaffen, als alles andere in diesem Bereich. Das war vor wenigen Jahrzehnten noch undenkbar.

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Finden Sie die sozialen Medien je ermüdend?

Ich kann gar nicht genug davon bekommen. Wenn ich Social Media benutze, vergeht die Zeit unglaublich schnell. Es ist, als würde man in einer anderen Realität leben, in der die Zeit in einer anderen Geschwindigkeit vergeht. Ich genieße diese Erfahrung voll und ganz. Es ist ein sehr hoher Geisteszustand, wie in der Philosophie des Zen Buddhismus: man hat kein Gefühl mehr für das eigene Selbst und vergisst die eigene Existenz.

Wir können die Texte von An Archive zwar nicht lesen, aber die Bedeutung des Werks ist in vielerlei Hinsicht universal verständlich. Haben Sie dennoch einen Tweet oder einen Bolgeintrag, den Sie besonders gerne mögen und den Sie uns hier zitieren können?

Ich habe zu viele Favoriten. Ich glaube, An Archive enthält mehr bedeutungsvolle Schriften, als Konfuzius oder Laozi je verfasst haben. Es ist sehr schade, dass wir immer noch die Sprachbarriere haben.

Solltest du in Australien sein, kannst du dir An Archive bis zum 26. Juli in der Art Gallery of NSW anschauen. Auf der Webseite erfährst du mehr über die Ausstellung—übrigens ermöglicht durch eine Kollaboration mit der Sherman Contemporary Art Foundation—und die anderen Arbeiten, zu denen auch Werke von Zhang Hua  und Yang Fudong gehören.