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So erlebten die Türken in Berlin die Putsch-Nacht

In Berlin lebt die größte türkische Gemeinde, außerhalb der Türkei selbst. Während der Putsch-Nacht wurde in Berlin-Wedding geschrien, gebangt und geweint.

Fotos: Nils Bröer

In den Spätis, Teestuben, Kneipen und Wettbüros des Berliner Bellermannstraßenkiez blicken die Menschen gebannt auf den Fernseher, um zu sehen, was in der Türkei passiert. Es gibt nur ein Thema: den Putschversuch. In Berlin leben rund 200.000 Menschen mit türkischem Migrationshintergrund. Damit ist Berlin die größte türkische Stadt weltweit, außerhalb des Landes selbst. In Berlin-Wedding leben besonders viele von ihnen. Sie alle wollen wissen, was die Nacht für die Zukunft des Landes bedeutet.

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Im Gemeindezentrum neben der Aksemseddin Moschee schwanken die Emotionen zwischen Euphorie, Angst, Wut und Trauer. Es ist gegen zwei Uhr morgens. Der Putschversuch läuft inzwischen seit vier Stunden. Sechs Männer sitzen hier und schauen auf den Fernseher. Dort: Zivilisten auf einer Brücke, die aus einem Helikopter beschossen werden. Passanten tragen einen blutenden Mann weg.

Der 32-Jährige Murat Kaçmaz springt im Gemeindezentrum auf und schreit: "Das könnt ihr Mutterficker doch nicht machen." Er beginnt zu weinen, läuft von einem Ende des Raums zum anderen und versucht sich zu fangen. Seine Tränen sind ihm peinlich. Er versichert, dass er sonst nie weint, aber dass das hier eine Ausnahmesituation sei: "Meine Freunde und meine Familie sind in Istanbul. Wäre ich dort, ich wäre jetzt mit ihnen auf der Straße. Ich will nicht das Menschen sterben."

Murat Kaçmaz (links) und der Autor in Berlin-Wedding

Kaçmaz zog vor zwei Jahren wegen seiner deutschen Frau nach Berlin und hat mit ihr ein Kind. Er wohnt in der Nähe der Moschee. Als er von dem Putsch hörte, nahm er sich sofort ein Taxi, um vor die türkische Botschaft zu fahren: "Wir gehörten zu den ersten Menschen dort. Später wurde es dann voll. Niemand will diesen Putsch." Für ihn war es keine Frage, dass er etwas unternehmen muss. Er will, dass seine Kinder in einer Welt aufwachsen, in der sie sich in Deutschland und der Türkei wohlfühlen können.

Auf dem Fernsehbildschirm erscheint ein Skype-Video von Recep Erdoğan. Er fordert die Menschen auf, gegen den Putsch auf die Straße zu gehen und versichert, er sei der gewählte Präsident des Landes. Kaçmaz sagt: "Man kann ihn mögen oder nicht, aber er hat die Wahlen gewonnen. Die Türkei darf doch nicht in einer Militärdiktatur enden wie Ägypten."

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Neben ihm sitzt der 46- Jährige Icabi Karakaşoğlu. Auf dem Fernsehbildschirm Szenen, wie Polizei und Zivilisten die Kontrolle über das staatliche Fernsehen zurückgewinnen. Karakaşoğlu beginnt euphorisch seine Türkeiflagge zu schwenken, als Bürger und Polizisten die Kontrolle über das Staatsfernsehen zurückgewinnen. Er jubelt: "Ja. Das Volk hat die Kontrolle übernommen. Das ist echte Demokratie"

Für den 46-jährigen Icabi Karakaşoğlu war es eine lange Nacht: Wie geht es weiter in der Türkei?

Nicht nur im Gemeindezentrum der Aksemseddin Moschee beobachten die Menschen bis ins Morgengrauen, wie sich die Situation in der Türkei entwickelt. Auch in Wettbüros rund um die Bellermannstraße gibt es nur ein Thema.

Der 23-jährige Batu sitzt in einem dieser Wettbüros, zieht an seiner Schischa und isst Chips. Er hält per Telefon Kontakt mit seiner Familie in Istanbul. Er spricht mit seiner Cousine. Sie sagt: „Die Plätze sind voller Menschen. Alle versuchen panisch, ihr Geld abzuheben. Es ist absolutes Chaos." Batu hört gebannt zu. Eigentlich wollte er bald mit seinen Eltern in die Türkei reisen, aber das scheint auf einmal gefährlich „Sie haben eine Ausgangssperre verhängt. Das Militär schießt auf die Menschen. Unter diesen Bedingungen können wir bestimmt nicht in die Türkei reisen."

Im Späti. Trotz Live-Stream: "Niemand weiß, was wirklich passiert"

Kritik an Erdoğan kann er nachvollziehen, betont aber: „Er wurde demokratisch gewählt. Mit dem Putsch versuchen sie doch nur, die Türkei zu destabilisieren". Die jungen Männer in dem Wettbüro diskutieren, wer hinter dem Putsch steckt. Fethullah Gülen, Teile des Militärs, die US-Regierung? Wird Erdoğan Asyl in Deutschland beantragen? Manche äußern auch den Verdacht, der Putsch sei nur inszeniert, damit der Präsident seine Macht ausweiten kann. Batu Ö sagt: „Im Moment sind das alles Verschwörungstheorien. Niemand weiß, was da wirklich passiert."

Die Sportübertragungen interessieren niemanden mehr in dem Wettbüro. Selbst die Menschen an den Spielaumaten legen eine Pause ein, um zu diskutieren.

Unter ihnen ist auch Salin, ein Kurde aus einem Dorf nahe Diyarbakir. Er steht der linken kurdischen HDP nahe und ist kein Freund der amtierenden türkischen Regierung. Als auf dem Bildschirm das Skype-Video von Erdoğan erscheint, sagt er: „Er ist fertig. Das war es für ihn."

Salin (links) und Batu. "Wir alle wollen keinen Krieg."

Glücklich ist er aber trotzdem nicht: „Einen Militär-Putsch will niemand in der Türkei. Wenn es so weitergeht, gibt es einen Bürgerkrieg". Salin und Batu blicken gemeinsam auf den Fernseher und stützen sich gegenseitig mit den Armen. Batu sagt: „Ich bin Türke und er ist Kurde. Wir alle wollen keinen Krieg. Wir wollen eine normale Türkei."