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Polyamorie, MDMA-Therapie und ehrbarer Inzest: Ein Gespräch mit dem Schweizer Sex-Guru Samuel Widmer

Samuel Widmer von der Kirschblütengemeinschaft erklärt mir, wie ich Tantra-Meisterin werde, was ehrbarer Inzest ist und wieso man psychische Probleme am besten mit MDMA und LSD behandelt.
Foto: Sascha Britsko

Nicht zum ersten Mal steht der Schweizer Sex-Guru Samuel Widmer im Kreuzfeuer der Presse. Ob mit der Heilung durch Liebe, illegalen Drogentherapien oder einem polygamen Lebensstil: Samuel Widmer erregt mit seiner alternativen Lebensweise immer wieder Aufmerksamkeit.

Doch nicht nur deswegen scheint er ein Medienmagnet zu sein. Widmer gilt ebenfalls als Gründer der in Solothurn und Umgebung beheimateten Kirschblütengemeinschaft. Bekannt für ihre tantrisch angehauchte Lebenseinstellung wird diese Gemeinschaft von Aussteigern unter anderem auch als Sekte angesehen, die Widmer gleich einem Messias verehrt.

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Ich habe den psycholytischen Drogenheiler in seiner Praxis in Lüsslingen besucht und mir von ihm erklären lassen, was ehrbarer Inzest ist, wie ich Tantra-Meisterin werde und wieso MDMA und LSD die scheinbar besten Therapien sind:

VICE: Herr Widmer, was haben alle Kirschblüter gemeinsam?
Samuel Widmer: Der gemeinsame Wunsch ist die Möglichkeit, in einer anderen Gemeinschaftsform zusammenzuleben als der vorherrschenden. Wir wollen keine veralteten Strukturen unserer Eltern übernehmen, sondern selber herausfinden, wie wir leben wollen. Sei es in Bezug auf die Beziehung, den Besitz oder die Sexualität.

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Können Sie das an konkreten Beispielen erläutern?
Innerhalb der Gemeinschaft nimmt man einander alltägliche Arbeiten ab. Beispielsweise kocht jemand aus einer Wohngemeinschaft für alle. Das nächste Mal kocht jemand aus einem anderen Haus.
Ein weiteres Thema, welches mit der Zeit immer stärker zur Sprache kam, war die Beziehung. Der Mensch geht Beziehungen ein, streitet oder langweilt sich und trennt sich schliesslich. Das klassische Prinzip der Monogamie. Somit kam die Frage auf, ob man das nicht anders gestalten könnte. Dass man von Anfang an mehr sexuelle Freiheiten zulässt oder auch mehrere Beziehungen eingeht. Zu meiner Überraschung ist das Interesse an diesem Aspekt unserer Gemeinschaft nach wie vor sehr gross.

Und konnten sich diese Ansätze durchsetzen?
Bezüglich Sexualität und Beziehung konnte sich sehr viel durchsetzen. Es gibt jedoch kein festes Muster, welches auf alle Paare zutrifft. Es haben sich viele Mehrfachbeziehungen oder Patchworkbeziehungsgeflechte gebildet, bei denen die Leute über den Gartenzaun hinweg ungewöhnlich miteinander intim werden. Da solche Verbindungen aber viel Angst um den eigenen Partner machen können, hat sich bei uns die „Kultur der Liebesnächte" etabliert. Man trifft zwar andere Partner für eine Liebesnacht, wird aber danach zu seinem ursprünglichen Partner zurückkehren. Diese Erfahrung soll als eine Bereicherung für das eigene Leben dienen.

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Sie haben die erste tantrische Universität der Schweiz gegründet. Wie kann man sich das vorstellen?
Die genaue Bezeichnung ist therapeutisch-tantrisch-spirituelle Universität. Es ist eine Struktur, unter der sich Menschen versammeln, die sich hier zugehörig fühlen. Es gibt keine Statuten oder Ähnliches. In diesem Sinn ist es eine sehr tantrische Angelegenheit. Wir haben natürlich auch Ausbildungen, die wir anbieten. Die Schüler müssen Seminare besuchen und Prüfungen ablegen und bekommen am Schluss auch ein Diplom. Zwar ist dieses Diplom nicht allgemein anerkannt, jedoch ist es möglich, innerhalb der psycholytischen Gemeinschaft damit zu assistieren.

Welche Ausbildungen bieten Sie denn an und welche Jobaussichten hat man danach?
Es gibt eine psycholytische Ausbildung. Danach ist man berechtigt, in einem psycholytischen Prozess, also einer psychotherapeutischen Behandlung mit Hilfe bewusstseinserweiternder Drogen, assistieren zu dürfen. Die meisten machen diese Ausbildung aber mit der Idee, in einer geschlossenen Gruppe selber die Erfahrung einer psycholytischen Behandlung machen zu können.

Der zweite Lehrgang, den wir anbieten, ist die Ausbildung zum Tantra-Meister. Als solcher kann man unser während 30 Jahren erworbenes Tantra-Wissen weitergeben, zum Beispiel indem man selber Seminare anbietet. Neben diesen zwei Hauptausbildungen bieten wir noch eine Menge Seminarreihen und Weiterbildungen an. Momentan besteht die Möglichkeit eine „Erleuchtungsschule" oder einer „Verliebtheitsschule" zu besuchen. Das sind zwar auch alles eine Art Ausbildungen, diese werden jedoch nicht diplomiert.

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Wie viele Menschen studieren hier?
Aktuell gehen bei uns 200 bis 500 Studenten ein und aus. Weltweit zählen wir aber sehr viel mehr Interessenten. Wir haben Ableger in der Türkei und in Indien. In Deutschland wächst die Bewegung ebenfalls stetig. Tagesanzeiger-Reporter Hugo Stamm sagte einst etwas von 2'500 Anhängern, in der Tat sind es aber weitaus mehr.

Sie hatten früher eine Spezialbewilligung, um Psychotherapien mit Hilfe von bewusstseinserweiternden Drogen durchzuführen. Hat es funktioniert?
Schon bevor man diese Versuche durchgeführt hat, kannte man die Wirkung der Psycholytika. Vor allem LSD war zu diesen Zeiten bereits sehr gut erforscht, rutschte aber durch die Hippie-Bewegung in ein schlechtes Licht und wurde auf die Liste der Betäubungsmittel gesetzt. Dadurch starb die Forschung auf diesem Gebiet quasi ab. Als wir schliesslich wieder anfingen Studien mit Psycholytischer Psychotherapie durchzuführen, waren die Zahlen sehr vielversprechend.

Hier therapiert Samuel Widmer

Würden Sie auch weiterhin damit therapieren?
Auf jeden Fall. Das war von Anfang an mein Dilemma. Ich habe selbst eine Therapie mit LSD und MDMA machen können. Als ich in diesen Beruf einstieg, habe ich gemerkt, dass alle anderen Methoden sehr viel weniger Wirkung zeigen. Viele Methoden lassen sich aber mit der psycholytischen Methode kombinieren.

Als Arzt untersteht man ja einer Art hippokratischem Eid: Man will nur das Beste für seinen Patienten. Und das ist die beste Methode, um an unbewusst verschüttetes Material in den Menschen heranzukommen. Leider sind die Bedingungen, um mit Psycholytika arbeiten zu dürfen, seit 1993 dermassen hochgeschraubt, dass es uns nicht mehr möglich ist, damit zu praktizieren. Viele Ärzte und Psychotherapeuten stehen aber nach wie vor hinter diesen Behandlungen und würden die Substanzen auch gerne wieder als Hilfsmittel gebrauchen dürfen.

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Gibt es einen Unterschied zwischen der Behandlung mit LSD und derjenigen mit MDMA?
Das sind natürlich die „Lieblingssubstanzen" der psycholytisch arbeitenden Therapeuten. Es gibt aber viele andere Mittel, legale und illegale, die ebenfalls eingesetzt werden können. MDMA wirkt vor allem im Beziehungsbereich. Wenn jemand Beziehungsprobleme hat, sei es mit den Eltern oder dem eigenen Partner, ist das das Mittel der Wahl. LSD wirkt besser im Bereich der Selbsterkenntnis. Was ist mit mir los? Wieso bin ich so, wie ich bin? Es wirkt auch gut gegen Depressionen, weil es einem hilft, sich selbst zu verstehen.

Foto: Binary Koala | Flickr | CC BY-SA 2.0

Kommen wir nun zu einem anderen Thema. Sie haben den Begriff „ehrbarer Inzest" definiert. Was bedeutet das genau?
Das ist etwas, was sehr missverstanden worden ist und einen Aufschrei in den Medien auslöste. Ich hatte immer wieder Patientinnen in der Therapie, die über ihre Vaterprobleme klagten. Das Muster war stets ungefähr dasselbe: Sie hatten als Kind eine gute Beziehung zu ihrem Vater, aber mit etwa zwölf Jahren änderte sich dies. Der Vater fing an, sich zu distanzieren, sich zu entfremden.
Wenn man das genauer betrachtet, fing es immer in dem Alter an, in dem aus einem Mädchen eine Frau wurde. Weil der Vater nicht wusste, wie er damit umgehen soll, entschied er sich dafür, sich zu distanzieren. Er wollte keinen engeren Kontakt zwischen sich und seiner Tochter zulassen, damit die Möglichkeit auf einen sexuellen Übergriff nicht entstehen kann. Er verhielt sich ehrbar. Meine Aussage über die Erfahrungen dieser Frauen war, dass sie, obwohl Sie eben nicht missbraucht wurden, durch die Zurückweisung ihres „ehrbaren" Vaters mindestens genauso schwer belastet wurden, wie diejenigen, die missbraucht wurden. Deshalb "ehrbarer Inzest".

Wie kamen Sie darauf, diesen Begriff zu definieren?
Als wir 1993 die Bewilligung für die Therapie nicht mehr aufrechterhalten konnten, wollte ich mich einer neuen Aufgabe widmen. Sexualität und Beziehungen sind allgegenwärtige Themen in der Psychotherapie, weswegen ich mich auch entschieden habe in diesem Bereich weiterzuforschen. Da stiess ich auf diese Inzestproblematik.

Vielen Dank Herr Widmer, irgendwelche Worte zum Schluss?
Ja. Mir ist aufgefallen, dass sich heutzutage vieles um die Psycholyse dreht. Die meisten versuchen aber mit deren Hilfe nicht mehr etwas zu verändern, sondern die Symptome, die bereits vorhanden sind, zu hemmen. Ich finde wir sollten nicht vergessen, um was es uns am Anfang gegangen ist. Um Gesellschaftsveränderung. Um Bewusstseinserweiterung. Um die Liebe.

Sascha findet auch, dass wir viel zu oft die Liebe vergessen: @saschulius

Vice Schweiz hat aber für alle Liebe übrig: @ViceSwitzerland