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Cop Watch

Warum stehen österreichische Polizisten fast nie vor Gericht?

Letztes Jahr stand in Österreich genau ein Polizist vor Gericht—und das bei 670 Ermittlungsverfahren. Wir sind auf ein paar Zahlen und einige Hürden gestoßen.
Grafik von VICE Media

Österreichische Polizeiarbeit polarisiert. Das eine Lager schreit lauthals „ACAB", während die Vertreter des anderen Lagers mal sehen wollen, wie du zurecht kommst, wenn die Polizei plötzlich nicht mehr da ist. Beide Positionen haben ihre Gründe—und wie immer findet man die Wahrheit irgendwo dazwischen. Für viele Menschen ist die Polizei jedenfalls schon lange kein Freund und Helfer mehr.

Regelmäßige Ausschreitungen bei Demonstrationen, der überzogene Polizeieinsatz bei der Räumung der Pizzeria Anarchia und nicht zuletzt das Polizeigewalt-Video, dass VICE in Zusammenarbeit mit dem FALTER an die Öffentlichkeit gebracht hat, lassen viele Menschen an der (Wiener) Polizei und ihren Maßnahmen zweifeln. Die Polizisten, die einen mutmaßlichen Taschendieb in Handfesseln auf den Boden geknallt haben, logen im Protokoll über die Verletzungen des Opfers. Die Wiener Polizei ließ daraufhin über Twitter verlauten, dass die Beamten in den Innendienst versetzt wurden.

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Die Vermutung, dass die Polizei und ihre Angestellten nie die Konsequenzen ihres Handeln tragen müssen, drängt sich nach diesem Fall fast auf. Um herauszufinden, ob diese Annahme der Realität entspricht, habe ich angefangen zu recherchieren—und bin erst mal auf ein undurchsichtiges Netz an Zahlen gestoßen.

Jedes Jahr gibt das Bundesministerium für Inneres zusammen mit dem Bundesministerium für Justiz einen Sicherheitsbericht heraus. Der Teil des BMJ von 2014 umfasst 230 Seiten voll mit Statistiken über Suchtmitteldelikte, inhaftierte Frauen und vorbestrafte Jugendliche. Auf Seite 195 werde ich fündig. Laut dieser Statistik hat die Staatsanwaltschaft 2014 ganze 670 Fälle von „Misshandlungsvorwürfe[n] gegen Organe der Sicherheitsbehörden und ähnliche Verdachtsfälle" bearbeitet.

Screenshot aus dem Sicherheitsbericht 2014

„Organe der Sicherheitsbehörde" sind laut Auskunft des BMJ alle Polizeibeamtinnen und -beamten im Innen- und Außendienst. Angeblich hat das BMJ keinen Zugriff auf aufgeschlüsselte Daten, die zeigen, in welcher Situation die mutmaßlichen Misshandlungen stattgefunden haben sollen. Um herauszufinden, um welche Delikte es sich handelt, müsste „in jeden einzelnen Akt Einsicht genommen werden", heißt es von der Pressestelle. In der Regel soll es sich um Körperverletzungsdelikte handeln. Konkrete Zahlen erfahre ich aber auch nach mehrmaligem Nachfragen nicht.

2014 gab es 670 Verfahren gegen die „Organe"; 622 wurden eingestellt. Die Pressestelle des BMJ erklärt mir das folgendermaßen: Der Staatsanwaltschaft werden alle Fälle gemeldet, in denen ein Misshandlungsverdacht besteht, auch wenn die betroffene Person selbst keine Anzeige erstattet. „Da kann es um ganz banale Dinge gehen, wie beispielsweise eine Rötung, nachdem Handschellen angelegt wurden", erklärt mir die Pressebeauftragte. Weil die meisten Fälle in diese Kategorie fallen, würden auch so viele Verfahren eingestellt werden, heißt es.

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In der Tabelle findet sich auch die Begründung für die Einstellung der Verfahren. Bei allen handelt es sich um den Paragraphen 190 der Strafprozessordnung. Dieser besagt, dass ein Ermittlungsverfahren eingestellt wird, wenn die Tat nicht mit einer gerichtlichen Strafe bedroht ist oder „kein tatsächlicher Grund" für eine weitere Verfolgung des Beschuldigten besteht. So werden 92,8 Prozent der Verfahren eingestellt. Zusätzlich kam es zu einer Anklage, einem Schuldspruch und einem Freispruch.

Wenn ihr kein „Organ der Sicherheitsbehörde" seid, hattet ihr im Jahr 2011 immerhin eine 59,8 prozentige Chance, dass euer Verfahren eingestellt wird. Das ist schon ein enormer Unterschied.

Das Rechtsinfokollektiv rät, sich eine Anzeige gegen die Polizei gründlichst zu überlegen. Es komme im Gegenzug häufig zu Anzeigen wegen der „Behauptung von Misshandlungsvorwürfen durch Organe der Sicherheitsbehörden". Im Jahr 2015 gab es nur 25 solcher Anzeigen wegen Verleumdung. Immerhin bei 11 Fällen kam es allerdings im Weiteren auch zu einer Klage und zu 6 Schuldsprüchen. Das bedeutet, dass 44 Prozent der Verfahren zu einem Prozess führen—im Gegensatz zu 0,15 Prozent, wie es bei den Verfahren gegen die Polizei der Fall ist. Natürlich sind die Zahlen schwer zu vergleichen, da die Samples extrem unterschiedlich groß sind. Trotzdem veranschaulichen sie den Rat des Rechtsinfokollektivs, sich eine Anzeige gegen die Polizei genau zu überlegen, ganz gut.

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Wenn es dann doch zu einem Verfahren kommt, ermittelt die Polizei in Österreich gegen ihre eigenen Angestellten. Im Sicherheitsbericht wird darauf hingewiesen, dass lediglich „Organe" ermitteln, die als „nicht befangen" gelten.

Dieses System ist höchst umstritten und wird sowohl von Amnesty International, als auch von dem Menschenrechtskommisar Thomas Hammarberg kritisiert. Sie fordern eine unabhängige Stelle, die sich um die Beschwerden gegen die Polizei kümmert, um Vertuschungen und Interessenskonflikte zu vermeiden. Großbritannien geht da mit einem guten Beispiel voran: Ihre Independent Police Complain Comission IPCC ist kein Teil der Polizei und arbeitet komplett unabhängig, um faire Ermittlungen zu garantieren.

Polizeipressesprecher Roman Hahslinger will sich da nicht einmischen. „Das ist eine politische Entscheidung", sagt er und scherzt: „Da sind wir befangen". Befangenheit ist im Beamten-Dienstrechtsgesetz definiert, lässt aber viel Spielraum bei der Interpretation. Außerdem kann offiziell nur die Person selbst entscheiden, ob sie befangen ist oder nicht. Das wiederum lässt Spielraum für Amtsmissbrauch.

An dieser Stelle sollte wahrscheinlich ein Fazit stehen, aber das Zahlen-Wirrwarr macht es mir fast unmöglich, zu einem Ergebnis zu kommen. Ich weiß jetzt, dass unglaublich viele Ermittlungsverfahren fallengelassen werden. Das wird damit begründet, dass auch die leichtesten Verletzungen in die Statistik fallen, die logischerweise keine strafrechtlichen Konsequenzen nach sich ziehen.

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Allerdings gibt es (zumindest für mich) keine Möglichkeit nachzuprüfen, wegen welchen Delikten die Ermittlungsverfahren überhaupt eingeleitet werden. Das BMJ hat mir dazu keine Auskunft gegeben. Es könnte sich bei über 600 Fällen um minimale Körperverletzungsdelikte handeln. Genauso gut könnten aber die Hälfte der Vorwürfe wegen schwerer Körperverletzung oder Vergewaltigung sein.

Was Aussagen zu der Statistik angeht, muss ich mich auf die Pressestelle des BMJ verlassen. Angeblich, so wird mir dort erzählt, können die Daten nicht nach Delikten gebündelt und sortiert werden. Dadurch lassen sich statistisch auch keine Schlüsse auf die Zusammensetzung der Delikte ziehen. Das ist nicht nur eine Hürde, die ich bei der Recherche dieses Textes nicht überwinden kann.

Die Polizei und das Bundesministerium können demnach—angeblich—nicht ablesen, welche strukturellen Probleme sie in der Sicherheitsbehörde haben. Polizeigewalt und Amtsmissbrauch sind gleichzeitig Themen, die viel diskutiert und aktuell sind. Wenn diese Daten tatsächlich nicht erhoben werden, ist es zumindest ein Versäumnis. Wenn diese Daten eigentlich erhoben, aber Medien nicht zugänglich gemacht werden, ist es zumindest medientechnisch schwierig.

So oder so verbaut sich das BMJ damit jedenfalls die Chance, zu zeigen, dass die Verfahren gegen die Polizei fair sind und nichts vertuscht wird. Weil die Daten aber so intransparent sind, sind sie auch schwer zu glauben.


Lisa auf Twitter: @lisawoelfl