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Vice Blog

"Die Welt ist ziemlich kitschig und vulgär": Martin Parr im Interview

Der Magnum-Fotograf über Sex, Klischees und Österreichs Politik.
Bild: Elsa Okazaki

Foto: Elsa Okazaki | Facebook

Martin Parr und Wien passen wunderbar zusammen. Das Kunst Haus Wien hat ihn wohl darum eingeladen, eine Fotoserie dazu zu machen, die aktuell im Rahmen einer Retrospektive zu sehen ist. Man kann sich gut vorstellen, wie der britische Fotograf in seiner grellen Manier bei Aida klebrige Punschkrapfen und schrullige Kaffeehausgeher ablichtet- ein bisschen Sozialporno. In der Loge von Richard Lugner beim Opernball gäbe es ebenfalls Motive genug und bei der Hofer-Veranstaltung im Prater, kurz nach der Stichwahl, hätte Parr seine helle Freude gehabt. Auch in Wiens Nobelbezirken, in Döbling, in der kreuzkonservativen Josefstadt oder im hippen Siebten wäre er fündig geworden. Er liebt klassenunabhängig alle Klischees; die sind nämlich besonders fotogen, wie er selbst sagt.

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Man weiß nicht so recht, wie und wo man Martin Parr einordnen soll. Er ist einer der erfolgreichsten und bekanntesten zeitgenössischen Fotografen und hat in seinem Leben schon so viele Interviews gegeben, dass sie längst lästige Routine geworden sind. Als Schutzschild gegen die immer gleichen Fragen hat er sich immer gleiche Antworten zurechtgelegt—vielleicht auch aus Trotz gegen den dauernden Vorwurf der sozialen Ausbeutung, der seine Karriere fast von Anfang an überschattet hat.

Wenn man Martin Parr gegenübersitzt, wird schnell klar, dass man es mit einem reflektierten, politisch denkenden Menschen zu tun hat, aber auch einem engagierten Fotografen, der gerne unterhält. Ein Gegensatz, der fester Bestandteil unserer Generation ist. Parr ist mittlerweile Präsident von Magnum, der berühmten Fotoagentur, die ihn anfangs um Haaresbreite nicht aufgenommen hätte, weil sich die Mitglieder an seinem ironischen Stil gestoßen haben. Er fördert heute zahlreiche junge Talente, kuratiert Ausstellungen und gibt eine Publikation nach der anderen heraus. Nebenbei ist er unermüdlicher Sammler diverser Fotobücher, kitschiger Utensilien und vor allem von Fotomotiven, die in ihrer bunten Banalität Zeugnisse unserer Zeit sind.

VICE: Als ich zum ersten Mal gehört habe, dass du nach Wien kommst, dachte ich sofort: "Match made in heaven!" Wie hast du Wien wahrgenommen?
Martin Parr: Es ist sehr altmodisch. Ich meine, es gibt auch ein jüngeres Element. Zum Glück war ich beim Rosenball, der eine Alternative zu den konventionellen Bällen war, die ich sonst besucht habe, wo alles so konservativ und festgefahren war, unfähig sich zu ändern. Es ist ein interessanter Mix und alle Klischees sind wahr. Darum werden Klischees auch zu dem, was sie sind—alle diese Dinge habe ich in meiner Arbeit unterstrichen.

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Aber du hast von dem großen politischen Drama gehört, mit dem wir uns gerade herumgeschlagen haben?
Natürlich habe ich davon gehört. Gottseidank habt ihr keinen rechten Präsidenten bekommen, dank der Briefwahlstimmen. Es war sehr knapp! Das muss besorgniserregend sein für euch, in einem Land zu leben, wo 50 Prozent der Wähler für einen bigotten Rechten stimmen. Wie ist die Regierung gerade aufgebaut? Mitte-rechts?

Nein, sozialdemokratisch-konservativ.
Ihr seid also eine schizophrene Gesellschaft?

Ja, und ich dachte auch, wenn du hier herkommst, wirst du dich fotografisch damit auseinandersetzen.
Ich wüsste gar nicht, wo ich da anfangen sollte. Dazu müsste ich die Sprache sprechen, lesen, was gerade passiert, um zu verstehen, was vor sich geht.

Machst du deine besten Fotos darum in Großbritannien?
Es ist der Ort, den ich am meisten fotografiert habe, darum würde ich ja sagen. Mengenmäßig habe ich dort mehr gemacht, als irgendwo anders und ich kenne es sehr gut. Österreich ist aber auch ein guter Ort, um Fotos zu machen, denn Klischees sind sehr fotogen.

Hat dir in Wien jemand gesagt, wo du hingehen sollst oder weißt du normalerweise intuitiv, welche Sachen du fotografieren willst?
Generell habe ich eine gute Vorstellung davon, wo ich anfangen muss. Ich habe mir das im Großen und Ganzen selbst ausgedacht. Davor habe ich jemanden konsultiert und dann gesagt, dass ich für die Ballsaison zurückkommen muss und die haben das dann für mich eingerichtet. Eigentlich wollte ich zum Opernball, aber ich wurde nicht reingelassen. Dort meinten sie, dass sie dieses Jahr genug Künstler haben.

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Bist du eine politische Person?
Ja, ich bin klassisch links. Es gibt unter Journalisten und Dokumentarfotografen keine Rechten, das ist praktisch unmöglich.

Du bist aber auf der anderen Seite sehr offen für Kommerz.
Ich mag die Promiskuität der Fotografie und ihre Demokratie, was eben auch kommerziell ausgeschöpft werden kann. Ich habe damit kein Problem. Ich mache Werbung, prostituiere mich und werde sehr gut bezahlt. Wir leben in einer gefährlichen Welt und die Umwelt ist besorgniserregend, aber wenn du zu depressiv bist, machst du am Ende nichts. Generell habe ich einen fröhlichen Charakter.

Im Pressetext zu deiner Ausstellung im Kunst Haus Wien ist VICE als Medium genannt, das du stark beeinflusst haben sollst. Siehst du das auch so?
Nein, gar nicht. Und wenn ich es habe, ist es eine Neuigkeit für mich. Aber ich mag das Magazin. Fotografie kommt darin gut zum Einsatz. Außerdem ist es kostenlos—man kann es aber nie bekommen, das ist ein Problem. Jetzt ist VICE eine riesige Marke geworden. Man könnte argumentieren, dass damit immer eine Verwässerung der Prinzipien verbunden ist. Aber wenn du das Magazin dann siehst, ist es interessant, mit guter Fotografie. Ich befürworte es, als willkommene Gegenstimme zu den Drecksmagazinen, die täglich präsentiert werden. Die farbigen Beilagen zu den Zeitungen am Wochenende waren mal so gut und sind nun ein erbärmlicher Schatten ihrer selbst. Jetzt ist das alles Lifestyle und Rezepte. Langweilig! Die Magazinwelt ist zusammengebrochen, weil es kein Geld mehr in der Werbung gibt.

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Ich hatte ja eigentlich Bedenken, mit dir zu sprechen, weil du schon so viele Male interviewt wurdest und dir die gleichen Fragen immer und immer wieder gestellt werden. Welche Fragen machen dich besonders wahnsinnig?
Es sind weniger die Fragen selbst, sondern die Faulheit der Interviewer. Sie sagen: "Ich habe in einem Interview gelesen, dass du das oder das gesagt hast …" Das finde ich so langweilig. Alles was sie also getan haben, war: im Internet andere Interviews zu lesen und sie dann wiederzukäuen.

Hast du jemals daran gedacht, deinen Stil oder Themenkreis für Magnum zum Beispiel zu verändern, weil dir die Aufnahme in diesen Kreis dann leichter gefallen wäre?
Nein, gar nicht! Obwohl es sehr vielen missfallen hat, war es ultimativ genau diese meine Arbeit, die mich reingebracht hat. Warum sollte ich das dann ändern? Bei Magnum geht es ja vor allem darum, dass Leute das machen, was sie wollen, im Rahmen einer Organisation, die diese Arbeit unterstützen und ermöglichen kann.

Dann musst du aber selbstsicher sein und an deine eigene Arbeit glauben. Du bist ja auch kein Kriegsfotograf geworden.
Nein, natürlich nicht. Wir haben nicht nur Kriegsfotografen, sondern eine Bandbreite von Fotografen, im Gegensatz zu vielen anderen Agenturen, von sehr künstlerischen Kalibern bis hin zu den Hardcore-Journalisten. Dieser bunte Mix ist eine unserer großen Stärken. Ich bin zu Magnum gegangen, weil ich die Organisation respektiere und die Tatsache, dass wir von Fotografen geführt werden. Es gefällt mir auch, dass es so schwer ist, reinzukommen. Es ist eine Eliteorganisation und nichts ist so schwer, wie an Peer-Review vorbeizukommen.

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Sex ist nicht meine Priorität. Ich bin glücklicher mit einem Kuchen, als mit einer Prostituierten.

Du sagst gerne, dass du mit deinen Bildern nicht lügst, aber du zeigst eine total überzogene Sicht. Was verbindest du mit den Begriffen "Kitsch" oder "Camp"?
Naja, die Welt ist ziemlich kitschig und vulgär. Wenn du also die Welt fotografierst, inkludierst du unumgänglich diese Dinge, die sehr bunt sind und ich fühle mich von grellen Farben aufrichtig angezogen. Es ist eine gute Art, um zu zeigen, wie die Gesellschaft ist. Ich kreiere Fiktion aus der Realität.

Und was heißt "Schönheit" für dich?
Ich schaue mir zum Beispiel eine schöne Landschaft in Schottland an, aber sie inspiriert mich nicht dazu, sie zu fotografieren, weil sie zu schön ist.

Wo ist der Sex in deiner Fotografie?
Man könnte argumentieren, dass manche Frauen in meinen Fotos Sexyness an den Tag legen. Ich vermeide es nicht, aber ich bemühe mich auch nicht darum, Sex zu finden. Meinst du, dass ich Martin-Parr-Pornografie machen sollte? Wäre das etwas, das VICE in Auftrag geben würde? Aber im Ernst: Ich habe schon einmal eine Serie im Rotlichtviertel in Amsterdam gemacht—Sex ist aber nicht meine Priorität, ich bin glücklicher mit einem Kuchen, als mit einer Prostituierten.

Was sind die idealen Arbeitsbedingungen für dich?
Wo alles schon vor dir ausgelegt ist. Zum Beispiel sind Events sehr gut und intensiv. Man hat die Erlaubnis, frei zu fotografieren. Bei den Bällen in Wien zum Beispiel sind so viele Kameras rundherum, dass die Leute erwarten, fotografiert zu werden—sie präsentieren sich. Das Problem dabei ist, dass sie dann natürlich posieren. Die Leute erwarten von mir, dass ich sie mit einem Champagnerglas in der Hand fotografieren soll, lächelnd. Ich muss dann sagen, dass es nicht das ist, was ich suche.

Du wirst aber auch oft fotografiert. Wie gehst du damit um?
Es macht mir nichts aus. Es wäre ja wohl verlogen, wenn ich das ablehnen würde. Ich habe kein Problem damit. Ich werde wirklich andauernd fotografiert. Es ist etwas, dass ich tun muss. Ein berufsbedingtes Risiko sozusagen.

Ausstellung: Martin Parr – A Photographic Journey
Kunst Haus Wien, Untere Weißgerberstraße 13, 1030 Wien
Laufzeit: 3. Juni bis 2. November 2016