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Wahlen 2015

Wir dürfen die Schweiz nicht diesen Menschenfeinden überlassen

Und auch nicht den Menschen, die diese im National- und Ständerat vertreten.

Screenshot von blick.ch

Ich will nicht mehr wütend sein. Wut raubt einem Energie, die man für nebensächliche Dinge wie Arbeit oder Studium gut gebrauchen könnte und sie lenkt die Gedanken in seltsame Richtungen. Und doch weiss ich, dass mir voraussichtlich keine andere Wahl bleibt, als wütend zu sein.

Vor kurzem sass ich mit meiner Mitbewohnerin am Esstisch unserer WG, wie wir das öfters tun. Wir sassen da und redeten über unbedeutende Dinge: Die Kochdauer von Sushi-Reis, den Alltag nach dem Studentendasein. Irgendwann geriet das Gespräch—aus welchen Gründen auch immer—auf die falsche Spur und wir fanden uns bei der Politik wieder.

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Meine Mitbewohnerin meinte, sie würde voraussichtlich nicht wählen gehen. Ihr Kanton sei politisch schon auf der richtigen Seite, da würde ihre Stimme schliesslich nichts mehr daran ändern. Und später: Sie verstehe sowieso nicht, wieso sich die Menschen in den Medien und der Politik immer aufregten und ständig zu allem eine Meinung haben müssten.

Ein paar Abende später flimmerte vor uns der Tatort über den für mein kleines Zimmer viel zu grossen Fernseher—eines dieser kleinen WG-Rituale. Der nach dem Absetzen von Wetten, dass..? einzig verbliebene TV-Kult handelte an jenem Abend von einem Flüchtling, der in einem von Tristesse und Fremdenfeindlichkeit bevölkerten Dorf in einer Polizeizelle verbrannt ist, nachdem er angezündet wurde. Eine Geschichte, die traurigerweise auf einem echten Fall basiert.

90 Minuten nach dem Tatort-Theme und nachdem wir zahlreiche theatralische Kamerafahrten überlebt hatten, stand fest: Der Täter war ein junger, von seiner Umwelt gezeichneter Polizist, der sich beweisen wollte. Einer, der von „Neger" spricht, wenn er Dunkelhäutige meint.

Meine Mitbewohnerin war schockiert. Wahrscheinlich von der dargestellten Brutalität, aber hoffentlich auch vom Fremdenhass. Sie machte, was man in so einer Situation macht: Fragen stellen.

Also erzählte ich ihr von der deutschen Kleinstadt Hoyerswerda, wo 1991 dutzende Flüchtlinge aus der Stadt geschafft werden mussten, um sie vor dem tobenden Mob aus besorgten Bürgern zu retten. Und davon, dass in den vergangenen Monaten wieder von Menschen gezündete Flammen ihren Weg in Flüchtlingsheime gefunden hätten. Dass es noch immer solche besorgte Bürger gebe, die ihren Frust an jenen abbauen, die am wenigsten dafür können.

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Sie antwortete mit etwas wie „aber das ist doch in Deutschland"—vermutlich um Abstand zu gewinnen zu dem, was Realität war, in ihrer Realität aber keinen Platz haben sollte.

Ich interpretierte das als Aufforderung weiterzuerzählen. Von dem, was keine 20 Kilometer von unserer WG entfernt, an der grünen Grenze zwischen den Dörfern im Aargau und den Dörfern in Zürich, passiert. Vom Millionär, der dort Präsident einer Gemeinde mit 2'213 Einwohnern ist und mit allen Mitteln verhindern will, dass er 8 Menschen mehr in der Einwohnerstatistik aufführen muss. Davon, dass er darum leerstehende Häuser abreissen lässt und dem Kanton mehr Strafgeld bezahlt, als ihr Job in drei Jahren auf ihr Konto spülen wird. Und dass ihm die Einwohner trotzdem bestätigend den Rücken stärken—und das nur, weil die 8 zusätzlichen Einwohner Flüchtlinge wären.

Auszug aus einem ARD-Interview

Wenn dieser Gemeindepräsident, der auch für den Nationalrat kandidiert, in Mikrofone spricht, berichtet er mit ruhiger Stimme vom vielen Zuspruch, den er bekomme. Er zeigt E-Mails von jungen Menschen, die sich wünschten, auch in ihrer Gemeinde einen solchen Präsidenten zu haben. Man sieht seiner Mimik den Stolz auf den Mut und die Vorbildfunktion, die ihm von seinen Fans zugesprochen wird, an.

Einige meiner Freunde raten, bei solchen Berichten nicht bis zum unteren Drittel der Nachrichten-Website zu scrollen. Die mindestens so dummen wie menschenverachtenden Kommentare, die sich dort scheinbar wie von selbst vermehren, zu ignorieren. Den digitalen Mob Mob sein zu lassen. Doch meistens schaffe ich das nicht—und vielfach möchte ich das auch gar nicht, weil ich noch immer nicht begreifen will, wie Menschen in der anonymen Öffentlichkeit zu solchen Monstern werden können.

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Und manchmal, da schaffen es auch meine Freunde nicht. Von Zeit zu Zeit drängen die Stimmen der Kommentarspalten nämlich in die breite Öffentlichkeit. Toben dort über Flüchtlinge, die alle Vergewaltiger seien, über eingebürgerte Ausländer, die keine „wahren Eidgenossen" seien und über Menschen, die sich weigern, zu solchen Menschenfeinden zu werden, wie sie es schon sind. Diese Fleisch gewordenen Menschenfeind-Kommentare machen mir Angst.

Facebook-Kommentar, Grafik von VICE Media

Nicht weil ich denke, dass sie in der Schweiz von heute in der Mehrheit sind—schliesslich weiss ich, dass Medien auf Sensationen stehen und extreme Menschen eher ihren geistigen Dünnpfiff in Kommentaren ablassen. Ich habe aber Angst davor, dass wir uns bald an solche Reaktionen gewöhnen. Dass wir es als normal ansehen werden, wenn Menschen egal ist, wieviele Flüchtlinge im Mittelmeer ersaufen—solange deren Leichen nur nicht vor ihrer Haustüre angeschwemmt werden. Dass wir akzeptieren, wenn Menschen anderen Menschen öffentlich den Tod wünschen.

So wie viele schon akzeptiert haben, dass die stärkste politische Kraft der Schweiz ihre Macht auf solchen Meinungen aufbaut. Und dass dieses—eher menschenverachtende, als politische—Konzept funktioniert. Warum sonst sollten andere, bislang als bürgerlich etablierte Parteien in das Gejammer vom ach so gefährlichen „Asylchaos" einstimmen?

Foto von Facebook

Irgendwie haben wir also schon verloren. Es werden immer mehr, denen solche Entwicklungen entweder egal sind oder die sie sogar toll finden. Doch erst, wenn auch du und ich akzeptieren, dass sich Menschen mit mehr Macht als du und ich je haben werden die Schweiz als abgeschottete Insel herbeisehnen. Sich wünschen, die Schweiz schicke Soldaten an die Grenzen, um die Eidgenossen vor Menschen, die kaum mehr als ihre Kleidung haben, zu schützen. Und gleichzeitig Menschen, die sich weigern, zu einem solchen Menschenfeind zu verkommen, als naive Gutmenschen abstempeln. Erst dann ist das im Grunde viel zu ernste Spiel zu Ende.

Ich will nicht mehr wütend sein. Und doch weiss ich: Wenn wir am Sonntag wieder fast jeden dritten Sitz im Parlament Menschen überlassen, die für so ziemlich alle Menschenfeinde der Kommentarspalten einstehen, bleibt mir nichts anderes übrig. Ausser dem Wissen, dass Wut immer auch einen Funken Hoffnung in sich trägt.

Sebastian auf Twitter: @nitesabes

VICE Schweiz auf Twitter: @ViceSwitzerland