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In Australien werden geistig behinderte Frauen ohne Einwilligung sterilisiert

Behindertenrechtler und die UN widersprechen zwar, doch viele australische Eltern bestehen darauf, die Praktik sei für ihre Töchter das Beste.

Foto: Joseph Scozzari | Wikimedia Commons

Vor ein paar Jahren kämpfte Sarahs Familie mit der Entscheidung, ob sie ihre geistig behinderte Enkelin sterilisieren lassen sollte. Im Alter von 13 hatte Karen nicht nur emotional mit ihrer Periode zu kämpfen, sondern war auch bereits Opfer sexueller Gewalt geworden. Die Familie wusste, dass Sarah sich nicht um das Kind würde kümmern können, falls noch ein Übergriff geschah und das Mädchen dabei schwanger würde.

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Sarahs Antwort auf die Frage nach den ethischen Problemen, die diese Entscheidung aufwirft, ist direkt: „Die Leute, die danach schreien, dass es verboten wird, sind nicht besonders gut informiert", sagt sie. „Die haben nicht erlebt, wie es in Wirklichkeit ist, sich um eine schwerbehinderte Person zu kümmern. Es ist verdammt harte Arbeit, und sie ist hart genug, ohne dass noch ein Baby mit im Spiel ist."

In Australien können Gerichtsbeschlüsse die Sterilisation von Frauen mit geistigen Behinderungen genehmigen, die selbst nicht dazu in der Lage sind einzuwilligen. Die Erlaubnis wird meist gegeben, wenn ein Elternteil oder eine sorgeberechtigte Person nachweisen kann, dass der Eingriff im besten Interesse der Frau oder des Mädchens ist. Das Prozedere ist alles andere als einfach; es muss zum Beispiel ein unabhängiger Vormund bestimmt werden, der die betroffene Frau vertritt. Wenn das Gericht den Beschluss fasst, darf die Sterilisation durch orale Kontrazeptiva, ein Hormonimplantat oder, in manchen Fällen, durch Hysterektomie vorgezogen werden.

Wenn du findest, dass das extrem klingt, dann bist du damit nicht alleine. Letztes Jahr kritisierte Human Rights Watch diese Praktik im australischen Kapitel ihres jährlichen Weltberichts. 2013 drängte der UN-Ausschuss zum Schutze der Rechte von Menschen mit Behinderungen die australische Regierung, sie zu verbieten. Aber trotz des öffentlichen Drucks durch Behindertenfürsprecher im In- und Ausland empfahl ein Senatsausschuss 2013 eine Reglementierung der Zwangssterilisation statt ihr Verbot. Die Frage nach dem besten Interesse ist bis heute ein umstrittenes Thema.

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Wie auch in Karens Fall nennen diejenigen, die sich um einen solchen Gerichtsbeschluss bemühen, häufig Menstruation und Schwangerschaftsprävention als Gründe. Für viele Mädchen und Frauen mit geistigen Behinderungen ist es im besten Fall unangenehm, ihre Periode zu bekommen—und im schlimmsten Fall schreckenerregend. Familien sehen den Eingriff manchmal als Möglichkeit, Trauma zu reduzieren und die Lebensqualität zu verbessern. Aber Kritiker dieser Praktik meinen, das Problem läge eher bei unserer Wahrnehmung von Frauen mit Behinderungen und ihren Körpern als bei deren eigener Fähigkeit, mit der Menstruation umzugehen.

„Es geht hier hauptsächlich darum, dass Leute ein Problem damit haben, wenn sich Menschen mit Behinderungen fortpflanzen, und wenn Menschen mit Behinderungen menstruieren und sich jemand um sie kümmern muss", sagt Christina Ryan von Advocacy for Inclusion, einer Interessengruppe für behinderte Menschen. Sie ist der Meinung, jegliche ungewollte körperliche Intervention—sei es durch Hysterektomie oder selbst durch die Pille—sei nicht nur ein Verstoß gegen internationales Menschenrecht, sondern auch ein Beweis dafür, dass die Stimmen der Pfleger und Pflegerinnen oft mehr Gehör finden als die Stimmen der Frauen selbst.

Aber sollte man die Stimmen der Pflegenden komplett ignorieren? In Australien sind schockierende 90 Prozent aller Frauen mit geistigen Behinderungen Opfer sexuellen Missbrauchs, und 68 Prozent davon erfahren Missbrauch, bevor sie das 18. Lebensjahr vollendet haben. Auch wenn Sterilisation keine Lösung für die schreckliche Allgegenwärtigkeit sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist, so ist sie eine Methode, etwas zu vermeiden, das manche Pfleger als ein Worst-Case-Szenario sehen.

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Rachel Siewert, Senatorin der grünen Partei Australian Greens, war 2013 Vorsitzende des Senatsausschusses und ist der Meinung, dass es eine Verfahrensweise geben muss, wenn eine Frau nicht in der Lage ist, die bereitgestellten Informationen zu verstehen. Auch wenn sie in den Ergebnissen der Untersuchung empfiehlt, dass die Prozedur in allen Fällen verboten werden sollte, in denen ein Individuum „die Fähigkeit besitzt einzuwilligen oder erwartet wird, dass sie diese Fähigkeit in Zukunft haben wird", so räumt sie dennoch ein, dass extreme, lebensbedrohliche Situationen ungewollte Interventionen nötig machen könnten. Aber nur, wenn diverse Schutzmaßnahmen feststehen.

Am Ende entschied sich Karens Familie gegen den Eingriff, weil sie sich von dem System abgeschreckt fühlte. „Ihren Eltern gefiel die Vorstellung nicht, dass ihr ein Vormund zugeteilt werden sollte", sagt Sarah. „Sie hätten bei der Entscheidung kein bisschen mitreden dürfen, außer, dass sie den Prozess in die Wege geleitet hätten." Jetzt kontrollieren sie das Problem mit Medikamenten, denn auch wenn die Pille von manchen als eine Form der Sterilisation eingestuft wird, so ist sie um einiges leichter zu bekommen.

Auch wenn sie den momentanen Prozess problematisch findet, teilt sie die Ansicht des Ausschusses von 2013, es handle sich dabei um ein Problem, das gerichtlicher Intervention bedarf. „Ich kann verstehen, warum sie diese Entscheidung rechtlich lieber den Eltern abnehmen und einem Gericht übergeben", sagt sie. „Leute können alle möglichen Gründe haben, warum sie etwas tun, und es kann sein, dass sie nicht die besten Absichten haben. Ich mag die Vorstellung nicht, dass man einfach bei einem Arzt aufkreuzen kann und sagen: ‚Hier, machen Sie das.'"

In Sarahs und Karens Fall könnte man argumentieren, dass die festgelegten Schutzmaßnahmen funktioniert haben, zumindest als Abschreckung. Ihre Familie fand andere Wege, mit ihrer Periode und ihrem Verhütungsbedarf umzugehen. Doch Fürsprecher sind noch immer der Meinung, dass die Option, eine geistig behinderte Frau zu sterilisieren, vollständig verboten werden sollte. Christina sagt abschließend: „Frauen mit Behinderungen menstruieren wie alle anderen Frauen auch, also müssen wir sie hier genauso unterstützen, wie wir Menschen dabei unterstützen zu duschen oder einkaufen zu gehen. Es ist nicht in Ordnung, so etwas zu tun, weil es für andere Leute leichter ist; diese Frauen haben Rechte." Egal, welche Meinung man zu diesem Thema hat, die Diskussion ist offensichtlich für alle Beteiligten eine schwierige.

*Einige Namen wurden geändert.