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Dieser Mann hat sein Bild bei Gurlitt wiedergefunden

Dr. Michael Hulton, ein kalifornischer Arzt, ist der Großneffe von einem der bekanntesten jüdischen Kunsthändler der Weimarer Republik, Alfred Flechtheim. In Cornelius Gurlitts Sammlung fand sich ein Werk aus Flechtheims Sammlung. Wir haben mit Hulton...

Alfred Flechtheim via

Wer in den letzten drei Wochen nicht im Koma lag oder anderweitig von jeder Außenwelt abgeschnitten war, weiß, dass in einer Münchner Wohnung 1280 Kunstwerke entdeckt worden sind, die mittlerweile als der größte Kunstfund im Nachkriegsdeutschland gelten. Ein ziemlich verschrobener, alter Mann namens Cornelius Gurlitt hat dort verschollen geglaubte Bilder von Picasso, Chagall, Beckmann, Dix und so ziemlich jedem anderen Namen, der mal im Kunstunterricht gefallen ist, über 40 Jahre lang gehortet. Die Werke werden auf circa 1 Milliarde Euro geschätzt.

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Das allein wäre bereits eine unglaubliche Story, aber dann hat sich auch noch herausgestellt, dass ein großer Teil der Werke wahrscheinlich Juden im dritten Reich geraubt oder abgepresst worden ist. Außerdem, dass Gurlitts Vater selbst eine jüdische Großmutter hatte und dass die Staatsanwaltschaft Augsburg den Fall fast zwei Jahre lang geheim gehalten hat.

Das stürzt die Öffentlichkeit, Verschwörungstheoretiker und jede Stammtischrunde in Grundsatzdiskussionen über die historische Verantwortung Deutschlands und die Natur des Rechtsstaats und die Frage, ob Gollum vielleicht doch keine fantastische Figur ist.

Bei der Diskussion, die jetzt darüber geführt wird, was mit dem Schatz geschehen soll, kommen hauptsächlich die Staatsanwaltschaft, Experten, Anwälte, Gurlitt und die Medien selbst zu Wort. Doch von den Menschen, denen die Kunst einmal gehört hat, bzw. ihren Nachfahren, hört man fast gar nichts—bisher sind kaum Erben befragt worden.

Dr. Michael Hulton, ein kalifornischer Arzt, ist der Großneffe eines der bekanntesten Kunsthändler der Weimarer Republik, Alfred Flechtheim. Der von den Nazis erst schikanierte und später enteignete Sammler und Mäzen floh 1933 aus Deutschland und starb 1937 mittellos in London. Doch in den letzten acht Jahren hat sich herausgestellt, dass seine vernichtet und verschollen geglaubte Sammlung in Einzelteilen wieder auftaucht. Auch in Cornelius Gurlitts Sammlung fand sich bereits eines der Werke. Ich habe mit Hulton gesprochen, um herauszufinden, wie er die Sensation erlebt und was er unternimmt, um die Bilder zurückzubekommen.

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Michael Hulton vor Bildern seines Großonkels, die die Pinakothek der Moderne nicht zurückgeben will

VICE: Wie haben Sie vom Kunstfund in München erfahren?
Michael Hulton: Vor ungefähr drei Wochen hat ein Freund mir einen BBC-Artikel geschickt. Da wussten wir sofort: Das ist unser alter Freund Gurlitt.

Ihr alter Freund? Bis vor drei Wochen wussten vielleicht fünf Menschen von seiner Existenz. Er war nirgendwo gemeldet und hat außer einem Schwager keine Familie auf der Welt. Woher kannten Sie ihn?
Im November 2011 stieß mein Anwalt, Markus Stöltzel, in einem Auktionskatalog des Kunsthauses Lempertz durch Zufall auf das Bild Der Löwenbändiger von Max Beckmann. Das ist ein Bild, das aus der Sammlung meines Großonkels, Alfred Flechtheim, stammt. Es galt nach dem Zweiten Weltkrieg als verschollen. Durch den Kontakt zum Auktionshaus stellte sich heraus, dass Cornelius Gurlitt der Verkäufer war.

Haben Sie das Bild von ihm zurückbekommen?
Nicht ganz. Wir haben einen Vertrag mit Lempertz und Gurlitt abgeschlossen und uns den Erlös des Verkaufs geteilt. Dabei hat Gurlitt de facto zugegeben, dass das Werk 1934 von seinem Vater gekauft worden war. Das ist natürlich ein vielsagendes Datum, denn jüdisches Eigentum, das nach 1933 den Besitzer gewechselt hat, steht immer unter dem Verdacht, geraubt oder abgepresst worden zu sein. Da Hildebrand Gurlitt, Cornelius’ Vater, für die Nazis sogenannte entartete Kunst gehandelt hat, ist es nicht unwahrscheinlich, dass das Bild aus einem solchen Zusammenhang stammt.

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Und haben Sie nicht vermutet, dass Gurlitt vielleicht noch mehr Bilder versteckt?
Ich bin ja nicht blöd! Das war natürlich mein allererster Gedanke. Aber Gurlitt hat alles abgeblockt und auch das Auktionshaus konnte nichts herausfinden. Deshalb haben wir uns danach weiter auf die Museen konzentriert, bei denen wir wissen, dass sie Kunstwerke besitzen, die einmal meinem Onkel gehört haben, und von denen wir meinen, dass sie unrechtmäßig verkauft wurden.

Welche Museen sind das?

Der Löwenbändiger von Max Beckmann, 1930

Zum Beispiel die Pinakothek der Moderne in München. Der Löwenbändiger ist nicht das einzige Bild, das Beckmann meinem Onkel gab. Alfred Flechtheim war Beckmanns Exklusiv-Galerist. Irgendwann musste er meinem Onkel 14 Bilder geben, um seine Schulden zu bezahlen. Eins davon ist der besagte Bändiger, sechs weitere hängen in München. Aber die Verantwortlichen weigern sich, mit uns zu sprechen. Sie behaupten, die Bilder seien 1932 verkauft worden und können daher keine Raubkunst sein. Aber wenn Cornelius Gurlitt zugeben kann, dass sein Beckmann erst 1934 erworben wurde, wieso können die Museen sich nicht an die Washingtoner Erklärung halten?

Was ist die Washingtoner Erklärung?
Das ist ein Abkommen von 1998, in dem 44 Staaten, darunter Deutschland und die USA, vereinbart haben, herauszufinden, wo es noch Raubkunst in öffentlichen Museen gibt, und bei etwaigen Funden eine sogenannte „gerechte und faire“ Lösung für die ursprünglichen Besitzer oder deren Nachfahren zu finden.

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Sie sind der letzte Nachfahre von Alfred Flechtheim, einem der bedeutendsten Kunsthändler des 20. Jahrhunderts. Erzählen Sie mir etwas von ihm.
Alfred Flechtheim war eine schillernde Persönlichkeit. Er hat die größten Künstler seiner Zeit gesammelt, war weltgewandt, charmant und wohlhabend. Aus all diesen Gründen haben die Nazis in ihm das Sinnbild all dessen, was sie hassten, gesehen. Nicht umsonst war er das Vorbild für die schreckliche Karikatur auf dem Plakat für Hitlers Ausstellung „Entartete Kunst“. Auf jeden Fall waren sie nicht bei seinen legendären Partys.

Hat er große Partys gefeiert?
Lassen Sie es mich so sagen: Er hat Anfang der 20er Jahre das Magazin Querschnitt gegründet. Hemingway, Proust und Joyce haben dafür geschrieben, es wurden Bilder von Picasso, Léger und Chagall abgedruckt. Er hatte einen sehr illustren Freundeskreis. Er war Teil der Roaring Twenties.

Ich habe auch gehört, dass Nacktfotos, Erlebnisse von Gigolos und andere gewagte, tabulose Geschichten dort veröffentlicht wurden.
Es ging auf jeden Fall so weit, dass mein Vater, sein Neffe, der 25 Jahre jünger war, Alfreds Lebenswandel später zu liberal fand.

Als Sie mit der Tatsache, dass Sie der Erbe einer der bekanntesten Kunstsammlungen der Moderne sind, konfrontiert wurden, wie haben Sie reagiert?
Ich fiel aus allen Wolken. Acht Jahre ist das her. Ich wünschte, mein Vater hätte das noch erlebt. Die Galeristen in London, Paris und Düsseldorf haben die Verdienste Flechtheims nach dem Krieg heruntergespielt. Auch deswegen bin ich stolz, dass wir seine Ehre ein Stück weit wiederherstellen konnten.

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Vermuten Sie denn, dass Gurlitt noch weitere Bilder ihres Großonkels besitzt?
Das kann ich nicht sicher sagen, denn die Bilder sind noch nicht alle online. Mein Anwalt hat eine lange Liste und wird sie mit den veröffentlichten Werken vergleichen, wenn die vollständig online sind. Aber da Gurlitt bereits ein Bild aus dem Nachlass verkauft hat, besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit.

Was für einen Eindruck macht Cornelius Gurlitt auf Sie?
Er ist für mich ja schon ein sehr merkwürdiger Typ. In jedem Falle wusste er, dass er sich ruhig verhalten muss. Er wusste, dass er schuldig ist. Man fährt nicht in die Schweiz und verkauft da ein einzelnes Kunstwerk und sagt dann, wenn man im Zug mit 9.000 Euro erwischt wird: „Wenn man mir das gesagt hätte, hätte ich nie den Zug genommen.” Er ist kein einsamer alter Mann, für den man besonders viel Mitleid aufbringen müsste.

Und die Familie Gurlitt insgesamt? Hildebrandt Gurlitt musste ja selbst als Museumsdirektor zurücktreten, weil seine Großmutter Jüdin war.
Seine Mutter und sein Vater haben beide gelogen. Seine Mutter behauptete, alles sei im Dresdner Bombenfeuer verbrannt. Sein Vater erklärte den Amerikanern, nichts stamme aus ehemals jüdischem Besitz. Sie haben alle gelogen. Cornelius wusste genug, um sich still zu verhalten. Wir müssen annehmen, dass er wenigstens mitschuldig ist. Es ist irgendwie eklig, dass man damit davonkommt, wenn man fremdes Eigentum mehr als 30 Jahre bewusst unterschlägt.

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Alfred Flechtheim, von Hanns Bolz, 1910

Haben Sie mittlerweile eigentlich Ihr ganzes Leben der Suche nach dieser Kunst verschrieben?
Nein. Ich bin Arzt hier in San Francisco und gehe meinem Beruf nach. Aber für mich ist Folgendes wichtig: Alle wissen vom Holocaust, Menschen wurden umgebracht, und meine Familie ist da nicht ausgenommen. Aber wenn man erfährt, dass es von 1933 an die klare Absicht war, Juden zu verleumden, zu entrechten und deren Möglichkeit, Geld zu verdienen, zu zerstören, dann weiß man, dass beides zusammengehört. Der Raub wirkt im Vergleich zum Mord nicht so schlimm, doch es gehört zusammen und muss deswegen zusammen erinnert und soweit möglich wiedergutgemacht werden.

Werden Sie, falls Sie Bilder zurückbekommen, Ihr ganzes Haus mit kostbarer Kunst ausstatten und eine große Flechtheim-Party feiern?
Das ist das Letzte, was ich möchte. Der finanzielle Wert der Bilder ist für mich zweitrangig. Aber dass andere damit Gewinne machen, stört mich. Ich habe zwar einige Reproduktionen von den Bildern, die ich mag, aber Kunst gehört in Museen. Und wenn es einen Verkauf geben müsste, sollte der Erlös etwas Nützlichem zufließen. Die Kunstwerke, die man Alfred Flechtheim weggenommen oder abgepresst hat, müssen zurückgeben werden. Das schuldet man uns. Und wir möchten frei entscheiden können, was mit den Bildern geschieht. Mein Ziel ist es aber, dass die Bilder vom Publikum gesehen werden können, und das geht am besten in einem Museum

Was haben Sie denn dann mit den Bildern vor?
Wir versuchen, eine Stiftung in Berlin zu gründen. Wir wollen etwas Gutes damit erreichen. Ich habe lange in der AIDS-Forschung gearbeitet. Das wäre zum Beispiel ein würdiger Zweck.