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Bundestagswahl 2017

Wir haben auf den Ausgang der Bundestagswahl gewettet, um Geld zu verdienen

Jetzt sind wir ärmer als vorher. Danke, Merkel!
Fotos: imago (Collage: VICE)

Gleich kommt die ersten Hochrechnung und das Ende dieses Wahltags fühlt sich für uns ein bisschen wie Silvester an, kurz vor Mitternacht. Wir zählen runter, weil wir mehr als 300 Euro auf den Wahlausgang gewettet haben. Einer von uns hat darauf gewettet, dass die Parteien rechts der Mitte gewinnen: die Union, die FDP, die AfD. Die perfide Taktik: vom Rechtsruck in Deutschland profitieren. Wenigstens finanziell. Der andere hat nach dem Prinzip Hoffnung auf Rot-Rot-Grün gesetzt. Eine Wette, die politisch naiv ist – aber lukrativ. Sollte Martin Schulz doch noch Kanzler werden, könnten wir unser Geld verzehnfachen!

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Man kann in Berlin auf die slowenische Eishockeyliga wetten, aber nicht so einfach auf den Ausgang der Bundestagswahl. Kein Wettbüro, das wir im Vorfeld anrufen, bietet Politikwetten an. Je weiter wir uns in die Wettbüros in den Randgebieten Berlins vortelefonieren, desto mehr Anrufe führen ins Nichts. Mailboxen, endloses Klingeln, kein Anschluss unter dieser Nummer. Wer in Berlin auf die Wahl wetten will, landet auf dem größten Telefonnummern-Friedhof der Welt.


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Seit Jahren zocken in Deutschland besonders junge Männer immer häufiger online bei Wettanbietern. Große Anbieter wie Tipico oder Bwin sind in der Werbung omnipräsent, sponsern Klubs wie Bayern München oder Borussia Dortmund. Dabei sind Wetten privater Anbieter in Deutschland eigentlich verboten, es gibt ein Glücksspielmonopol des Staates. Weil die großen Anbieter ihre Sitze im Ausland haben, sind sie nicht an deutsches Recht gebunden. Eine Grauzone. "Die Rechtslage bei Wetten in Deutschland ist sehr schwammig", sagt Andreas Stockinger, Sprecher des Wettanbieters Interwetten. Das Unternehmen aus Österreich gilt als Pionier des Wettmarktes im Internet. Erstmals bietet es dieses Jahr auch Wetten auf die Bundestagswahl an. "Vom Umsatz ist es ungefähr identisch wie die zweite österreichische Bundesliga", so Stockinger, aber genaue Zahlen will er uns nicht nennen. Neben der Kanzlerfrage kann man darauf setzen, ob der ehemalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) nach der Wahl einen Ministerposten bekommt. Oder ob US-Präsident Donald Trump in seiner Amtszeit die Mauer zu Mexiko baut. "Das ist total abstrus, weil es keine guten Quoten gibt, sondern vielmehr unterhalten soll", erklärt Stockinger. "Es bereichert eher unser Portfolio."

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Unser Portfolio für die Wahl besteht aus einer Doppelstrategie. Für unsere Rechtsruck-Wette setzen wir insgesamt 140 Euro. Besonders die CSU machte in den letzten Wochen noch mal Werbung für besorgte Wähler. Auch FDP-Chef Christian Lindner hatte in der Bild am rechten Rand gefischt, indem er forderte, alle Flüchtlinge irgendwann wieder zurück in ihre Heimat zu schicken. Wir wetten also, dass die CDU mehr als 36 Prozentpunkt holt und die FDP über 9 Prozent einfährt. Weil die Quote so verführerisch ist, und Umfragen es in den letzten Wochen nahelegten, tippen wir auch noch darauf, dass die Grünen die 7 Prozentmarke nicht knacken. Und ja, wir tippen auch, dass die in Umfragen wiedererstarkte AfD bei über 12,5 Prozent landet. Bei der Wahl zwischen Geld oder Gewissen entscheiden wir uns für Geld. Unser Traum: am Montag nach der Wahl unter frenetischem Jubel in die Redaktion einlaufen und das gewonnene Geld einer Flüchtlingsorganisation spenden.

Die Quote für einen Sieg Angela Merkels ist so schlecht, dass man Geld verliert, wenn man auf sie wettet.

Weil einer von uns beiden aber an sein Gewissen und ein Wunder glaubt, füllt er den Optimismus-Wettschein für 150 Euro aus. Die Linke über 9, die Grünen über 7 und die SPD über 22,5 Prozent. Zudem setzen wir auf eine AfD unter 12,5 Prozent. Bei der Kanzler-Wette setzen wir – verführt durch die Aussicht aufs große Geld – auf Martin Schulz. Mit Merkel lässt sich kein Geld verdienen. Im Gegenteil. Ein Sieg von Merkel bringt eine Quote von exakt 1,01. Für jeden eingesetzten Euro bekämen wir einen Cent ausgezahlt. Bloß fallen bei Einzelwetten auch Steuern an. Wenn wir auf die Kanzlerin setzen, frisst die Steuer den Gewinn auf.

Wenn wir schon nicht in einem Wettbüro wetten können, wollen wir den Wahltag wenigstens in einem verbringen. Wir suchen uns ein Wettbüro am Kottbusser Tor aus, das aussieht, als wären wir in einer Fast-Food-Ketten-Version des Willy-Brandt-Hauses gelandet: rote Kugelschreiber, rote Polster auf festgeschraubten Stühlen – und wie in der bisherigen Führungsebene der SPD herrscht Frauenmangel.

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In zwei Stunden kommt die erste Hochrechnung. Knapp 30 Männer schauen ein Fußballspiel, Kasimpasa gegen Kayserispor, erste türkische Liga. Die Jüngsten haben gerade einen Bartflaum, die Ältesten weiße Haare. Verdreckte Nike-Sneaker treffen auf italienischen Maßanzug. Obwohl es hier verboten ist zu rauchen, ist die Luft schwer. Wissenschaftler haben kürzlich herausgefunden, dass sich in Momenten großer Spannung die chemische Zusammensetzung der Luft verändert. Wenn es um etwas geht, stößt der Mensch mehr Kohlendioxid aus. Während die Männer Hunderte Euro auf den Ausgleich von Kayserispor setzen, verfolgen wir einen Live-Blog zur Wahl auf unseren Smartphones.

Foto: VICE Media

"Die Wahl interessiert keinen", sagt Selim, der heute hinter dem Tresen des Wettbüros sitzt. Bei ihm könne man ja nicht darauf wetten. Er selbst verfolgt die Vorberichte auf seinem iPad. Der 48-Jährige war direkt nach Öffnung der Wahllokale wählen: "Die AfD wird drittstärkste Kraft", sagt er. "Wenn es schlecht läuft, kriegen die 20 Prozent. Die Arschlöcher." Er verspricht, für uns um 18 Uhr auf einem Fernseher die Wahl laufen zu lassen.

Für uns ist das Wetten ein Spaß, für andere kann es zur Krankheit werden. Rund 456.000 Menschen zeigen laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ein problematisches oder krankhaftes Glücksspielverhalten. "Wer süchtig nach Glücksspiel ist, bekommt Probleme: Auseinandersetzungen mit der Familie und Freunden. Und vor allem finanzielle Schwierigkeiten", so die Leiterin der BZgA, Heidrun Thaiss. Besonders gefährdet sind wir, die heute 20- bis 30-Jährigen, sagt Professor Tilman Becker von der Forschungsstelle Glücksspiel an der Uni Hohenheim. Wir seien anfällig, weil Spielen zu unserer Erziehung gehört, sagt Becker. Wer mit dem Gameboy aufwächst, lande später schneller beim Novoline-Automaten – oder im Wettbüro.

Kurz vor 18 Uhr, im Wirrwarr der Bildschirme im Wettbüro, zeigt ein einziger Fernseher die Wahlprognose. Nur wir und Selim, der Mann hinter dem Tresen, wenden sich von den Bällen zu den Balken. Neben einem Bildschirm, auf dem Werbung für polnische Handyspiele mit Panzern läuft, erklärt WDR-Journalist Jörg Schönenborn: Die Union bricht ein auf 32,9 Prozent – das schlechteste Ergebnis seit 1949. Damit hatte die Union sicher nicht gerechnet, wir aber auch nicht, als wir auf 36 Prozent wetteten. Die SPD erreichte mit 20,5 Prozent einen historischen Tiefstwert und zerschlägt damit auch die Hoffnungen, mit der Gegenwette als Backup abzuräumen. Wir sehen die ersten Statements ohne Ton. Thomas Oppermann, der Fraktionschef der SPD, wirkt noch verbitterter, wenn seine Worte nicht von den Augenringen ablenken. Die Volksparteien verlieren Stimmen, wir verlieren unser Geld. Etwas verdient haben wir nur mit den kleinen Parteien. Bei der FDP jubeln sie, weil sie wieder in den Bundestag einziehen. Wir jubeln, weil wir Gewinn machen.

Doch als wir abrechnen, stellen wir fest, dass wir unterm Strich Verlust gemacht haben. Wir zahlen rund 20 Euro drauf. Draußen auf der Straße hupen die Autos. Dutzende. Vielleicht sind es die ersten Anhänger der AfD, die feiern, dass zum ersten Mal seit rund 60 Jahren eine rechtspopulistische Partei in den Bundestag einzieht. Am meisten Kohle haben wir mit dieser Partei gemacht. Wir hatten in unserer Rechtsruck-Wahlwette darauf gesetzt, dass sie über 12,5 Prozent bekommen wird – die einzige Wette, die wir liebend gern verloren hätten.

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